Es gibt Diskussionen, die die Menschen tief betrifft und in Anspruch nimmt. Dies müssen nicht immer die Themen sein, die Schlagzeile machen. Es gibt Probleme, die tiefer liegen, jedoch die Diskussionen ziemlich intensiv bestimmen. Darum ist es auch nicht verwunderlich, wenn die Gesellschaft über diese Fragen ziemlich gespalten ist. Diese Meinungen, die oft eng mit weltanschaulichen, ethischen und religiösen Grundentscheidungen verbunden sind, lassen sich oft wenig bewegen. Sie sind auch erstaunlich konstant. Was sich in den vergangenen Jahrzehnten im Blick auf die Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch gezeigt hat, kann man auch wieder in diesen Jahren und Monaten anlässlich der bioethischen Diskussion beobachten. Um so notwendiger ist es, immer wieder zu den Kernbereichen der Probleme zurückzukehren und sich davon nicht abbringen zu lassen.
Die bisher vor allem verhandelten Fragen der Bioethik sind sehr komplex. Dies gilt vor allem für den Streit um den Import menschlicher embryonaler Stammzellen. Es ist nicht leicht, die verschiedenen Elemente der Sache selbst, aber auch die verschiedenen Zugänge in den einzelnen Disziplinen insgesamt wahrzunehmen und zu beachten. Hier gibt es zweifellos auch grundlegende Spannungen zwischen fundamentalen Werten und darum auch Konflikte in den Wertentscheidungen. Manchmal überlagert ein Aspekt so sehr die anderen Dimensionen eines Problems, dass es dominant wird und mindestens in der öffentlichen Meinungsbildung eine Vorherrschaft gewinnt. So ist es z.B. in der Diskussion um die menschlichen embryonalen Stammzellen mit der Hoffnung und manchmal auch dem Versprechen, in bisher unheilbaren Krankheiten Hilfe und Heilung leisten zu können.
Nun gibt es gewiss keinen vernünftigen Menschen, der sich nicht für eine tatkräftige Unterstützung aller Initiativen im Sinne einer Heilung einsetzen würde. Hier wird niemand hinter einem anderen zurückstehen wollen. Aber es gibt auch die Notwendigkeit, unbeschadet einer nachdrücklichen Förderung dieser Anliegen auf die Ungewissheit des Erfolgs und die im Augenblick unbekannte Zeitspanne bis zu einer wirklichen Hilfe aufmerksam machen zu müssen. Der Grundlagenforschung – um eine solche handelt es sich – kann man überdies keine Kommandos geben, was sie zu entdecken hat und wann sie ihre Ergebnisse abzuliefern habe. Manchmal scheinen dies auch Forscher selbst eher in Vergessenheit geraten zu lassen. Es ist nicht leicht, mit diesen Ungewissheiten gerade angesichts von Menschen umzugehen, die an den oft entsetzlichen Krankheiten bis zum Tod leiden müssen.
Es gibt aber auch bei der Komplexität der Probleme andere Dimensionen, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Dies sind vor allem Voraussetzungen und Folgen von Fakten und Ereignissen, die man nicht einfach übergehen darf. Der heutigen Wissenschaft liegt eine solche Betrachtung nicht ohne weiteres nahe, obgleich sie in ihrem engeren Bereich solche Strukturen immer wieder vor Augen hat. Wenn man aber solche Voraussetzungen und Konsequenzen nicht mutig ins Auge fasst, kann man manche mit der Wissenschaft verbundene Tätigkeiten nicht einfach zulassen. Es geht ja überhaupt nicht nur um reine Theorie, sondern im konkreten Experiment ist immer auch schon ein Handeln mit im Spiel, das über Leben entscheidet. Leben ist aber nach unserer Verfassung und auch in der Auffassung der meisten Menschen das höchste irdische Gut, das dem Menschen anvertraut ist. Eine Ethik des Mitleids, die auf eindrucksvolle Weise Herz und Sinn der meisten Menschen anrührt, darf nicht den Preis außer Acht lassen, den sogenannte Fortschritte, ob sie es sind oder nicht sind, verheißen und vielleicht auch einmal mit sich bringen.
