Ansprache bei der Verleihung der Willi Abts-Preise der Albert und Loni Simon Stiftung in Zusammenarbeit mit Magus, Mainzer Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Stiftungen, am Sonntag, 16. Mai 2004, im Ratssaal des Rathauses zu Mainz
I.
Wir sind oft in Versuchung, abstrakt vom Menschen zu reden. Dies hat gewiss auch einen guten Grund, denn das Menschliche im Sinne des Menschenwürdigen ist ein wichtiger Gradmesser dessen, was wir tun und vor allem, wie wir es beurteilen. Dennoch darf man nicht vergessen, dass unser menschliches Dasein im Laufe eines Lebens aus verschiedenen Stufen oder vielleicht auch Schritten besteht, die sich ablösen. Schon seit einiger Zeit gibt es dafür das Wort von den Lebensaltern. Bereits der heilige Augustinus (vgl. ep. 213) spricht von der Kindheit (infantia), der Knabenzeit (pueritia), dem Jünglingsalter (adolescentia), dem Mannesalter (juventus), dem reifen Mannesalter (gravitas) und dem Greisenalter (senectus). Berühmt ist ein sehr oft aufgelegtes und heute noch lesenswertes Büchlein „Die Lebensalter“ von Romano Guardini . Selbstverständlich hat gerade auch die Entwicklungspsychologie aller Schattierungen eine solche Gliederung des menschlichen Lebens in verschiedene Phasen versucht. Dabei ist es nicht ganz gleichgültig, wie man von den verschiedenen Lebensaltern spricht, ob es Schritte, Phasen, Gestalten oder Stufen sind. Es geht dabei nicht nur um die Entwicklung im Ganzen, sondern auch um die Frage, wie es zur Ablösung der einzelnen Lebensalter kommt. Es ist ganz wichtig, dass wir die einzelnen Stufen in ihrer jeweiligen eigenen Prägung verstehen und auch belassen. Immerhin geht es um unwiederbringliche Gestaltungen unseres Lebens, die mit ihrer Einzigartigkeit und Schönheit so nicht mehr wiederkommen. Darum kommt es entscheidend darauf an, dass man dem Menschen seine verschiedenen Lebensalter nicht nimmt und sie auch nicht bedeutungslos ansieht. Das Kindsein ist nicht nur oder zuerst bloße Vorbereitung auf das Erwachsenwerden, und das Alter ist nicht nur einfach ein Geringerwerden der Kräfte und Energien, verglichen mit dem vollen Erwachsenenleben. Es ist deshalb erfreulich, dass man in den letzten Jahrzehnten versucht hat, immer mehr Sinn zu entwickeln für die einzelnen Lebensphasen. So schrieb Romano Guardini vor einem halben Jarhundert: „Es scheint aber, dass die Jahre des hohen Alters eine wachsende Bedeutung gewinnen. Bevölkerungsstatistik wie ärztliche Erfahrung zeigen, dass das durchschnittliche Lebensalter, die ‚Lebenserwartung‘, schnell steigt. Die Ursachen des Todes werden wirksamer bekämpft. Die Medizin entwickelt eine genauere Lehre vom Zustand des alten Menschen und eine ihm gemäße Pflege – eine Gerontologie und Geronto-Therapie. Die soziale Fürsorge schafft die materiellen Bedingungen dafür, dass ein immer höheres Alter erreicht werden kann.“
In der Zwischenzeit ist vieles von diesem Vorblick Wirklichkeit geworden, nicht zuletzt auch bei der Entwicklung eines Faches Geriatrie/Gerontologie. Im Blick auf die Medizin ist das Fachgebiet um 1940 in England stärker profiliert worden. Durch eine entsprechende Diagnostik und Therapie wurden viele chronisch kranke alte Menschen so weit wieder hergestellt, dass sie ein selbstständiges Leben führen können. Während in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern sowie in der Schweiz die Geriatrie inzwischen ein anerkanntes medizinisches Fachgebiet darstellt, ist diese Entwicklung in Deutschland etwas langsamer vorangegangen.
