Kommentare sollen frisch sein. Mein heutiger Ferienzeit-Gastkommentar kommt aus meinem Urlaub in den neuen Bundesländern, näherhin an der Ostsee. Ich habe zwar viele Reisen in die neuen Bundesländer gemacht und komme sehr oft nach Berlin, aber im Urlaub sieht man manches schärfer.
Wir dürfen in einem großen und gerade in seiner Vielfalt reizvollen Land leben. Dies gilt für die Schönheiten der Natur, aber auch die bunte Fülle in Geschichte und Kultur, Wirtschaft und Handel. Die Landschaften von den Ostsee-Inseln bis zum Thüringer Wald, von der Oder bis zu Weser und Elbe bringen vieles Neue zu unseren klassischen Feriengebieten des Südens und Westens hinzu. Es gibt noch viele ursprüngliche und z.T. wieder erholte Gegenden, die eine eigene Prägung haben, ob es die Mecklenburgische Seenplatte, die Uckermark oder Sachsens Waldgebiete sind. Je mehr wir das Ausland kennen gelernt haben, um so mehr sollten wir auch unsere eigenen Schätze wieder entdecken. Dies gilt auch für die Kultur in dieser Natur, nicht zuletzt z.B. das Essen und das Brauchtum, soweit es erhalten ist, die Kunst aller Arten und die Architektur.
Es kommt hinzu, was in den letzten 14 Jahren an Aufbau geleistet worden ist. Ich denke an das vielfach erneuerte Netz vor allem der größeren Straßen und Schienenwege, die öffentlichen Gebäude, das Kommunikationsnetz – oft das modernste in Europa – und viele moderne Verwaltungs- und Regierungsstrukturen, die zum Gelingen dieser Erneuerung notwendig sind.
Wir vergessen schnell: Gott sei Dank, weil vieles besser geworden ist, dürfen dabei aber nicht gedankenlos und undankbar werden. Wir fahren über die ehemaligen Grenzübergänge, ohne es in der Regel noch zu merken, auch wenn uns die ehemaligen Schikanen nicht ganz aus dem Sinn gegangen sind. Viele tristen Wohnmaschinen konnten ansprechend erneuert werden. Vernachlässigte und halb zerfallene Denkmäler aller Arten konnten gerettet werden. Die Wirtschaft hat viele wertvolle Arbeitsplätze geschaffen. Der Tourismus kommt langsam, aber sicher in vielen Regionen auf die Beine. Die großen landwirtschaftlichen Betriebe, die z.T. in ihren Strukturen von früher beibehalten, aber zugleich tief greifend erneuert worden sind, haben auf die Dauer im europäischen Wettbewerb eine größere Chance.
In diesem Sinne gibt es durchaus einen Vorgeschmack auf blühende Landschaften. Sie sind nicht bloß eine Utopie, wenn im Ganzen auch noch – eine freilich ermutigende – Vision. Aber die konkrete Realität zeigt auch im zweiten und folgenden Straßenzug neben den Hauptstraßen einen geradezu beängstigenden Sanierungsbedarf. Maschinengewehr-Ein- schüsse des Krieges sind noch an vielen Häusern zu sehen. Die innere Verwüstung der jahrzehntelangen braunen und roten Diktaturen lastet wohl noch schwer auf vielen Menschen. Aber das geistige und spirituelle Vakuum ist vielleicht noch größer. Es kostet so auch eine übermenschliche Kraft, das christlich-kirchliche Erbe auch im Osten Deutschlands wieder lebendig zu machen und zu pflegen. Es gibt dafür viele Zeugen in Geschichte und Kultur. Sie allein reichen nicht.
Was aber insgesamt, gerade auch in finanzieller Hinsicht und im Blick auf die menschliche Aufbauleistung, erreicht worden ist, dürfte ohne frühere Vergleiche und Modelle sein. Das ganze Deutschland hat dazu beigetragen. Damit sind wirklich Ost und West je auf ihre Weise gemeint. Aber dies haben wir uns noch nicht so recht zu Eigen gemacht. Es geht noch längst nicht um so etwas wie Vollendung der deutschen Einheit, aber um deren wachsende Vertiefung. Im Europa der Vaterländer können und sollten wir ruhig noch etwas Patriotismus hinzugewinnen. Dies ist gewiss etwas ganz anderes als ein Nationalismus, der sich maßlos übernimmt.
(c) Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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