Nicht nur in unserer politischen Welt scheint die Vielgestaltigkeit unserer Wünsche und Bedürfnisse, die Hetze und Eile mancher Entscheidungen und das politische Kalkül über die Nützlichkeit dieser oder jener Wahl nicht selten das widerzuspiegeln, was wir mangelnde Überlegung nennen. Dabei kann es durchaus sein, dass man lange über etwas verhandelt und feilscht, am Ende aber geben plötzlich ganz oberflächliche Gründe den Ausschlag.
Dies ereignet sich nicht nur in der gesellschaftlich-politischen Welt, wo verschiedene Interessen aufeinanderstoßen und ausgeglichen werden müssen, sondern auch in unserem persönlichen und privaten Leben. In nicht wenigen Dingen müssen wir uns sagen: „Ich habe es mir doch nicht gründlich genug überlegt."
Im Augenblick gibt es Vorgänge, vor allem in der Politik, bei denen man besonders den Eindruck gewinnt, trotz aller Planungen und Programme fehle es an der wirklichen Überlegung in dem Sinne, dass man vor allem auch die voraussehbaren Folgen eines Handelns rechtzeitig bedenkt. So hat man z.B. den Eindruck, bei der Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung, des Euro, habe man nicht genügend deutlich die verschiedenen Folgen und Erfordernisse eingeplant, die nach einer gewissen Zeit mit einer gewissen Notwendigkeit auf uns zukommen werden. Dies betrifft z.B. gewisse verbindliche Gemeinsamkeiten des Wirtschaftsraumes. Man gewinnt aber auch diesen Eindruck, wenn man die Maßnahmen zur Verwirklichung der Energiewende betrachtet. Die Wende selbst konnte unter den verheerenden Folgen von Fukushima nicht schnell genug erfolgen. Gewiss hat man die damit verbundenen Ziele schon länger angesteuert. Aber die Entscheidung selbst erfolgte dann doch auch von Parteien und Gruppen, die sich bisher eher etwas entgegenstemmten, ruckartig. Wenn sich nun mehr und mehr zeigt, dass man nicht alle notwendigen Konsequenzen ins Auge gefasst hat - es genügt z.B., dafür die Erhöhung der Energiekosten zu benennen -, dann fällt doch ein erheblicher Schatten auf die Qualität unseres politischen Handelns. Planspiele für die Zukunft haben ganz gewiss ihre Grenzen, denn die Wirklichkeit ist durch ihre Überraschungen meist stärker. Aber man wundert sich doch oft, warum vor bestimmten Entscheidungen die absehbaren Folgen relativ wenig erörtert werden. Vielleicht redet man zwar darüber, aber man verdeckt oft durch Schweigen oder Herunterspielen die wirklichen Perspektiven der Zukunft, zu denen auch ein ehrliches Erörtern der Unsicherheiten gehört.
In vieler Hinsicht können wir hier zwar nicht in technischer, aber in grundlegend ethischer Hinsicht von der Weisheit des großen europäischen Denkens lernen. So hat die Entscheidung im Verständnis des griechischen Denkers Aristoteles bis heute für den Gedanken der Entscheidung und Verantwortung eine vorbildliche Bedeutung. Es geht nämlich bei jeder Entscheidung nicht um eine willkürliche Dezision, sondern um eine reflektierte Überlegung, die in eine Wahl mündet. Zu dieser Entscheidung braucht es Vernunft und Verstand. Im Gegensatz zum bloßen Wünschen richtet sich die Entscheidung nicht auf Unerreichbares, sondern auf das, was in unserer Macht steht. Sie bezieht sich auch weniger auf wahr und falsch, sondern auf gut und schlecht. Es kommt darauf an, dass man besonders mit Klugheit untersucht und entscheidet, was zu einem bestimmten Ziel führt.
In erster Linie muss man bei einer Wahl und Entscheidung an die einigermaßen voraussehbaren Folgen denken. Es genügt nicht, dass man sich zu einem beliebigen Ziel bekennt, ohne dass man verlässliche Wege zu ihm kennt. Das Herausfinden der besseren Wege geschieht eben im Gespräch, im Diskurs, in der Argumentation. Dafür kann Rhetorik gut sein und die Dinge auf den Punkt bringen, sie kann aber auch die wahren Sachverhalte verdecken und betören.
Vermutlich geht in unserem Gemeinwesen, aber auch im privaten Leben manches schief, weil wir in diesem Sinne einfach zu wenig „überlegen".
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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