Die Zahl alter und sehr alter Menschen nimmt in unserem Land ständig zu. Am 31. Dezember 2001 waren fast 4 % der bundesdeutschen Bevölkerung, d.h. fast jede 25. Person, älter als 80 Jahre. In den 90er Jahren ist die Anzahl der Menschen über 65 Jahre von 14 % auf 16 % gestiegen. Dieser Prozess wird sich fortsetzen .
Im Blick auf die medizinische Hilfe gibt es bestimmte Symptome, die im Vordergrund stehen: Instabilität (Stürze), Immobilität (Bettlägrigkeit), Inkontinenz und geistiger Abbau. So wachsen der Verlust der Alltagskompetenz, die Abhängigkeit, die Unselbstständigkeit und die Pflegebedürftigkeit. Was hier medizinisch in vieler Hinsicht durch die geriatrische Behandlung aufgefangen wird, muss analog eine entsprechende Hilfe in anderer Hinsicht finden, nicht zuletzt in psychologischer, anthropologischer und religiöser Hinsicht. Auf jeden Fall wird durch diese Maßnahmen insgesamt erkennbar, dass bei entsprechender Prävention und Rehabilitation die Selbstständigkeit oft lange aufrecht erhalten werden kann, und dass dadurch auch das Alter in überzeugender Weise eine Lebensphase sein und werden kann, die eine eigene Selbstständigkeit und Würde zu beanspruchen vermag.
So ist es gut, nicht nur von unserer eigenen Gegenwart auszugehen, sondern auch in andere Kulturen hineinzusehen, um uns selbst zu konfrontieren und uns zu fragen, ob wir die richtige Einstellung zum Alter haben. Deshalb möchte ich in einem zweiten Schritt genauer verfolgen, was die Bibel über das Leben im Alter sagt.
II.
1. Das Alte Testament
Die Hoffnung auf ein langes Leben und der Wunsch, im eigenen Lebenswerk und vor allem in den Kindern und Kindeskindern fortzuleben, hat große Bedeutung: „Eine Krone der Alten sind Kindeskinder; der Kinder Ruhm sind ihre Väter.“ (Spr 17,6) Insbesondere der spät in Erfüllung gegangene Kinderwunsch gilt als großer Gnadenerweis und Eingriff Jahwes, wo menschlich schon nichts mehr zu erhoffen war (vgl. z.B. Gen 18,9ff).
Oft werden alte Menschen als diejenigen dargestellt, die aufgrund ihrer Erfahrung weise geworden sind. Sie stellen die Urform der Autorität dar, begründet durch Erfahrungs? und Wissensvorsprung. Gerade darum sollen auch die jungen Menschen ihnen Ehrfurcht entgegenbringen und Ehre erweisen. Geschieht dies nicht, werden z.B. Eltern von ihren Kindern entehrt oder misshandelt, so kennt das Alte Testament für uns heute fast unvorstellbar drastische Strafen: „Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, wird mit dem Tod bestraft.“ (Ex 21,15) Diese Verpflichtung zur Ehrfurcht gilt nicht nur für das Verhältnis der Kinder gegenüber den Eltern (vgl. Ex 20,12), sondern der gesamten älteren Generation gegenüber: „Du sollst vor grauem Haar aufstehen, das Ansehen eines Greises ehren und deinen Gott fürchten.“ (Lev 19,32)
Symbol für das ehrwürdige Alter sind die grauen Haare. „Graues Haar ist eine prächtige Krone, auf dem Weg der Gerechtigkeit findet man sie.“ (Spr 16,31) „Der Ruhm der Jungen ist ihre Kraft, die Zier der Alten ihr graues Haar“, heißt es zusammenfassend (Spr 20,29). Aus diesem Loblied auf die von uns heute oft nicht gerade geschätzten grauen Haare spricht die Erfahrung, dass der Rückgang der körperlichen Schönheit oft mit dem Wachstum der inneren Reife des Menschen einhergeht.
Trotz dieser grundsätzlich positiven Deutung der letzten Lebensphase kennzeichnet das Alte Testament das Altsein durchaus realistisch auch mit seinen Schattenseiten. So wird nüchtern aufgedeckt, wie mit fortschreitendem Alter die Kräfte, die Sinne und die Lebensäußerungen schwach und schwächer werden. Und das einzige Klagelied (Ps 71), das eindeutig die Perspektive eines alten Menschen vor Gott spiegelt, benennt nicht nur das Schwinden der körperlichen Kräfte des alten Menschen, sondern vor allem seine Angst, verlassen zu sein von Gott und den Menschen: „Verwirf mich nicht, wenn ich alt bin, verlass mich nicht, wenn meine Kräfte schwinden. Denn meine Feinde reden schlecht von mir ... Auch wenn ich alt und grau bin, o Gott, verlass mich nicht.“ (Ps 71,9f. 18)
Sicher steckt hinter solchen Befürchtungen alter Menschen oft genug die Erfahrung, statt der gebührenden Achtung Rücksichtslosigkeit erlebt zu haben und wegen der körperlich?geistigen Schwachheit verspottet worden zu sein. Solche Erbarmungslosigkeit gegen alte Menschen ist für Israel Anzeichen eines gottlosen Volkes: „Ein Volk mit unbeweglichem Gesicht, das sich dem Greis nicht zuwendet und für das Kind kein Mitleid zeigt“ (Dtn 28,50). Die Qualität einer Gesellschaft lässt sich nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift also nicht zuletzt daran messen, ob sie Sinn, Verständnis und Ehrerbietung aufbringt gegenüber alten Menschen.
Gerade hier darf jedoch nicht vergessen werden, dass Israel zwar keinen Kult der Jugendlichkeit zulässt, dass es aber genauso wenig das Alter um des Alters willen absolut setzt. So ist die Frage „Findet sich bei Greisen wirklich Weisheit, und ist langes Leben schon Einsicht?“ durchaus legitim (Ijob 12,12) Die Bibel verdrängt die Erfahrung nicht, dass alte Menschen auch ausgesprochen unklug, verbohrt und starrköpfig sein können. Auch die Alten haben keine Garantie für Weisheit und Einsicht. Nicht das physische Alter alleine macht den Menschen letztlich zum Weisen, genauso wenig wie Reichtum und Erfolg schon in sich Anzeichen eines gelungenen Lebens sind: „Besser ein junger Mann, der niedriger Herkunft, aber gebildet ist, als ein König, der alt, aber ungebildet ist ? weil er es nicht mehr verstand, auf Ratschläge zu hören.“ (Koh 4,13)
Alter ist also nicht schon ein Wert in sich; es geht um etwas anderes. Die Armut des Menschen vor Gott, das Wissen um die menschliche Bedürftigkeit und um die Notwendigkeit, das Entscheidende von Gott her zu erhalten, macht den alten Menschen erst reich. Der Alte ist letztlich nur dann wirklich weise, wenn er fähig wird, das Leben wieder in die Hände Gottes zurückzulegen. Wo es zur schrittweisen Übereignung an Gott wird, ist Altern ? mit all seinen Gebrechen ? das Gegenteil des Scheiterns. Wer rechtzeitig seine Grenzen erkennt und anerkennt, ist wirklich weise und verdient höchste Anerkennung, so etwa in der Bibel der achtzigjährige Barsillai, der sich nicht scheut, alle seine altersbedingten Schwächen zu benennen (2 Sam 19, 32-41).
