Über die Erziehung zur Rücksicht

Gastkommentar für die Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" im August 2008

Datum:
Donnerstag, 7. August 2008

Gastkommentar für die Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" im August 2008

Unsere Zeit ist vielfach dadurch umschrieben und gekennzeichnet worden, sie werde vor allem durch die Individualisierung des Menschen bestimmt. Jeder gehe ohne Blick auf das Ganze, die Familie und den Nachbarn bloß seine eigenen Wege.

In der Tat kann man dies auch daran beobachten, dass Rücksichtslosigkeit, die unter den Menschen vorherrscht, ja immer größer werde. So etwas geschieht freilich nie ohne Gründe und Motive. Der Kampf um das tägliche Leben und das Bestehen vieler Wettbewerbssituationen fordert vom Einzelnen, dass er sich nicht an die Wand drücken lässt, vielmehr sich selbst behauptet. Die Zwänge dafür werden größer, sodass die Auseinandersetzungen auch immer härter werden. Dies gilt leider auch schon für die frühe Kindheit.

Natürlich darf man daraus nicht eine moralische Keule machen, sodass man überall da, wo Begeisterung und Kraft wirksam werden, der Spieltrieb etwas über die Stränge schlägt und man den Nächsten neben sich gar nicht mehr wahrnimmt, bewusste Missachtung und Gewalttätigkeit festgestellt werden. Gerade junge Menschen brauchen in ihrer Begeisterung und in ihrer Liebe zu Spiel und Bewegung freie, möglichst ungehinderte Spielräume. Gerade in den Ferien, wo manche alltäglichen Disziplinierungen zurücktreten dürfen, wird ein solches Verhalten noch stärker.

Aber es lässt sich auch nicht übersehen, dass bei jungen und auf andere Weise auch bei alten Menschen Rücksichtslosigkeit kräftig im Vormarsch ist. Wenn ein Buffet eröffnet wird, ist bei der Auswahl die Schlacht um eigene Vorteile nicht selten hemmungslos. In Schwimmbädern kann man manchmal ein Verhalten beobachten, als ob überhaupt keine anderen Menschen in der Umgebung wären: Man springt gegen alle Verbotsschilder vom Beckenrand in das Bad, man krault oder macht Rückenschwimmen ohne den Blick nach vorne oder überhaupt in Richtung eines anderen. Kein Wunder, dass man dieses Rowdytum auch auf unseren Straßen findet. Es ist offenbar schwer, dass wir unseren gewiss oft knappen Lebensraum mit anderen teilen und immer auch die Gegenwart anderer in unser Verhalten einbeziehen müssen.

Leider erfolgt dies nicht nur in unserer alltäglichen Lebenswelt, sondern auch im großen Stil, wenn z.B. die jetzt Lebenden die knapper werdenden Ressourcen in hohem Maß für sich verbrauchen und wenig Verantwortung empfinden bzw. ausbilden für die elementaren Bedürfnisse künftiger Generationen.

Was zunächst einmal harmlos, gedankenlos und eher vielleicht ein bisschen verspielt aussieht und vielleicht oft auch so ist, darf in seiner tieferen Verwurzelung nicht unterschätzt werden. Wir Menschen dürfen bei aller Spontaneität nicht einfach unseren Trieben nachgeben. Wir müssen mühsam und schmerzlich lernen und einüben, dass wir den Mitmenschen nicht vergessen, ihn buchstäblich im Auge und im Sinn behalten. Deshalb braucht man auch Augen nach rückwärts und auf die Seiten hin.

Wir haben dafür in unserer Sprache das Wort Rücksicht bzw. Rücksichtslosigkeit. Es ist bewusst im 18. Jahrhundert für das heute noch gebräuchliche, gleichbedeutende Fremdwort Respekt geschaffen worden. Es steht auch für eine Tugend, die der Mensch erwerben und bewahren muss, nämlich die Achtung füreinander. Diese ist nicht einfach naturgegeben, sondern muss unserer Natur und ihren Trieben immer wieder abgerungen werden, eben beständig Rücksicht zu nehmen auf den anderen. Darum bedarf es immer wieder auch einer ethischen Anstrengung, um dieses wichtige Ziel für das Miteinanderleben  nicht aus dem Auge zu verlieren.

Man muss also Rücksicht und Achtung füreinander immer wieder regelrecht lernen. Sie fallen einem nicht in den Schoß. Es kann einem auch weh tun, wenn man sich geduldig in die Reihe stellen und warten muss, wenn man auf eine gewalttätige Vormachtstellung verzichtet und sich nicht mit bloßer Macht durchsetzt. Deswegen gibt es Rücksicht und Achtung nicht ohne frühe Erziehung.

Wir reden heute viel von der Verbesserung der Bildungschancen. Dafür gibt es gute Gründe. Aber in diesen Umkreis gehört auch der oft vergessene Mut zur Erziehung. Diese geschieht nicht durch Geschrei, Verbote, Drohen und Drill. Achtung und Rücksicht müssen innere Haltungen werden und vor allem durch Vorbilder unterstützt werden.

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz