Gastkommentar für die Mainzer Allgemeine Zeitung am 7. Oktober 2006
In diesen Monaten und Wochen erleben wir immer wieder die Enttäuschung vieler Menschen über die Auseinandersetzungen in der Großen Koalition, vor allem um die Gesundheitsreform. Der Unmut über den Streit wächst. Umfrageergebnisse werden dadurch rasch negativ beeinflusst.
Nun gibt es gewiss überflüssige Auseinandersetzungen, wo sich der eine oder andere Partner auch nach einem Kompromiss nochmals profilieren will und die alten Gräben wieder aufreißt. Bis hinein in die beteiligten Parteien gibt es überall schnell Besserwisser, die bald wieder alles in Frage stellen. Vielfach haben sie sich noch gar nicht ausreichend präzis informiert.
Davon zu unterscheiden ist die Reaktion vieler Bürger auf Streit. Man regt sich über die Uneinigkeit auf. Man vermisst Gemeinsamkeit. Eigentlich ist dies verwunderlich, denn wie sollen in einer wahrhaftigen Demokratie Entscheidungen gefunden werden, wenn nicht im Durchgang durch Diskussion und vielleicht auch einmal Streit. Es gibt in unserer Gesellschaft ein verständliches, aber eben auch problematisches Harmoniebedürfnis. Wenn in politischen, aber auch anderen gesellschaftlichen Konstellationen Einigkeit und Eintracht vorherrschen, regt man sich wegen der angeblich faden und farblosen Uniformität auf. Alle seien eben gleich grau und stromlinienförmig. In dem Augenblick, in dem aber verschiedene Lösungsmodelle für wichtige Fragen aufeinaderprallen, dauert es nicht lange, bis man die Uneinigkeit lautstark beklagt.
Man fällt von einem Extrem in das andere. Es ist nicht nur in der Politik so. Ich mache auch ähnliche Erfahrungen im Bereich der Kirche. Man verlangt das kritische Gespräch; wenn es aber da ist, bedauert man die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Meinungen. Streit wird ganz negativ gesehen. Im Grunde haben wir kein ausgewogenes Verhältnis zu den Verfahren der Entscheidungsfindung. Es fehlt uns so etwas wie die ausbalancierte, „goldene“ Mitte, in der sich die Vielfalt mit ihren spannungsvollen Elementen immer wieder in Richtung eines Konsenses oder wenigstens eines Kompromisses, jedenfalls auf Gemeinsamkeit hin, sammelt. Oft kommt man eben wirklich nur zu Klarheit und Transparenz über vorläufige Alternativen, aber auch zu einem Einvernehmen über eine zu entscheidende Option, wenn man sich in der Auseinandersetzung an verschiedenen Modellen abarbeitet und einen tragfähigen Kompromiss sucht.
Manchmal sind freilich die verantwortlichen Akteure an dieser Enttäuschung mitschuldig. Ein errungener Kompromiss wird schon bei der Veröffentlichung wieder zerredet. Jeder behauptet, seine ursprünglichen Absichten seien besser verwirklicht. Man habe einen Sieg davongetragen. Dadurch zerstört man das Erreichte. Die Leute trauen nicht mehr, wenn man selbst alles wieder sofort in Frage stellt. Was uns im Streit und in der Auseinandersetzung fehlt, ist manchmal schlicht die Disziplin – die zur Verlässlichkeit einer Konsensbildung nötige Voraussetzung und Folge.
Gehen wir also einem vielleicht wirklich notwendigen Streit auf den Grund. Wir brauchen mehr Gelassenheit im Umgang mit Auseinandersetzungen und Streitigkeiten. Sonst sind wir nicht demokratiefähig.
(c) Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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