In allen diesen Aussagen erweist sich die Heilige Schrift als nüchtern und realistisch im Blick auf das Leben im Alter. Die Doppelgesichtigkeit dieser Lebensphase, in der Schwäche und Größe, Torheit und Weisheit, Eigensinn und kluge Zurückhaltung so dicht beieinander liegen, wird nicht verleugnet. Dabei kennen Altes und Neues Testament nicht nur allgemeine Aussagen über den alten Menschen, sondern mehr noch schildern sie konkrete Menschen in ihrer Kraft und Stärke, aber auch in der Schwäche ihres Altseins: Isaak (Gen 27,21), Jakob (Gen 48,10), Eli (1 Sam 3,2), Mose (Dtn 34,7) und ? nochmals zu erwähnen ? Zacharias und Elisabeth, Simeon und Hanna. Sie alle sind in ihrem Alter Menschen, die so weise sind, dass sie ganz dem Kommenden entgegenharren und nicht nur rückwärts schauen. Dieses Leben in den Erinnerungen ? ein Reichtum des alten Menschen ? kann ihm ja auch zum Hindernis werden, sich nach dem Kommenden, vor allem nach dem kommenden Herrn auszustrecken.
Gerade die Weisheitsbücher sehen manche Doppeldeutigkeit des Lebens. Ein schönes Beispiel ist dafür Ijob, der es am Glück des Frevlers veranschaulicht und sich fragt: „Warum bleiben Frevler am Werk, werden alt und stark an Kraft... Ihre Häuser sind in Frieden, ohne Schreck, die Rute Gottes trifft sie nicht... Sie verbrauchen ihre Tage im Glück und fahren voll Ruhe ins Totenreich. Und doch sagten sie zu Gott: Weiche von uns! Deine Wege wollen wir nicht kennen.“ (Ijob 21, 7. 9. 13. 14) In all diesen Aussagen, die mit zum gesamten Kontext gehören, zeigt sich das Ringen der Heiligen Schrift als nüchtern und realistisch im Blick auf das Leben im Alter.
Wirklich herausragende alte Gestalten begegnen uns auf der Schnittstelle vom Alten zum Neuen Bund. Da sind zunächst Zacharias und Elisabeth (Lk 1,5ff). Sie bleiben bis ins hohe Alter kinderlos und werden dann doch noch in ihrer späten leiblichen Fruchtbarkeit zu Trägern einer großen göttlichen Verheißung. Hierin sind sie verwandt mit vielen alttestamentlichen Gestalten, allen voran Abraham und Sara. Ebenso weisen Simeon und Hanna (Lk 2,25ff) in die alttestamentliche Tradition zurück, ja sie können geradezu als Exponenten der alttestamentlichen Heilserwartung bezeichnet werden: In ihnen harrt das Volk des Alten Bundes der Erfüllung der göttlichen Verheißungen entgegen. Ihr physisches Altsein ist Symbol dieses weisen, geduldigen, hoffnungsvollen Ausschauens nach dem Kommen Gottes.
2. Das Neue Testament
Das Neue Testament kommt nur selten auf den alten Menschen und das Alter im physischen Sinne zu sprechen. Offenbar verliert das Alter durch das Evangelium Jesu Christi etwas an Gewicht: Wo alle durch die Taufe Jesus Christus gleichförmig geworden sind, verlieren mit den Standes?, Rassen? und Geschlechtsunterschieden (vgl. Gal 3,26?28) auch die Atersunterschiede letztlich ihre Heilsbedeutung. Das neue Leben des vom Tod auferweckten Herrn lässt alles in einem neuen Licht sehen. Daher werden der alte Mensch und das Alter im Neuen Testament oft nur noch in einem übertragenen Sinne genannt, so z.B. in Röm 6,6: „Wir wissen doch: Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der von der Sünde beherrschte Leib vernichtet werde und wir nicht Sklaven der Sünde bleiben.“ Nachdem die Christen durch die „Wiedergeburt“ der Taufe geschritten sind, hat das Altwerden der vorläufigen, irdischen Existenz zwar keine Abwertung, aber eine starke Relativierung erfahren. Diese dispensiert die junge Generation aber keineswegs von der den Alten zu erweisenden Hochachtung, wie die Ermahnungen in den Haustafeln der Pastoralbriefe bezeugen (vgl. z.B. 1 Tim 5,1?8). Hier steht das Neue Testament ganz und gar in der Tradition der alttestamentlichen Familienordnung.
Dies sollte nur eine knappe Erinnerung sein, was uns die Bibel zum Alter und zu den alten Menschen sagt. Wir spüren von selbst, welche Lebensweisheit aus diesen Zeugnissen spricht, und was wir daraus lernen können. Im Antlitz des alten Menschen können wir wieder neu das Gesicht und das Bild des Menschen überhaupt entdecken. Wir hätten viel gelernt für den Umgang mit Leben und für unsere Sorge um die alten Menschen, wenn wir neu wahrnähmen, wie sehr sich uns gerade im alten Menschen das Geheimnis jeden Lebens offenbart.
Es ist gut, eigens und ausführlicher auf das vierte Gebot zurückzukommen: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt (Ex 20,12). Mit diesem so genannten Elterngebot setzt im Dekalog die Reihe der Sozialgebote ein. Dabei hat man sich oft gewundert, warum dieses Elterngebot an der Spitze steht. Wir sind natürlich ohnehin im Verständnis dieses Gebotes verunsichert, weil wir es schon seit langer Zeit vor allem in der Perspektive der Unterordnung der Kinder unter die Eltern deuten und dabei besonders die Aspekte der Autorität und des Gehorsams hervorgehoben haben.
Dem ursprünglichen Sinn nach richtete sich die Pflicht, Vater und Mutter zu „ehren“, an die erwachsenen Kinder zur Sicherstellung der Versorgung der alten Eltern. Dieses Gebot steht an der Spitze der ethischen Weisungen im Alten Testament. Dabei geht es weniger um das Verhältnis von Kindern zu Eltern, sondern von Erwachsenen zu Alten. Diese waren allein auf die Versorgung durch die Jüngeren angewiesen. „Ehren“ meint in diesem Zusammenhang die Verpflichtung zu konkreten materiellen Versorgungsleistungen. Die angemessene Versorgung der alten Eltern mit Nahrung, Kleidung und Wohnung wird vorausgesetzt. Darüber hinaus wird ein respektvoller Umgang und eine würdige Behandlung verlangt, die trotz der Abnahme der Lebenskraft ihrer Stellung als Eltern entspricht.
Dafür haben die Eltern aber auch die Aufgabe, ihren Kindern die Weisungen Gottes und besonders den Dekalog weiterzugeben. Wenn im Lichte der späteren Interpretation des Gebotes auch noch in einem erweiterten Sinn von „ehren“ die Rede ist, dann soll dies heißen, dass die Jüngeren den oft gegebenen Vorsprung an Erfahrung und manchmal auch an Weisheit der Alten respektieren und diese „auctoritas“ nicht verachten. Es wurde oben schon gezeigt, dass dies nicht heißt, das Alter hätte in allem und von vornherein einen ganz selbstverständlichen Vorrang vor den Jüngeren. Hier hat der biblische Glaube nicht eine Gerontokratie legitimiert, die in jedem Fall eine durchgehende Überlegenheit der älteren Generationen fixiert. Für dieses ausgewogenere Verständnis möchte ich aus der späteren Zeit nur die Benediktsregel anführen, die auf der einen Seite von der antiken Tradition her der Erfahrung und der Weisheit der Älteren Rechnung trägt, auf der anderen Seite aber auch Weisheit bei Jüngeren gegeben sieht. So heißt es in Kap. 3 bei der Einberufung der Brüder zum Rat, zu dem alle aus der Gemeinschaft zusammenzurufen sind: „Wir haben aber deshalb bestimmt, dass alle zur Beratung einberufen werden, weil der Herr oft einem Jüngeren offenbart, was das Beste ist.“
III.
Nach dieser Betrachtung ist es notwendig, einen zusammenfassenden Blick auf das Thema zu lenken. Dabei leitet uns die Frage, wie denn das Alter eine eigene Würde und Selbstständigkeit behalten und bekommen kann. Ich möchte dafür wenigstens einige Perspektiven formulieren, die selbstverständlich in hohem Maß biblisch inspiriert sind.
Zunächst und zuerst ist es wichtig, sein Leben im Alter anzunehmen. Die Annahme seiner selbst wird im Alter sogar schwieriger. Wenn man sich nur vergleicht mit dem, was bisher an Kräften verfügbar war, sieht alles aus wie eine Minderung. Dies kann so weit gehen, dass man vom Altwerden lieber gar nicht spricht, und es gar nicht hören kann, z.B. 70 Jahre zu zählen. Dies kann soweit gehen, dass man nicht nur die Ohren verschließt vor einem Gespräch darüber, sondern dass man sich auch nicht dazu stellt und dazu steht. Es gibt dann eine regelrechte Rückwendung zu einer längst vergangenen Jugendlichkeit, die man auch nicht durch noch so raffinierte Mode wieder herstellen kann. Es gibt hier manche Formen des Atavismus, darin man sich in frühere Lebensstadien zurückverwandeln möchte. Dies kann aber auch dazu führen, dass man das Alter übergeht und sich Maßstäbe und Leistungen aufbürdet, die übertrieben sind. Wenn die Anforderungen dann nicht erfüllt werden können, sind oft Enttäuschung und Bitterkeit das Resultat. So kann es auch eine sehr hohe Unzufriedenheit mit sich selbst im Alter geben. Manchmal kann dies umschlagen, sodass man sich im Alter in vieler Hinsicht vernachlässigt, weil man nichts mehr erwartet und keine Zuversicht mehr hat für dieses Leben.
Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, sich selbst mit seinem Leben im Alter anzunehmen und Ja zu sich zu sagen. Diese Annahme des Alters bringt es mit sich, dass das Älterwerden und erst recht das Altsein nicht nur einen Verfall, sondern eine ursprüngliche Form positiven Lebens darstellt, das eine eigene Produktivität aufweist. Dazu gehört auch, dass man eine volle Freude hat an dem, was man jetzt genießen kann.
Dieses Verhältnis hat freilich eine eigene Struktur. Ein solcher alter Mensch vergisst nicht, dass er in eine letzte Phase seines Lebens kommt. Ich glaube, dass dies nicht hindert, die Welt mit ihren Schönheiten zu lieben. Aber es wird nicht so erlebt, als ob alles gleichsam im eigenen Glück zu Ende kommt und regelrecht alles in sich hineingefressen wird. Es gibt nun eine lautere Liebe zur Erde und zu ihren Geschöpfen, die von einer abschiedlichen Haltung geprägt wird. Es geht nicht darum, immer neue Dinge, vor allem materiellen Reichtum, anzuhäufen, sondern sich darin einzuüben, eines Tages auf ihn ganz verzichten zu können. So wird der alte Mensch immer mehr auf das, was er von innen heraus ist, zurückgelenkt, nicht auf den Besitz. Sein geht vor Haben. Darum leuchten auch manche ältere Menschen, die dankbar sind für alles, was ihnen zur Verfügung steht, aber sich in die irdischen Dinge nicht verkrallen, von innen her. Sie haben darum auch ein besonderes Gespür für das, was ihnen äußere Dinge nützen. Aus dem Gefühl der Vergänglichkeit kann etwas in sich selbst Positives kommen: das immer deutlicher werdende Bewusstsein von dem, was nicht vergeht, was bleibt und ewig ist. Durch eine solche Haltung kommt in das Leben etwas Ruhiges. Als man den hl. Karl Borromäus einmal fragte, was er tun würde, wenn er wüsste, dass er in einer Stunde sterben müsse, antwortete er: „Ich würde das, was ich jetzt tue, besonders gut tun.“ Hier wird die Lebensangst überwunden, das nervöse Auskosten-Wollen, das Sich-Vollstopfen mit allem, was man noch erreichen kann. Darin liegt eine tiefe Lebensangst.
Dabei zeigt sich noch etwas anderes, das freilich eng damit verbunden ist. Wir sind endliche Menschen. Wir wissen dies immer schon, auch als jüngere Menschen. Wir wissen, dass alles Geschehen sich auf eine Vollendung hin bewegt. Das Kind weiß davon wenig, es zeigt sich bei ihm vor allem im Lebenshunger und im Schutzbedürfnis. Junge Menschen können dieses Ende jedoch manchmal fast ganz vergessen und, wie es scheint, ausschließlich nach vorne leben. Das Wissen darum, dass der Lebensbogen zu Ende geht, macht die Dinge und das Leben jedoch dichter und ernster, kostbarer und wertvoller. Es ist kein Widerspruch, wenn man zugleich sagt, dass der Erlebende immer weniger von den Dingen ergriffen wird, und dass Leben in diesem Sinne „dünner“ wird.
Dies zeigt uns, dass eine abschiedliche Grundhaltung immer wieder lernen muss, die Dinge loszulassen und sich selbst von ihnen zu lösen. Es wäre nämlich eine Täuschung, vor dem Altwerden zu kapitulieren, das Leben im Ganzen preiszugeben und sich an das zu klammern, was noch da ist. Es gibt einen schlimmen Altersmaterialismus, für den die greifbaren Dinge alles werden: das Essen und Trinken, das Bankkonto, die Geltungssucht, das Tyrannisieren der Umgebung. Man will aus dem, was man anderen befiehlt oder aufträgt oder von ihnen verlangt, das Gefühl ableiten, man sei noch etwas. In diesem Sinne muss das Lassen immer wieder eingeübt werden. Diese Annahme des Alterns geht gewiss nicht ohne Krisen. Man darf dem Altern nicht einfach wehrlos verfallen, man darf es aber auch nicht gleichgültig oder zynisch entwerten. Dafür braucht man viele Haltungen, die oft schon ein Leben lang ausgebildet worden sind: Einsicht, Gelassenheit, Mut, Aufrechterhaltung des gelebten Lebens, des bisher realisierten Sinns des Lebens. Dabei muss man sich vor bestimmten Gefahren besonders hüten: Es gibt manchmal eine Abwertung und Herabsetzung der jüngeren Generationen, regelrechte Ressentiments gegen geschichtlich Neues, Schadenfreue über das Misslingen gegenwärtiger Bemühungen. Dies kann bis zu großem Neid gehen. Im Alter kann es auch schlimme Misanthropen geben.
Es gibt auch schlimme Formen von Senilität, die einen unaufhaltsamen Verfall mit sich bringen. Es wird nur noch das Wenigerwerden erfahren. Die Aufnahmefähigkeit der Sinne wird geringer. Es wird schwer, sich an neue Situationen anzupassen. Die Abläufe werden starr. Das Kämpfen hört auf. Es besteht kein Interesse mehr für das allgemeine Lebensgeschehen. Es entsteht eine Gleichgültigkeit, die sich auch nicht darum kümmert, welchen Eindruck man auf andere macht. Es gibt eine Zähigkeit des Festhaltens, die bis zum Kleinlichsten gehen kann. In der Gesamtverfassung kann das Negative zunehmen und dominieren.
Man kann nur dankbar sein, dass es heute vielen alten Menschen vergönnt ist, durch Prävention und Rehabilitation, durch die Geriatrie hier mannigfache Hilfe zu erhalten, sodass das eingeschränkte Leben trotz allem erträglich bleibt. Wenn dies gelingt, dann gibt es jenseits von Resignation, aber auch Selbstüberschätzung, ein Reiferwerden. Es gibt dann durchaus neue Motivation. Man kann noch neue Elemente in der eigenen Biografie finden. Ja, es gibt manchmal auch einen befreienden Humor, der über sich selbst das Lachen lehrt. Dies ist dann immer ein Zeichen dafür, dass der Mensch nie bloßes Objekt ist. Auch wenn seine Verantwortlichkeit kleiner geworden ist und sich bescheiden muss, so ist er dennoch Subjekt seines Daseins. So kann das Leben manchmal in dieser Phase bewusster gelebt werden. Es gibt bei einem gelungenen und geglückten Alter so etwas wie eine „späte Freiheit“ (L. Rosenmayr).