Man möchte vielleicht zuerst solchen lästig erscheinenden Fragen ausweichen. Dies gilt wohl auch für das Problem, wann das menschliche Leben beginnt und wann wir es mit der Menschenwürde ausgestattet sehen. Man glaubt, einer solchen Frage eher entkommen zu können, weil sie von keiner Disziplin mit alleiniger Kompetenz beantwortet werden kann. Die Natur- und Humanwissenschaften allein finden darauf keine eindeutige Antwort, auch wenn sie manche Hinweise und plausible Gründe enthalten. Die Ethik und auch die Religion können die Frage auch nicht ohne Blick auf empirische Ergebnisse der Forschung klären. Es gibt deswegen verständliche Verführungen, indem die Naturwissenschaftler aus ihrem Horizont heraus die Fragestellung nicht akzeptieren („Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden!") und die Ethiker/Theologen sich in schwer für alle nachvollziehbare Gedankengänge und manchmal auch Spekulationen begeben. Gerade die Rechtswissenschaften kommen dadurch in eine äußerst schwierige Verlegenheit, denn sie brauchen zur Beantwortung der theoretischen Grundfragen im Blick auf die Interpretation der Verfassung und angesichts der praktischen Herausforderungen in Wissenschaft und Industrie verlässliche Erkenntnisse. Darum ist insgesamt der Dialog zwischen den Wissenschaften, wie er Gott sei Dank in Gang gekommen ist, unerlässlich. Aber nicht nur die Wissenschaften sind einem solchen Diskurs zur Klärung verpflichtet, sondern auch die gesellschaftlichen Kräfte insgesamt, wie sie etwa im Nationalen Ethikrat, in der Enquete-Kommission des Bundestages zu den medizinischen und rechtlichen Fragen der Gentechnologie sowie Bioethik und auch in den verschiedenen Kommissionen und Symposien der Länder vertreten sind.
Immer wieder begegnet man der Argumentation, am Anfang des Lebens seien keine zuverlässigen Erkenntnisse über ein Menschsein zu gewinnen. Noch nach Tagen der Embryonalentwicklung sei das in Frage stehende Wesen nicht größer als ein Punkt am Ende eines Satzes. Eigentlich sollte man vor dieser Entwicklungskraft des Embryo staunen, was gewiss auch viele Wissenschaftler tun, aber die Unscheinbarkeit der befruchteten Eizelle verführt auch manchen zu Äußerungen der folgenden Art, es sei eine „intellektuelle Zumutung" hier von dem Anfang und besonders der Würde menschlichen Lebens zu sprechen. Im Zeitalter fast unvorstellbarer mikroskopischer Techniken, die wirklich Unsichtbares sichtbar machen können, kann man sich über solche Ansichten nur wundern.
Auch andere Perspektiven können den Blick trüben oder mindestens stören. Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass bei Forschungsfragen dieser Art irgendwie auch der mögliche Nutzen mitbedacht wird. Freilich muss man auch sagen, dass Grundlagenforschung im strengen Sinn nicht so eng an eine geplante Auswertung gebunden werden darf. Man könnte Wichtigeres übersehen. Aber wenn man Erkenntnis und Handeln, Theorie und Anwendung aus manchen Gründen dichter zusammenbringt, was in vielen Bereichen der Forschung heute nahe liegt, ist es für die Transparenz und Objektivität des Wissens und der gesellschaftlichen Diskussion wichtig, Einblick zu haben in die leitenden Interessen auch der Wissenschaft. Es ist nicht gleichgültig, ob einer bereits ein Unternehmen hat, wenn er intensiv für den Import menschlicher embryonaler Stammzellen plädiert. Deswegen muss das, was ein Forscher fordert, nicht falsch sein, aber es ist gut, um seinen Standort zu wissen.
Wir müssten es eigentlich von den Erkenntnissen vieler philosophischer Entwürfe des 20. Jahrhunderts her wissen, dass unsere Erkenntnis nicht, wie man oft angenommen hat, völlig voraussetzungslos ist. Wir sind endlich und sind immer auch schon von gewissen Annahmen mitbestimmt. Es ist kein Unglück für den Menschen, dass es so ist. Solche Voraussetzungen, die freilich auch tief verborgen sein können und manchmal auch anderen verborgen werden, sind keine Vorurteile im negativen Sinne. Sie sind es erst dann, wenn man sich weigert sie zu sehen, ihre Existenz anzuerkennen und darüber zu sprechen und zu argumentieren. Sie müssen ja nicht immer widerlegt, sie können auch – durch Wandlungen hindurch – bestätigt werden. Dafür gibt es die Hermeneutik kritischer Vernunft.
Es gibt wohl kaum ein Problem, das die durch die genannten Perspektiven so belastet sein kann, wie die Frage nach dem Anfang des menschlichen Lebens. Die einzelnen Positionen sind oft auch durch ein gewisses geschichtliches Erbe vorbelastet. So hat schon der griechische Philosoph Aristoteles längst vor dem Christentum, und im Anschluss an ihn viele Wissenschaften bis in die Neuzeit hinein, zwischen der Entstehung menschlichen Lebens und einer späteren „Beseelung" des Menschen, die ihm erst Personwürde verleiht, unterscheiden wollen. Unglücklicherweise gab es auch dafür im Blick auf Männer (40. Tag) und Frauen (80. Tag) verschiedene Zeitangaben, die zweifellos auch eng mit dem jeweiligen Welt- und Menschenbild zusammenhingen. Wenn auch solche Anschauungen in letzter Zeit aus verschiedenen Gründen nicht mehr häufig vertreten wurden, so sind in der jüngsten Vergangenheit immer wieder Rechtfertigungsversuche gemacht wurden, die zwischen der Entstehung des menschlichen Lebens und einer wirklichen Menschwerdung unterscheiden konnten. Die Differenz belief sich dann freilich eher auf einige Tage oder wenige Wochen. Die Wirkung solcher Anschauungen, die auch im Judentum bis heute gültig sind, hat zur Folge, dass man vor diesem Hintergrund der Forschung im frühesten Stadium, wo man noch nicht vom vollen menschlichen Leben sprechen könne, weitgehende Freiheit einräumen müsse. Dabei darf man frühere Zeiten jedoch nicht zu banal und undifferenziert betrachten. Man hat nämlich auch bei der Annahme des erwähnten Unterschiedes zwischen der Entstehung des menschlichen Lebens und der eigentlichen Menschwerdung im christlichen Raum jede Abtreibung abgelehnt. Schließlich gab es auch im Grundsatz andere Meinungen. So hat z.B. Albert der Große, der Lehrer des Thomas von Aquin, die Trennung zwischen Lebensentstehung und der Verleihung einer menschlichen Seele (Sukzessivbeseelung) abgelehnt und das Zugleich von Lebensentstehung und Anerkennung der vollen Menschenwürde (Simultanbeseelung) gelehrt.
Von da aus ist man rasch bei der heutigen Frage nach dem sogenannten moralischen Status des Embryo. Denn an diesem Punkt scheiden sich auch heute die Geister. Die einen nehmen an, dass der menschliche Embryo auch in seinen frühesten Entwicklungsstadien von Art. 1 Abs. 1 GG geschützt sei. Der menschliche Embryo werde andernfalls nicht als Eigenwert, sondern als Objekt und Mittel zum Zweck behandelt. Hier glaubt man, keine grundlegende Abstufung in den menschlichen Entwicklungsphasen erkennen zu können, die auch entsprechende fundamentale Einschnitte beim Anspruch auf Menschenwürde und die Gültigkeit der Menschenrechte belegen könnten. Es gibt gewiss solche Phasen und Entwicklungsschritte, aber sie scheinen doch eher eine ordnende Hilfe zu sein für unsere Beschreibung eines gewiss differenzierten, aber doch letztlich einheitlichen Werdens und Wachsens. Ich kann jedenfalls in einer Reihe größerer einschlägiger Hand- und Lehrbücher der Embryologie keine Stufungen finden, die zwingend auch eine Stufung in der Qualität des Menschseins begründen, also eine Zäsur zwischen einem zwar artspezifischen menschlichen Leben und einem individuellen und personalen Leben.
So bin ich der Meinung, dass das Potentialitätsargument und das Kontinuitätsargument immer noch, wenn man sie richtig auslegt, eine überzeugende Kraft haben. Man darf sie freilich nicht einfach mechanisch anwenden, sodass z.B. im frühesten Stadium der befruchteten Eizelle alles restlos angelegt ist und nur noch ein längst in allem beschlossenes Sichentfalten erfolgt. Dies unterschätzt natürlich gewaltig z.B. die Risiken gerade der frühesten Embryonalentwicklung, die von Störungen und Untergängen bestimmt sind. Zweifellos bedeutet hier die Einnistung (Nidation, Implantation) eine wichtige Etappe. Hier gibt es m.E. zwei Missdeutungen. Die eine sieht diesen Schritt nur in der fast selbstverständlichen Konsequenz der Entwicklung ohne hier die wesentliche Rolle der Mutter genügend zu beachten. Ganz gewiss ist dies eine unabdingbare Voraussetzung der weiteren Entwicklung. Aber dies darf wiederum nicht so gedeutet werden, als ob erst jetzt die konstitutiven Lebensbedingungen hinzukommen. Ich kann verstehen, dass einige in der fast mechanistischen Interpretation der Nidation ein Ärgernis für die Mindereinschätzung der Mutter in diesem Prozess erkennen wollen. Aber dies darf nicht dazu führen, dass die eigene Dynamik des Embryo und seine Begabung zum Leben, ja auch seine beginnende Fähigkeit zur Selbststeuerung der Entwicklung unterbewertet werden. Hier kommt alles darauf an, dass man die einzigartige Zwei-Einheit der Mutter und des Embryo bzw. des ungeborenen Kindes angemessen beschreibt. Dann braucht man den Anteil der Mutter in der Embryonalentwicklung keineswegs geringer anzusetzen, man soll aber auch nicht mit solchen Argumenten das eigene Lebensrecht des Embryo von vornherein begrenzen und mit solchen Hinweisen Eingriffe, die bis zur Tötung gehen, rechtfertigen. Jedenfalls lässt sich dies nicht, wie mir scheint, bestimmten biologischen Vorgängen entnehmen. Für eine wirklich normative Betrachtung, die sich dem Anfang des Lebens und des Menschseins stellt, genügt auch nicht die Berufung auf eine selbstverständliche Stufung, die im moralischen Empfinden der Menschen, wenn man zwischen vorgeburtlichem und nachgeburtlichem Leben unterscheidet, und in der Rechtsordnung z.B. des Schwangerschaftsabbruchs begründet sei, der schließlich die Dreimonatsfrist für den Abbruch festlege. Diese geschichtlich und gesellschaftlich, manchmal von Land zu Land variierende Bestimmung kann doch nicht im Ernst zu einer normativen Begründung werden, von der Sein und Nichtsein des Lebens überhaupt abhängig ist. Der Begründungsnotstand wird deutlich.
Stattdessen scheint es mir immer noch konsequenter zu sein, den Zeitpunkt der Befruchtung als den Anfang des Menschseins so zu verstehen, dass damit auch die Menschenwürde und die Menschenrechte verpflichtend begründet werden. Zäsuren nach diesem Zeitpunkt haben in jedem Fall etwas Willkürliches an sich. Es mag dafür Anhaltspunkte geben, auf die man sich berufen könnte, wie z.B. die Entwicklung des Primitivstreifens (12.-14. Tag nach der Befruchtung), aber sie sind keine wirklich durchschlagenden Argumente.
Ich glaube, dass noch ein anderes Argument im Ganzen wichtig ist. Es beansprucht keine Gültigkeit für sich allein, aber im Umkreis plausibler Überlegungen, die für die Annahme von Menschenwürde und Menschenrechten schon am Anfang des Lebens eintreten. Wenn nämlich das Leben das höchste irdische Gut ist, das darum auch in ganz hohem Maße mit allen erlaubten Mitteln verteidigt und geschützt werden muss, dann liegt es in einer Logik des Lebens, selbst im Zweifelsfall, ob individuelles und personales Leben vorliegt, für die positive Annahme des vollen, nicht abgestuften Menschseins von Anfang an zu plädieren: in dubio pro vita. Dieser Vorschuss zu Gunsten des Lebens und die damit einhergehende Annahme der Schutzbedürftigkeit scheinen mir wirklich zum Humanum zu gehören. Deshalb möchte ich – wohl wissend, dass die Frage weiter diskutiert werden muss und es noch manche Fragen gibt, die hier nicht erörtert werden konnten – dafür eintreten, das Recht, ein Mensch zu sein, möglichst früh, d.h. von Anfang an, zu schützen.
Es werden nur einige Titel genannt, die selbst wiederum umfangreiche Literaturhinweise enthalten:
- Stefan F. Winter, Hermann Fenger, Hans-Ludwig Schreiber (Hg.), Genmedizin und Recht. Rahmenbedingungen und Regelungen für Forschung, Entwicklung, Klinik, Verwaltung, München 2001
- Robert Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001
- Christoph Geyer (Hg.), Biopolitik. Die Positionen = edition suhrkamp 2261, Frankfurt 2001
- Johannes Rau, Wird alles gut? Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß. Berliner Rede des Bundespräsidenten am 18.05.2001, Frankfurt 2001
- Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt 2001;
- ders., Glauben und Wissen. Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt 2001
- Karl Lehmann, Das Recht, ein Mensch zu sein. Referat zur Eröffnung der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 24.09.2001 in Fulda, erscheint in der Reihe: Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Heft Nr. 20, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2002 (weiterführende Begründungen)
- J. Reiter , Die genetische Gesellschaft, Limburg-Kevelaer 2002 (Topos-Taschenbuch)
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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