Es ist bewegend, wenn ein solches Leben den Glauben an Gott nicht verliert. Denn irgendwo lassen sich die Urfragen des menschlichen Lebens nicht auslöschen: Ist der Tod die Auflösung ins Leere oder ist es der Eintritt in die immerwährende Seligkeit? Darauf gibt nur die Religion Antwort. Nur wer das Leben bisher schon als „vorläufig“ erfahren und bejaht hat, kann auch in dieser Situation gelassen bleiben. Alt werden ohne den Glauben an Gott ist schlimm. Darum ist das Gebet, in welcher Form es auch einhergeht, im Leben des alten Menschen wichtig. Aber wir wissen auch, dass es im Alter eine extreme Verschlossenheit geben kann, die wirklich an das grenzt oder auch enthält, was man Atheismus nennt. Wie es dann am Ende in einem solchen Menschen wirklich aussieht, kann nur Gott selbst beurteilen.
Solange man lebt, sollte man auch leben wollen. Aber zu diesem Leben in unserer Gegenwart gehört für den Christen auch der Ausblick auf das ewige Leben. Dafür gibt es gewiss sehr verschiedene Stile. Es gehört auch zur wahren Hoffnung, in einer Weise sein Leben zu beschließen, wie es Gottes Wille ist. Ich möchte schließen mit den Worten meines Lehrers Karl Rahner, der im hohen Alter, ein bis zwei Jahre vor seinem Tod, geschrieben hat: „Man soll mit Jesus beten: Vater, in Deine Hände empfehle ich meinen Geist; man darf aber auch beim Sterben mit Jesus das Psalmwort beten: Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?, weil auch dieses Gebet mit dem ewigen Leben Gottes beantwortet werden wird. So sind darum auch die Stile der hoffenden Erwartung des ewigen Lebens während unseres Lebens im Alter sehr verschieden. Es kann dem einen die Hoffnung des ewigen Lebens als wunderbar tröstliches Licht das Herz erfüllen und er so freudig auf die letzte Stunde hingehen. Einem anderen ist es gegeben (das ist letztlich dieselbe Gnade), in der Standhaftigkeit eines nüchternen Glaubens zu leben, ohne sich mit eigenen Farben den Himmel ausmalen zu wollen: Ich glaube an das ewige Leben. Ein solcher wird sich sagen: Mein eigenes Herz ist schwach und eng, ich muss fast ängstlich suchen, wo neben der Müdigkeit und Dürre meines Alters für diesen Glauben noch ein Platz zu finden ist; aber Gott ist größer als mein Herz und verlangt von mir nicht mehr, als ich ehrlich aufbringen kann. Der alte Mensch ist auf die Grenzlinie zwischen Zeit und Ewigkeit gestellt. Und da hat er seine heiligste Aufgabe. Sie kann eine schwere Last sein. Aber Gott trägt sie mit uns und nimmt sie uns ab, wenn wir wirklich nicht mehr können.“ .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue mich, dass die Willi Abts-Preise an die beiden Damen Ulrike Scherzer und Ines Himmelsbach gehen, und zwar für Arbeiten im Themenbereich „Selbstbestimmtes Leben im Alter“. Wir sind gespannt auf die Laudationes. „Selbstbestimmtes Leben“ ist ein hohes Ziel, das man rundum begrüßen kann, das freilich auch immer wieder Erschwernisse und Hindernisse, mit sich bringt. Es kommt darauf an, wie wir damit umgehen. Wir können jedenfalls mehr, als wir annehmen und denken.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz