Ein junger Mann - so war vor einiger Zeit in unseren Zeitungen zu lesen - kommt auf einen Platz inmitten einer europäischen Hauptstadt, er bringt einen Kanister Benzin mit, übergießt sich damit und verbrennt sich. Man findet einen Zettel bei ihm, auf dem steht, er habe keine Lust mehr. Es sei doch alles sinnlos. Solches wiederholt sich jeden Tag, vielleicht in unauffälligeren Formen. So verlässt einer unsere tägliche Lebenswelt und verschafft sich durch Drogen eine kurze Zeit der Sensationen, bevor sein Leben endet. Er gibt auf, er will aber auch nicht mehr weiter mitmachen, was alle machen, keinen Augenblick mehr das sinnlose Dahinleben, wenn nicht einer ihm auf die Frage antworten kann: Wozu?
Mit solchen Ereignissen wird auch die bohrende Frage öfter gestellt: Wozu? Wie kann ich leben, ohne ein sinnvolles und also sinngebendes Warum und Wozu? Von Glück zu reden ist lange Zeit verpönt gewesen. Nur die Spießbürger sprachen davon, wie man meinte. Schon seit einiger Zeit hat man dieses uralte Wort wieder ausgegraben und sinnt ihm von neuem nach. Auch wir wollen uns auf einen solchen Denkversuch einlassen. Dabei beleuchten wir die heute viel gestellte Sinnfrage von der Suche des Menschen nach Glück her; zugleich erhellen und konkretisieren wir das Streben nach Glück von der menschlichen Not her, eine Erfüllung des Lebens zu finden. Beide ergänzen sich wechselweise, woraus sich der Aufbau dieses Vortrags ergibt.
Es ist zweifellos besonders angezeigt, im Zusammenhang des Lotto unserer Frage nachzugehen. Denn beim Lotto kommt beides zusammen: Die Suche nach Glück und das Spiel, es auch zu finden. Nicht zufällig nennen wir dies „Glücksspiel". Aber was steckt hinter der Suche nach dem Glück?
In der Presse dieser Tage wird von einer Forsa-Umfrage berichtet über das Glücklichsein der Deutschen. Danach bezeichnet sich eine große Mehrheit der Deutschen als ausgesprochen glücklich. 62 % behaupten dies im Blick auf ihre jetzige Situation. 16 % halten sich sogar für sehr glücklich. „Überhaupt nicht glücklich" waren 4 %. Insgesamt bezeichnen sich etwas mehr West- als Ostdeutsche als glücklich. Auf die Frage, was glücklich macht, antworteten mehr als 90 % Familie und Partner. Kurz dahinter rangieren Freunde und Gesundheit. Für nur 61 % sind die eigene wirtschaftliche Lage und der Beruf ausschlaggebend für ihr Glück. Geld ist für 58 % entscheidend.
I. Die Suche nach Glück und die Melancholie der Erfüllung
Wenn wir von „Glück" sprechen, dann zeigt schon unser Sprachgebrauch eine doppelte Bedeutung an. Einmal sagen wir „Ich habe diesmal gewaltig Glück gehabt!" und meinen einen ganz ungewöhnlichen Zufall, dass wir z.B. ein Preisausschreiben oder im Lotto gewonnen haben oder mit knapper Mühe einer Unfallkatastrophe entgingen. Solches Glück „hat" man oder man hat es nicht, äußerstenfalls hat man ,,Pech" gehabt. Wer jedoch nicht in der Lotterie gewonnen hat, braucht deshalb nicht im strengen Sinn unglücklich zu sein. Damit kommen wir auf die zweite Bedeutungsnuance, wenn wir sagen „Ich bin glücklich". Dies bedeutet eine Verfassung des menschlichen Daseins, darin das Verhältnis zu uns selbst, zur Mit- und Umwelt in einem erfüllten Gleichgewicht steht. Der Mensch findet sich dadurch bejaht, bestätigt und getragen. Freude, Heiterkeit und ein Lied können Ausdruck solchen Glücks sein.
Zwei Elemente spielen in diesem Glücklichsein eine wichtige Rolle: Wahres Glück ist etwas, das wir nicht schlechthin machen oder herstellen können. Es ist in seinem Eintreffen und in seinem Ursprung unserer Verfügungsgewalt entzogen. Man könnte dies die Okkasionalität, aber auch den Spielcharakter des Glücks nennen. Dieser kann verschieden gedeutet werden, sodass die Menschen sagen: Das Glück sei launisch, es narre, das Glück sei einem hold, einer hat mehr Glück als Verstand. Nun gibt es aber darin zugleich eine andere Bedeutungskomponente, die uns davor warnt, das Glück nur als ein rein „von außen" auf uns zukommendes Ereignis zu verstehen. Wir sagen ja auch, dass jeder seines Glückes Schmied ist, dass man sein Glück probieren muss und dass jemand sein Glück machen kann. Man kann sein Glück auch verscherzen, d.h. einen möglichen Erfolg leichtsinnig preisgeben. Man darf sich nicht nur ,,auf gut Glück", d.h. blindlings, auf eine günstige Fügung oder einen Erfolg verlassen. Wir können also etwas dazu tun oder etwas lassen, um glücklich zu sein. Beide Elemente, die Unverfügbarkeit und das Beteiligtsein, machen in ihrem undurchschaubaren Zusammenspiel das Rätsel des Glücks aus.
Wenn der Theologe von diesem Glück spricht, denkt er mit Notwendigkeit an das, was die klassischen Traditionen Glückseligkeit und Seligkeit nennen. Wir sind dann meist allzu rasch über das „kleine" Glück des Menschen hinaus und meinen ausschließlich das Heil des Menschen und der Welt, die totale Versöhnung, den ewigen Frieden. Glück hat sicher etwas mit der Hoffnung zu tun, es möge einmal wirklich alles gut sein. Aber darf man sich so auf diese letzte Glückseligkeit konzentrieren, dass man das so genannte „kleine" Glück des Menschen dabei heruntersetzt? Die Menschen verbinden heute viele Hoffnungen, Erwartungen und Wünsche mit dem Wort Glück. Man redet davon nicht erst dann, wenn tatsächlich alles gut sein wird und uns kein Kummer und keine Not mehr bedrängen. Der Mensch ist schon weithin zufrieden, wenn er kleine Oasen des Glücks findet. Er sucht nicht unmittelbar eine total heile Welt. Er sucht etwas Bescheideneres, aber etwas, das ihn hier und jetzt erfüllt, etwas, das ihm sagt, dass es einen Sinn hat, da zu sein, dass es schön ist und gut zu leben. Der eine setzt dafür auf den Erwerb, den Besitz und den Verzehr materieller Güter, ein anderer mehr auf den geistigen Genuss von Werken der Kunst und der Literatur oder auf das Zusammensein mit Menschen, die er liebt. Gewiss hat hier auch ein Gewinn bei einem Glücksspiel einen guten Sinn. Sicher kann man das, was wir derart finden im Atmen, Gehen und Sehen, auch im Essen und im Trinken, in der Liebe, in der Arbeit und im Spiel – alles dies kann man als ein „kleines" Glück bezeichnen, wenn man es misst an einem vorausgesetzten Heilsverlangen. In Wahrheit aber ist dieses so genannte kleine Glück doch wohl das einzig für uns mögliche, und es ist für den, der es als Glück empfängt, alles andere als klein. Es steht niemandem zu, dieses Glück der Menschen in seinen vielen Formen schon der heilige Augustinus spricht von 288 Meinungen über das Wesen des Glücks im Altertum herabzuwürdigen und madig zu machen. Verfolgen wir lieber den inneren Verlauf menschlichen Glücksstrebens.
Viele Philosophien sind sich darin einig, dass der Mensch in all seinem Tun nach dem Glück sucht. „Von Natur aus und mit Notwendigkeit will der Mensch Seligkeit, und er flieht das Elend" (Thomas von Aquin, S.Th. I/II, qu. 1, a. 94, ad 1. ). Es gehört nun aber zum Wesen des Glücks, dass es über das schon Erreichte hinausstrebt. Solange wir z.B. noch kein Auto haben, sind wir der festen Überzeugung, dass volle Befriedigung dieses Wunsches unser Glück zu sichern vermöchte. Solange wir unter einem bestimmten Mangel leiden, sind wir oft selbst davon überzeugt, dass, wenn nur dieses oder jenes Bedürfnis befriedigt sei, wir vollends zufrieden und glücklich seien. Allerdings gewöhnt sich jedes höher erreichte Niveau ein, es wird zur „Selbstverständlichkeit", es sinkt fast auf einen Nullwert ab, von dem aus neue Bedürfnisse entstehen. So kann Thomas Hobbes den Glücksbegriff definieren als möglichst wenig gehindertes Aufsteigen zu immer weiteren Zielen (,,ad fines semper ulteriores minime impedita progressio"). Auch die Erfahrung lehrt, dass die Befriedigung eines Bedürfnisses nach Glück letztlich in sich unerfüllt bleibt. Sobald ein Wunsch routinemäßig und sicher erfüllt wird, verheißt er nicht mehr das Glück, das er einmal beim Namen rief. Jede auf Dauer gestellte Beglückung erleidet einen offensichtlich unaufhaltsamen Verfall. Dabei bleibt es jedoch nicht. Die erfahrene Befriedigung schafft nämlich immer neue Bedürfnisse. Dadurch sinkt jedoch der Erfüllungswert. Wir wehren uns gegen diese Erfahrung und wollen das Glück durch Wiederholungen erreichen, doch führt dies nicht selten über die Selbstverständlichkeit und die Gewohnheit zur „Frustration" oder gar zum Ekel. Oft ist nur der Erwerb, nicht aber der Besitz des Neuen glücksbetont. Dies beweisen Sammlerleidenschaften ebenso wie die inneren Höhen und Abstürze des menschlichen Eros.
Wer kennt nicht die heimliche Trauer in jedem Glück? Wirkliche Erfüllung gelingt nur im Nu des Augenblicks. Wir wehren uns gegen die nur flüchtige Gegenwart des Glücks und wollen es festhalten. Aber man kann Seligkeit nicht fixieren. Die Wiederholbarkeit des Glücks ist nicht unbegrenzt. Das selbst bestellte und auf Kommando abrufbare, wiederholte Glück ist nicht gegen aufkommenden Überdruss gefeit. Das Glück ist um so weniger gut, d.h. auf die Dauer beglückend, je eigenmächtiger es von uns festgehalten wird. Wer sich an sein Glück klammert, verliert es nur um so rascher. Die Märchen wissen darum.
Wir betrachten Glück heute zunehmend nicht als etwas, was uns geschenkt wird, sondern in der Regel als etwas, das es zu erjagen gilt. Glück kann man sich scheinbar verschaffen, man kann darum kämpfen. Bei dieser Glückserfüllung durch eigene Hand kommt es, wie es scheint, noch viel rascher zur Enttäuschung. Wenn man nämlich das selbst gebastelte Glück erreicht, erweist es sich oft als schal. Langeweile ist eine seiner Folgen. Mit dem steigenden Glücksangebot wird zugleich die Erwartung mitverkauft, dass sich dieses Glück in zunehmendem Maße auch wieder auflöst und verfällt. „Etwas wie eine Katerstimmung des Angebotsüberflusses macht sich breit"(A. Gehlen, in: Was ist Glück?, hrsg. von U. Hommes, München 1976, 30). Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass wir uns beim Glücksstreben vor allem im materiellen Bereich - den Mustern und Zwängen ausliefern, die in diesem herrschen. Handgreiflich zeigt sich die Gefahr, dass wir eben jene Freiheit verlieren, derer es im Umgang mit solchen Dingen bedarf. Und so erzeugt manches Glück zugleich in uns selbst eine Art innerer Abwehr, welche Freiheit verteidigt.
Der Mensch reagiert auch heute sehr verschieden auf diese Möglichkeit des Glücks. Es gibt das Evangelium vollkommener Hemmungslosigkeit, es gibt aber auch eine nicht unbedenkliche misanthrope Verachtung menschlicher Glücksmöglichkeiten. Sie entstammen einem vielschichtigen „Realismus", darin sich Wahres fast untrennlich mit Falschem vermischt. Sigmund Freud schreibt in seiner aus dem Jahre 1930 stammenden Schrift „Das Unbehagen in der Kultur" über das stetige Glücksstreben des Menschen: „Dieses Programm ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch ‚glücklich‘ sei, ist im Plan der ‚Schöpfung‘ nicht enthalten"(Studienausgabe IX, Frankfurt 1969, 623). Eine Glücksbilanz fällt meist negativ aus und endet mit der Empfehlung: „Das integrale Heilsverlangen (oder Glücksverlangen) lassen wir besser weg. Begnügen wir uns damit, Unheil zu verhüten oder wenigstens abzumildern, wo immer und so weit dies möglich ist." Darin steckt einige Weisheit, weil wir uns oft mehr darin einig sind, konkretes Unheil zu verhindern, als darüber, was uns wirklich glücklich machen könnte. Aber die Antwort trägt nicht. Der Mensch verlangt nach Glück, ja noch mehr: Alle Lust will Ewigkeit, sagt Friedrich Nietzsche. Aber jede Lust, die jemand ewig zu ertragen hätte, würde bald aufhören, Lust zu sein. Manches erträumte Paradies verlöre würde es als Realität erfahren schnell allen Reiz. Es gibt für den ruhelosen Antrieb des Menschen nach einem Glück, das von der Wirklichkeit nicht bestätigt, vielmehr eher desavouiert wird, zwei Möglichkeiten: Die Utopien errichten aus der Not der Zeit künftig zu realisierende Möglichkeiten. Der Überdruss an der Gegenwart kann aber auch eine eher abstoßende Kraft entfalten, sodass sich die Glücksfantasie nach rückwärts wendet und zur Nostalgie wird: Rückzugsbewegung und Heimweh nach einer früheren Welt.
Ohne dass wir diesen Lösungsmöglichkeiten weiter nachgehen wollen, dürfte doch feststehen, dass auch sie die Frage nicht beantworten, was geschieht, wenn die Utopie realisiert wäre. Alles kommt darauf an, dem Menschen seine unersättliche Suche nach Glück und Glücklichsein nicht zu nehmen. Glückseligkeit ist nur dann wirklich erreicht, wenn sie den Menschen nicht mehr genommen werden kann. „Noch an der Banalität des Happy End - so formuliert der Philosoph Wilhelm Kamlah - wird das deutlich. Wenn der Film oder der Roman zu Ende ist, soll der Augenblick festgehalten werden, denn die Rückkehr in die Nüchternheit hat jetzt den Charakter der ‚grausamen Ernüchterung‘. Es ist die grausamste Erfahrung in der Profanität, dass die erfüllte Seligkeit in ihrem Jetzt nun doch nicht ‚stehen‘, nicht dauern kann, dass es auf die Dauer Seligkeit nicht gibt" (Philosophische Anthropologie, Mannheim 1972, 188). Wir können uns in der Tat keine inhaltliche Befriedigung diesseitiger Art vorstellen. Der Glaube, eine geschichtliche Glücksrealisierung könne an die Stelle einer absoluten Verheißung treten, erweist sich angesichts dieser Erfahrungen als übereilt. Der Überschuss der Sehnsucht geht im Vorfindlichen nicht auf. Nicht wenige politische Versuche, ein Paradies in irdischen Bildern auszumalen und zugleich deren irdische Befriedigungsmöglichkeit anzunehmen, stranden an der nicht übersteigbaren Erfahrung, dass ein erreichtes Paradies von selbst aufhörte, eines zu sein.
II. Gründe für ein Wiedererwachen der Sinnfrage
Der heutige Mensch ist wieder sensibel geworden für die Unermesslichkeit menschlichen Sehnens und Fragens. Während man eine Zeit lang an die Entwicklung zu einem endgültig religionslosen Zeitalter dachte, wurde die Suche nach einem haltgebenden Sinngrund stärker. Von den Themen Revolution, Systemveränderung und Emanzipation vollzog sich ein in kurzer Zeit erfolgter Wandel zu ganz anderen Fragen wie Subjektivität, Innerlichkeit, Meditation und Kommunikation. Man spricht geradezu von einem religiösen Aufbruch und meint den Willen des Menschen zu einem Grund, der mehr ist als die Summe seiner Planungen und Erwartungen. Aufbruch des religiösen Geistes bedeutet Mut zur Besinnung und zum Schweigen, Vertrauen auf einen gegenwärtigen Sinn und auf ein Ganzes, das mehr ist als die Rekonstruktion unserer Erfahrungen und das Ergebnis immer wieder einbrechender Enttäuschungen. Dieser Aufbruch der Sinnfrage signalisiert das Bewusstwerden des Menschen, dass er mehr ist als das Ensemble ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Faktoren.
Fragt man nach den Gründen dieses Wandels, dann wird man ein fundamentales Motiv von allgemeiner Gültigkeit an den Anfang stellen. Diese Zeugnisse für das Wiedererwachen der Sinnfrage sind zunächst ein Beweis für die uralte Überzeugung, dass der Mensch die letzte Erfüllung seines Lebens nicht im Bereich des Endlichen und empirisch Erfahrbaren findet. In diesem Aufbruch bekunden sich die unstillbare Sehnsucht und die letzte Erfüllung der Unruhe des menschlichen Herzens in einer Wirklichkeit, die der Macht des Menschen entzogen ist. Aber diese Grundbestimmung des Menschen wird nie realisiert ohne konkrete geschichtliche Motive, die unserer gegenwärtigen Situation entspringen. Ich möchte nur zur Erhellung dieses allgemeinen Hintergrundes im Blick auf den Aufbruch der Sinnfrage folgende vier Elemente nennen:
1. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein:
Auch inmitten äußeren Wohlstandes erfuhr und erfährt der Mensch eine innere Sinnleere und Unerfülltheit. Die Sehnsucht des Menschen erschöpft sich nicht in der Steigerung seiner technischen Errungenschaften, des Konsums, der Leistung allein und des so genannten Lustgewinns. Ähnliches gilt auch für die Erfolge der Wissenschaft. Wenn die wissenschaftlichen Probleme gelöst sind, fangen die Lebensfragen erst an. Überlässt man die Entwicklung unserer Welt allein den Gesetzlichkeiten des Marktes, der Interessenausgleiche und der politischen Konfliktlösung, so kann Menschlichkeit als Erfüllung und „Sinn" fast aussterben. Es ist nicht zufällig, dass in einer solchen Gesellschaft immer wieder der Verdacht auf Sinnlosigkeit, Wut als Destruktionskraft und Anarchie als Ausdruck einer ohnedies ungeordneten Welt entstehen.
2. Perfekte Mittel, aber verworrene Ziele:
Die 60er Jahre haben die gigantischen Möglichkeiten der modernen Technik durch die Mondlandung auf einen Höhepunkt gebracht. Die nächstliegenden Probleme auf unserem Planeten erscheinen jedoch als kaum lösbar: Beseitigung der Armut und des Hungers; Friedenssicherung in Konfliktzonen; bessere soziale Gerechtigkeit; Eindämmung der Rüstungspolitik; Zerstörung der natürlichen Umwelt; Überwindung unheilbarer Krankheiten; Arbeitslosigkeit; Folgen der Generationenkonflikte, der Rassenunterschiede, konfessionell-religiöser Unterschiede oder politischer Anschauungen. Die Technik hat viele Mittel bereitgestellt. Aber es ist nicht mehr technisch zu steuern, wie die Errungenschaften der modernen Zivilisation der Selbstzerstörung oder einem sinnvolleren menschlichen Zusammenleben dienen können.
3. Entlarvung moderner Heilslehren:
Zur Desillusionierung der gegenwärtigen Weltdeutung trugen auch Entlarvung und Entzauberung neuer Ideologien bei. Hier wäre zunächst vom Szientismus zu reden, der die Wissenschaft zur obersten und uneingeschränkten Leitungsinstanz aller menschlichen Fragen und Nöte einsetzen wollte und glaubte, auf eine Ethik weitgehend verzichten zu können. Hinzu kommt die Entmythisierung der „irdischen Paradiese" in der angeblich klassenlosen Gesellschaft. Die Glückseligkeit, die im Vergessen und im Rausch der Drogen verheißen wurde, hat sich als gähnende und manchmal tödliche Leere entpuppt. Viele Versuche sexueller „Emanzipation" brachten neue Abhängigkeiten und vermehrten - zumeist unsichtbar - das Leid.
4. Grenzen des Wachstums:
Die „Stunde der Wahrheit" rief auch noch von einer ganz anderen Seite her zur Besinnung. Der Mensch hat durch rücksichtslosen Abbau von Rohstoffen sich einer Verschwendungswirtschaft angenähert. Es dämmert die Erkenntnis, dass die Ressourcen knapp sind, und der Mensch zusehends mehr den Mangel als seinen Reichtum verwalten muss. Der Schock bezieht sich dabei nicht nur auf die erreichten Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums in unseren Ländern, sondern auf die geringen Chancen für eine baldige Entwicklung der Länder der Dritten Welt und auf die eingeschränkten Möglichkeiten für den Wohlstand unserer Nachfahren. Woher aber soll der Zwang zur Umorientierung, die Horizonterweiterung, die Änderung unserer Wertmaßstäbe und das notwendige Umdenken kommen?
Dies scheint mir das geistige Klima zu sein, in dem der Aufbruch der Sinnfrage zu finden und in gewisser Weise auch schon zu deuten ist. Noch viele andere grundlegende Probleme der modernen Gesellschaft, die nicht oder nur indirekt in den besprochenen vier Dimensionen enthalten sind, könnten genannt werden: Die Vorherrschaft einer einseitigen Rationalität; die Übermacht von Sachgesetzlichkeiten und Bürokratie; Reduktion und Entpersönlichung des Menschen; Verzicht auf seine „Seele"; Instrumentalisierung der Lebensvorgänge; Auflösung gemeinschaftlicher Bindungen; Mangel an Vertrauen. Ein Teil der Phänomene und Zeichen in diesem Aufbruch der Sinnfrage und des religiösen Geistes wurde bereits genannt, so z.B. das erwachte Interesse für Meditation und Spiritualität. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige weitere Beispiele genannt: Neues Interesse für die Gestalt Jesu Christi, weit über die inzwischen eher wieder verklingende Jesus-People-Bewegung hinaus. Es seien nur einige Kurzformeln erwähnt: „Schalt um auf Jesus! Er liebt dich. Jesus gibt deinem Leben einen Sinn". „Jesus schenkt Befreiung von Angst, Einsamkeit und Sinnleere." Die charismatischen Gruppen in den christlichen Kirchen sind ebenso zu nennen wie die Faszination von Taizé für viele Jugendliche. Dass dabei dieser manchmal nur ungenau beobachtete Aufbruch der Sinnfrage und des religiösen Geistes nicht von selbst in die Kirchen als die institutionellen Bewahrer und Hüter der Religiosität zurückführt, zeigen die neuen Jugendreligionen, die Erneuerung fernöstlicher Religionen und Meditationstechniken sowie das gesteigerte Interesse für alle Vorgänge im parapsychologischen Bereich: Hellsehen, Telepathie, Spuk, außersinnliche Wahrnehmung, Okkultismus, Astrologie und mannigfache Formen des Aberglaubens. Szientismus und Spiritismus gehen dabei eine nicht selten überraschende Ehe ein. Aber es dürfen auch ungeheuerliche Phänomene wie Satanskult und Mordrituale nicht vergessen werden.
Die Sinnfrage ist darum wohl verdrängt worden, weil es immer schwerer wurde, das Ganze des menschlichen Daseins überhaupt noch wahrnehmen zu können. Darum kam auch die Religion selbst in den Strudel der Sinnkrise. Dies hängt wohl entscheidend damit zusammen, dass die Grundfunktion der Religion in der modernen Gesellschaft immer schwerer zu erfüllen ist, nämlich eine alle Lebensbereiche umfassende und überschreitende Orientierung für das ganze Leben sowohl des Einzelnen als auch der menschlichen Gemeinschaft zu geben. Die Funktionalisierung, die Segmentierung, die Spezialisierung und die Auflösung gemeinsamer Grundüberzeugungen in der modernen Welt nagen zusammen mit dem Phänomen der Säkularisierung an den Wurzeln der Bedeutung von Religion überhaupt. „Die Heimatlosigkeit des modernen sozialen Lebens hat ihren verheerenden Ausdruck im Bereich der Religion gefunden. Die durch die Pluralisierung des Alltagslebens und des ganzen Lebensablaufes in der modernen Gesellschaft hervorgerufene kognitive und normative allgemeine Unsicherheit hat die Religion in eine ernste Glaubwürdigkeitskrise gebracht. Die uralte Funktion der Religion inmitten all der Schwierigkeiten des menschlichen Lebens eine letzte Sicherheit zu gewährleisten ist zutiefst erschüttert worden. Wegen der religiösen Krise in der modernen Gesellschaft ist die soziale ‚Heimatlosigkeit‘ metaphysisch geworden sie ist zur Heimatlosigkeit im Kosmos geworden. Das ist sehr schwer zu ertragen."
(P.L. Berger, B. Berger, H. Kellner, Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt 1975, 159).
Anderseits kommt jede Gesellschaft in eine sie selbst tief bedrängende Krise, wenn sie auf ein Minimum an gemeinsamer Sinnorientierung verzichten zu können glaubt und „Sinn" nur in den widerspruchvollen Brechungen und Spiegelungen der pluralistischen Interessen und ethischen Überzeugungen finden möchte. Die Debatte über die „Grundwerte" im deutschsprachigen Raum ist Symptom dieser Krise.
III. Die Not des Glücklichwerdens
Die Suche nach Sinn will Erfüllung finden. Die Hoffnung auf das Glück möchte eines Tages eingelöst werden. Aber wie kann das geschehen? Wer garantiert Glück? Wir müssen wieder auf unsere anfängliche Unterscheidung zwischen „Glück haben" und „glücklich sein" zurück kommen. Alle Güter, die dem Menschen mehr oder weniger durch Lebensschicksal und Lebensumstände zufallen, sind bei näherem Hinsehen eine zweischneidige Sache. Man entdeckt diese jedoch nur, wenn man sie im Blick auf ihre möglichen Folgen für das Ganze des Lebens betrachtet und nicht isoliert: Durch strotzende Gesundheit kann sich jemand in Aktionen verstricken, die böse enden; durch sein Wissen kann er in Abhängigkeit geraten; durch seine Schönheit in schlechte Hände; durch Reichtum in äußere Bedrohung oder auch manchmal in innere Verkommenheit.
Diese Erfahrung warnt uns vor der Vorstellung, man wäre dann ganz glücklich, wenn man bestimmte Lebensinhalte besitzt. Ist es wirklich so selbstverständlich, dass ich mein Glück in diesem oder jenem Lebensinhalt zu finden hoffe? Ist er an sich selbst so beschaffen, dass ich mein Glück guten Mutes auf ihn bauen kann? Wir sollen alle jene Inhalte, die uns von außen zufallen, in unsere konkrete Vorstellung von Glück mit einbeziehen. Aber das Glück ist nicht nur eine Sache, die von ihrem Außenaspekt geklärt werden könnte. Noch entscheidender als Lebensschicksal und Lebensumstände ist die eigene Lebensführung. Glück, das nicht auch von innen kommt, würde bald zerrinnen. Dies ist auch der Grund, warum man letztlich nicht von außen Menschen „glücklich" machen kann, wenigstens nicht auf Dauer. Dies gilt nicht zuletzt auch für die politischen Programme und die Politik. Wer dem Menschen Glück verspricht, teilt entweder eine Selbstverständlichkeit mit, weil alle Menschen nach Glück streben, oder aber er vergewaltigt die freie Entscheidung des Menschen zu seinem Glück, indem er den Menschen auf bestimmte Inhalte festlegt, über die er nur selbst zu entscheiden vermag. Darum nimmt er ihm zugleich ein Stück seiner Freiheit und auch ein Stück seines Glücks.
Wenn dies wahr ist, dann wird auch deutlich, warum man das Glück nicht einfach machen kann. Man kann auch nicht glücklich werden, indem man unmittelbare Ansprüche auf Glück stellt. Die großen Denker haben hier auf eine besonders wichtige Eigenart des Glücklichseins aufmerksam gemacht. Man kann, wie wir aus unserer eigenen Erfahrung wissen, Freude, Glück und Seligkeit nicht direkt ansteuern. Bestenfalls sind dann „gute Stimmung" und vielleicht auch Ausgelassenheit das Ergebnis. Freude und Glück stellen sich auf dem Rücken von Handlungen ein, die auf ganz andere Inhalte zielen. Glück und Freude erscheinen indirekt, wenn uns das Gute glückt. Vielleicht haben wir heute so wenig Glückserfahrung und so viel Glücksansprüche in unserer Gesellschaft, weil wir uns das Glück auf dem leichtesten Weg, nämlich in direktem Zugriff, erobern wollen. Aber dies liegt dann alles in der Dimension des „Habens". Wirklich glücklich sein kann man nur, wenn man auch mit sich selbst einig ist.
Wir haben verschiedene Glückserfahrungen. Einer ist glücklich bei einigen ruhigen Stunden der Muße und des Nachdenkens; glücklich kann man sein bei einem Mahl unter Freunden; glücklich kann man auch beim Eintreten eines Erfolgs sein, um den man lange gekämpft hat; eine wertvolle Einsicht kann uns glücklich machen; das Einvernehmen in der Liebe kann Glück schenken; unerzwungene Hilfeleistung für einen bedürftigen Menschen kann Glück schenken. Wir erfahren vor allem in solchen Gestalten unseres Lebens das Glücklichsein. Unsere Sprache gibt uns jedoch einen wichtigen Hinweis zum Weiterdenken. „Glück" gibt es nicht in der Mehrzahl, also „Glücke". Wohl gibt es einzelne Glücksfälle, die aber eher auf Glückhaben verweisen. Irgendwie ist das menschliche Glück unteilbar. Alle einzelnen Glücksinhalte und Glücksmomente sind in dem vollen Sinn des Wortes und der Sehnsucht „Glück" zusammengefügt. Jede einzelne Glückserfahrung, wie wir sie eben genannt haben, ist immer nur so etwas wie eine Abschlagszahlung. Sie deckt, für sich genommen, noch nicht den vollen Inhalt von „Glück".
Damit ist auch der Punkt erreicht, wo Glücklichsein und Sinnerfahrung zusammengehören. Das Glücklichsein auch wenn es sich in kleinen Schritten und unscheinbaren Gestalten ereignet offenbart, dass Sinn nicht erst in einer unerreichbaren Ferne liegt, sei es ein von dieser Erde völlig getrenntes Jenseits oder die Menschheitszukunft. Glück und Sinn, beide nur in der Einzahl sagbar, sind jedoch Totalitätsbestimmungen. Hinter der Sinnfrage ist nämlich die Grundentscheidung des Menschen verborgen, sein Leben so zu führen, dass sich das Dasein in den alltäglichen Aufgaben sowie auch im Ganzen lohnt, dass es auch in den schwierigsten Situationen trägt und in dieser Sinnerfüllung dem Menschen die Möglichkeit gewährt, sich mit sich selbst und seiner Welt grundsätzlich zu identifizieren.
Glücksverlangen und Suche nach Sinn treffen sich auch darin, dass beide zunächst unbestimmte Begriffe sind, die der Einzelne in dieser oder jener Form mit Inhalt füllen muss. Jede gehaltliche Füllung dieser Begriffe schließt aber zugleich eine Vorentscheidung über die Grundrichtung des eigenen Lebens ein. Auch darum ist der Mensch nicht nur ein Spiel des Zufalls. So sehr die Lebenssituation mit ihren Umständen der Herkunft, Bildung und sozialer Stellung das menschliche Dasein prägen kann, wie tief auch Schicksalsschläge, das Glück eines einzelnen Menschen verfinstern können, ausschlaggebend für das Glück sind letzten Endes nicht die äußeren Faktoren. Darum können auch gerade einfache, ja arme Menschen glücklich sein. Auf einer unteren Stufe hat Glück sicher mit dem Wohlstand etwas zu tun. Aber wenn die äußere Not gelindert ist, dann tritt bald der Unterschied zwischen äußerem Wohlergehen und Glücklichsein hervor. Von einer bestimmten Stufe an sagt Lebensstandard nicht mehr viel aus über das faktische Glücklichsein der Menschen. Dies ist auch eine Grenze jeder Entwicklungsarbeit. Es ist keineswegs sicher, dass wir durch den Import unseres Wohlstandes und unserer Lebensgewohnheiten Menschen der so genannten Dritten Welt schon glücklich machen.
IV. Seligkeit und Gottesfrage
Der Inhalt des Glücks und die Erfüllung des Sinnverlangens können sehr verschieden sein. Der eine kämpft um Gerechtigkeit in der Welt; der andere verzehrt sich im Einsatz für das größere Wohl der Menschen; der dritte versucht unermüdlich Frieden zu stiften; wieder ein anderer führt einen lebenslangen Kampf mit dem Leid und der Krankheit des Menschen. Alle diese Gestalten der Suche nach Sinn müssen sich jedoch früher oder später einer immer schon gegenwärtigen, wenn auch zumeist verborgenen Herausforderung stellen. „Sinn" und „Glück" müssen der Frage standhalten, ob sie auch helfen, notvolle und bedrohliche Lebenssituationen zu bewältigen. Dies geschieht vor allem in den Kontingenzerfahrungen. Es genügt nicht, dass diese uns zum Bewusstsein gebracht werden. Sinn ist nicht identisch mit bloßer Erkenntnis oder gar nur mit Intelligenz. Darum reden wir auch von Sinnerfahrung, die uns geschenkt werden muss.
Wo die moralische und physische Integrität des Menschen verletzt wird, so z.B. in den Ereignissen von Schuld, Vereinsamung, Leiden, Krankheit und Tod, enthält das Versprechen von „Sinn" zugleich die Gewährung von Trost. Sinn bedeutet in solchen Situationen, dass der Mensch in ihnen oder ihnen gegenüber einen letzten Halt findet. Auch wenn er diese Unheilserfahrungen nicht schlechterdings beseitigen kann, so werden sie durch den Trost, der im Sinnversprechen liegt, erst eigentlich „erträglich". Diese Struktur zeigt aber in eins mit dem soeben Gesagten ganz deutlich, dass Sinn vom Menschen nicht einfach produziert wird. Er muss ihn zwar suchen, aber wenn er ihn findet, erweist er sich letztlich als das dem Menschen Gewährte, als eine Gabe.
Weil dies so ist, genügt es auch nicht zu sagen, das Glücklichsein beruhe ganz auf der ethischen Substanz des Menschen. Wenn dies heißen soll, Glücklichsein hänge nicht einfach von äußeren Faktoren ab, so ist dies sicher richtig. Aber man kann nicht übersehen, dass der Mensch auch daran irrewerden kann, dass er immer das Glück nur in eingeschränkter Weise erreichen kann. Darum liegt auch über vielen ethisch hochstehenden Theorien des menschlichen Glückverlangens eine heimliche Trauer und oft tiefe Schwermut. Es handelt sich dabei nicht um die Melancholie der „Erfüllung", von der wir eingangs sprachen. Es geht vielmehr um die Sinnfrage überhaupt: Was ist der Mensch, wenn jedes denkbare Glück überholbar und gefährdet bleibt? Ist der Mensch am Ende doch falsch konstruiert? Wenn er das Glück nur in unvollkommener Weise erreicht, haben dann nicht Vergeblichkeit, Angst und Trauer das letzte Wort?
Der biblische Glaube will auf diese Ausweglosigkeiten eine tröstende Antwort geben. Er verheißt, dass es trotz aller intensiven diesseitigen Glückbefriedigung Leben im Vollsinn nur in dem geben kann, was wir Gott nennen. Nur er gewährt eine Seligkeit, die immer größer ist als jeder menschliche Hunger, und die darum nicht stets neuer Sensationen und rasch wechselnder Interessen bedarf. Vielleicht versteht man von hier aus am besten die klassische Kennzeichnung, dass die Erfüllung des menschlichen Glückstrebens „jenseitig" ist. Hier geht es um die Erreichung eines Zieles, das der menschlichen Sehnsucht entgegenkommt, sie jedoch zugleich unendlich übertrifft. Dieses Glückstreben verachtet nicht die geschichtliche Erfahrung des Menschen. Es kennt die Härte der Geschichte, ja Gott hat in Jesus alle Schicksalsschläge der Menschen auf sich genommen. Da er aber in Anfeindung, Leid und sogar im Tod nicht untergegangen ist, hat er auch für das Leben der Menschen einen letzten Sinn gerettet. Auch das kleine, unvollkommene Glück macht nun nicht mehr heimlich traurig, sondern erweist sich als ein Gleichnis des immerwährenden Glücks. Die Gelassenheit weiß, dass auch dieses Glück nicht festgehalten werden kann. Glück kann unter den Bedingungen unserer Sterblichkeit nie fixiert und darum auch nie endgültig begrifflich festgelegt werden. Man kann oft eher negativ sagen, was es nicht bedeutet. So wird das wahre Verständnis von Glückseligkeit gewonnen, nämlich eine unaufhörliche Erfahrung mangelloser, leidloser Geborgenheit, die nicht mehr aufgehoben, gemindert oder genommen werden kann. In dieser Erfahrung wurzelt zugleich der klassische Begriff des Ewigen: Ewigkeit ist der zugleich ganze und vollkommene „Besitz" nie beendbaren Lebens. Die Schrift sagt es noch treffender: Kein Ohr hat es je gehört, kein Auge hat es je gesehen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben" (1 Kor 2, 9).
Hier kommt fast so etwas wie „Spiel" zum Vorschein. Wirkliche Gnade hat immer etwas mit der Unableitbarkeit des Spiels zu tun. Sie hat einen Grund in Gott selbst, aber wir können ihn nicht verrechnen oder darüber verfügen. Es bleibt so etwas wie der spielerische Gott, der uns am Ende allein das Glück schenken kann.
Wer nach dem Glück fragt, kommt an kein Ende. Unser Leben ist darum auch ein einziger Roman von der Schwierigkeit, glücklich zu sein. Entscheidend ist, dass wir dieser Schwierigkeiten eingedenk bleiben und sie immer wieder durchbuchstabieren. Nicht zuletzt dann haben wir die Chance, dass nicht die Enttäuschung, sondern das Glück das letzte Wort behält.
Wie weit Glücksspiele daran Anteil haben, hängt ganz gewiss vom Einzelnen ab. Sie sind allein sicher nicht schon von sich aus glückbringend. Dies gilt auch für einen großen Gewinn. Aber sie können ermutigend, stützend und helfend mitwirken am größeren Geschenk wahren Glücks.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Die Heiligsprechung des Opus Dei-Gründers Josemaría Escrivá de Balaguer am Sonntag, 6. Oktober 2002, ist Anlass, um sich mit seiner spirituellen und kirchlichen Gestalt näher zu befassen. Dies ist bei jedem neuen Seligen und Heiligen notwendig. Im vorliegenden Fall ist es jedoch ganz besonders wichtig. Dies ergibt sich nicht so sehr aus dem Grund, dass der im spanischen Kulturkreis gebürtige und davon bestimmte Prälat schon mehr als 27 Jahre tot ist, sondern ein Hauptgrund dafür ist die Tatsache, dass seine Gestalt auch als Seliger und Heiliger von vornherein überdurchschnittlich geprägt ist durch das Vorverständnis, das jemand zu dem von ihm gegründeten Werk, dem Opus Dei, mitbringt. Obwohl die Auseinander-setzung darüber nachgelassen hat, gibt es bis in die jüngste Zeit hinein sehr dezidierte Darstellungen und auch heftige Diskussionen (Vgl. z.B. P. Hertel, Schleichende Übernahme. Josemaría Escrivá, Sein Opus Dei und die Macht im Vatikan, Oberursel 2002 (Publik forum); ders., „Ich verspreche euch den Himmel", Düsseldorf ²1980; K. Steigleder, Das Opus Dei, Zürich (4. Auflage) 1991; Paulus-Akademie (Hg.), Opus Dei – Stoßtrupp Gottes oder „Heilige Mafia"?, Zürich 1992.).
Diese haben auch vor der Heiligsprechung nicht Halt gemacht. Um so notwendiger scheint es mir zu sein, nun einmal sine ira et studio auf die spirituelle Gestalt des Opus Dei-Gründers zurückzukommen.
Die Stoßrichtung der Kritik wird leicht erkennbar aus dem Klappen-Text des Buches von P. Hertel „Schleichende Übernahme". Dort heißt es, gewiss auch in der Intention der Werbung: „Unglaublich, was immer noch geschehen kann: Die Heiligsprechung von Josemaría Esrivá, Gründer des Opus Dei. Eine Absicht seines Geheimbundes ist es, die Macht in der römisch-katholischen Kirche zu erobern. Das unverschmutzte Opus Dei solle als Werk Gottes die nach dem letzten Konzil verschmutzte Kirche reinigen und zur Tradition zurückführen. Weil der Papst nicht nur vom Hl. Geist inspiriert sei, müsse Opus Dei auch diese Lücke füllen. – Peter Hertel... deckt auf, mit welchen Mitteln die straff organisierte Formation sich in den Kommandozentralen festsetzt. Der Machtzuwachs des Geheimbundes ist rasant, der Verwaltungsapparat des Papstes durchsetzt, die Wahl des nächsten Papstes vom Opus Dei ‚gut‘ vorbereitet. Die aufgedeckten Regelverstöße auf dem kirchlich vorgeschriebenen Weg der Heiligsprechung zeigen auf, mit welchen Finessen Opus Dei arbeitet."
Es wird nicht leicht sein, sich ein in jeder Hinsicht ungeschminktes, möglichst vorurteilsfreies Bild zu machen von einem Heiligen, der wie alle anderen Menschen auch schließlich ein Anrecht hat auf die Wahrung des guten Rufes und die Vermeidung von Vorurteilen oder gar Vorverurteilungen. Ich sehe in der möglichst unbefangenen Darstellung des Lebens und Wirkens, vor allem auch der spirituellen Gestalt Escrivás die einzige Möglichkeit, durch diese Vorurteile und Verzerrungen hindurch zur authentischen Gestalt durchzustoßen. Dies soll in diesem Beitrag versucht werden. Man kann auf die Dauer das spirituelle Profil – die kleine Schrift „Camino" ist in über 40 Sprachen übersetzt und in über vier Millionen Exemplaren verbreitet – nicht einfach übergehen.
Als Voraussetzung zur Erfassung der spirituellen Gestalt mag es gut sein, zuerst die wichtigsten Daten der Biographie von Josemaría Escrivá zu erwähnen. Er hat in der Zeit von 1902 bis zu seinem Tod 1975 eine für Europa und besonders für Spanien schwierige Zeit durchlebt, mit zwei Weltkriegen und dem Spanischen Bürgerkrieg der Jahre 1936 bis 1939. Er ist am 9. Januar 1902 in Barbastro in der spanischen Provinz Aragón als zweites Kind von José Escrivá y Corzán und Maria Dolores Albás Blanc geboren worden. Die Schwester Carmen war um drei Jahre älter. Der Vater besaß einen Tuchladen und eine kleine Schoko-ladenfabrik. Mit zwei Jahren war der Junge so schwer erkrankt, dass die Ärzte ihn bereits aufgegeben hatten. Die Eltern gelobten im Fall seiner Genesung eine Wallfahrt zu dem altehrwürdigen Gnadenbild von Torreciudad. In der Tat wurde das Kind ganz plötzlich und überraschend gesund. Zwischen 1910 und 1915 sterben die drei nach ihm geborenen Schwestern Rosario, Mariá Dolores und Chou im Alter zwischen 9 Monaten und 8 Jahren. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg beginnt er das Gymnasium an einer von Piaristen geleiteten Schule in Barbastro (1912-1915). Zwischen 1915 und 1917 macht der väterliche Betrieb Bankrott. Die Familie zieht weg und übersiedelt nach Logroño.
Um den Jahreswechsel 1917/18 hatte der Fünfzehnjährige ein Erlebnis, das sein Leben entscheidend prägen sollte. Er entdeckt im Schnee die Fußspuren eines Unbeschuhten Karmeliten. Sie wecken in ihm den Wunsch nach einer großherzigen Bereitschaft für Gott.
Es ist das erste Ahnen einer Berufung. Er entschließt sich, Priester zu werden. Er beginnt im Jahr 1918 das Theologiestudium als Externer im Priesterseminar in Logroño. Der Wunsch wurde immer lebendiger, das Leben auf irgendeine Weise großzügig für Gott einzusetzen. Aber er wusste noch nicht, wohin ihn dieser Ruf führen könnte. 1919 wird der sehnlich von ihm selbst erwartete Bruder Santiago geboren. Dieser sollte, wenn Josemaría Priester wird, seinen nun leeren Platz für die Familie ersetzen.
Nach Abschluss der Studiengänge in humanistischer Kultur und Philosophie wechselt er von 1920 bis 1927 zur Fortsetzung des Theologiestudiums an die Päpstliche Universität von Saragossa. Der Weg zum Priestertum und besonders zum Diözesanpriester war nicht selbstverständlich. Lange hatte er überlegt, ob er nicht in den Karmel eintreten sollte. Einige Zeit zog es ihn jedoch zur Architektur hin. Er achtete das Priestertum. „Zu Hause hatte ich gelernt, dass Priestertum zu achten und zu ehren. Aber das war nichts für mich, das war etwas für andere!" (D. M. Helming, Fußspuren im Schnee. Josemaría Escrivá. Gründer des Opus Dei, St. Ottilien 1991, 13.) Deshalb war auch sein Vater ziemlich überrascht und erstaunt. „Eines guten Tages sagte ich meinem Vater, dass ich Priester werden wollte. Es war das einzige Mal, dass ich ihn weinen sah. Er hatte zwar andere Pläne für mich, widersetze sich aber nicht. Er sagte nur: Mein Sohn, überlege dir das gut. Die Priester müssen heilig sein. Es ist sehr hart, kein Zuhause und keine irdische Liebe zu haben. Denke noch einmal darüber nach. Aber ich werde mich nicht widersetzen." ( Ebd., 13f.)
Josemaría war ein hervorragender Student der Theologie. Er wuchs auch in seinem inneren Leben. Täglich besuchte er das Gnadenbild der Mutter Gottes vom Pilar. Viele Nächte verbrachte er still für sich auf einem Balkon mit Sicht auf das Allerheiligste in der Seminar-Kirche. Er fastete oft, schlief auf dem Fußboden und verrichtete andere Werke der Buße, um sich Gott auch im Blick auf seinen Leib ganz verfügbar zu halten.
Wenige Monate vor der Priesterweihe starb plötzlich sein Vater am 17. November 1924. Der beispielhafte Einsatz des Vaters für die Familie hat Escrivá tief geprägt. Die Eltern erzogen den Sohn in großer Freiheit. Er wird später einmal sagen, dass er seinem Vater die Berufung verdankt und dass er jeden Morgen und jeden Abend die Gebete spricht, die er von seiner Mutter gelernt hat. Kaum übertreffbare Worte findet er über die Mütter, die „wirklich heroisch sind, auch wenn sie niemals spektakulär in Erscheinung treten. Sie machen keine Schlagzeilen – wie man so sagt –, aber sie opfern sich immer wieder auf, sie stellen freudig ihre Wünsche und Neigungen zurück, sie verschenken ihre Zeit oder verzichten auf Selbstbehauptung und auf mögliche Erfolge, damit ihre Kinder glücklich sind." ( Ebd., 15.)
Am 28. März 1925 wurde Josemaría zum Priester geweiht und feierte zwei Tage später in der Mutter Gottes-Kapelle der Kathedrale in Saragossa seine Primiz. In dem kleinen Dorf Perdiguera auf dem Lande übernahm er die Vertretung des erkrankten Pfarrers. Er lernte das harte, schwere Leben der kleinen Leute, aber auch des Landpfarrers kennen. Wie in Spanien oft üblich, holte er seine Familie, nämlich Mutter, Schwester und Bruder, nach Saragossa. Sie sollten ihn aber selten sehen. Denn im Jahr 1923 hatte er bereits ein Zusatzstudium der Rechtswissenschaften an der staatlichen Universität von Saragossa begonnen. Im Januar 1927 macht er dort das juristische Abschlussexamen und übersiedelt bald danach nach Madrid, um seine Studien mit dem Doktorrat im Zivilrecht abzuschließen, was dann erst 1939 gelingt. Er hatte dieses Studium mit Billigung seines Vaters im Jahr 1923 begonnen. Der Vater sah darin wohl so etwas wie eine zusätzliche Sicherheit. In Saragossa arbeitet er auch in der Krankenseelsorge. Gleichzeitig hat er eine Dozentur für Römisches Recht und für Kirchenrecht an einer Akademie inne. Außerdem gibt er Privatstunden, um seine Familie unterstützen zu können. Schließlich kümmerte er sich mit einigen Mitstudenten, wie schon in Saragossa, so auch jetzt in Madrid um sozial Schwache und Schwerkranke. Den Waisen- und Straßenkindern erteilte er Katechismus- und Erstkommunionunterricht. Zugleich ist er Seelsorger für die Lehrenden und Lernenden der Hochschule. Josemaría war ein gebildeter, gewandter und trotz seiner durchlöcherten Schuhe ziemlich eleganter junger Mann. Seine Studenten konnten kaum glauben, dass er sich mit dem „Proletariat" abgab. Sie haben ihm nachspioniert – er ging tatsächlich zu den Randsiedlern.
Im Grunde wartete Josemaría jedoch immer noch auf einen Wink des Herrn, um Klarheit über seine Berufung zu finden. Dies sollte sich bald ändern. Am Schutzengelfest (2.10.) des Jahres 1928 beschäftigt er sich während einiger Besinnungstage nochmals mit seinen geistlichen Notizen aus den letzten zehn Jahren. Wie er selbst berichtete, „sah" er dabei plötzlich in seiner vollen Gestalt das, was später „Opus Dei" heißen sollte. Er bleibt später mit Informationen über dieses Ereignis ziemlich zurückhaltend, aber es ist kein Zweifel, dass der 26jährige Priester hier die geistliche Geburt der von ihm gegründeten Gemeinschaft erfahren durfte.
Es ist auch zugleich der „Kern" dieser Botschaft erkennbar: Menschen aus allen Berufen und sozialen Situationen sollen inmitten ihres alltäglichen Tuns nach der Fülle des christlichen Lebens streben. Er sollte diesen Laien den göttlichen Ruf bewusster machen und Wege der Heiligung in der beruflichen Arbeit und in der Erfüllung der gewöhnlichen Aufgaben der Christen weisen. Hier liegt auch das Zentrum seiner Botschaft, die er im Jahr 1966 in einem Interview mit der New York Times folgendermaßen formulierte: „Der Geist des Opus Dei greift die herrliche, jahrhundertelang von vielen Christen vergessene Wirklichkeit auf, dass jede Arbeit, die im Menschlichen lauter und rechtschaffen ist, zu einem göttlichen Tun werden kann. Wenn man Gott dienen will, gibt es keine belanglosen oder zweitrangigen Arbeiten: alle sind von größter Bedeutung. – Um Gott zu lieben und ihm zu dienen, ist es nicht nötig, auffallende Dinge zu tun. Alle Menschen ohne Ausnahme ruft Christus auf, vollkommen zu sein wie ihr himmlischer Vater vollkommen ist (vgl. Mt 5,48). Heiligwerden bedeutet für die überwiegende Mehrzahl der Menschen, ihre eigene Arbeit zu heiligen, sich in dieser Arbeit selbst zu heiligen und die anderen durch die Arbeit zu heiligen, damit sie täglich auf dem Weg ihres Lebens Gott begegnen. – Die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung, die eine immer stärkere Bewertung der Arbeit mit sich bringt, erleichtert offensichtlich den Menschen unserer Zeit das Verständnis für diesen Aspekt der christlichen Botschaft, den die Spiritualität des Opus Dei so sehr hervorhebt. Entscheidend aber ist das Wehen des Heiligen Geistes, der in seinem lebensspendenden Wirken unserer Zeit zum Zeugen einer tiefen Erneuerung im ganzen Christentum hat machen wollen. Liest man die Dekrete des Zweiten Vatikanischen Konzils, so erscheint als ein wichtiger Teil dieser Erneuerung gerade die neue Wertschätzung der gewöhnlichen Arbeit und der Würde der Berufung zu einem christlichen Leben und Arbeiten mitten in der Welt."( Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, Köln 1969, 4. Auflage 1992, 84f. Die in diesem Band gesammelten Interviews aus den Jahren 1966-1968 geben einen ausgezeichneten Einblick in Leben und Werk von Josemaría Escrivá.)
Offensichtlich konnte der noch erstaunlich junge Priester diese Vision anderen von Anfang an mit äußerster Klarheit vor Augen führen. Sie war auch nicht an eine konkrete historische Situation gebunden, obgleich es immer um die Umsetzung der empfangenen Botschaft vor Ort und in der konkreten Zeit ging. Er war überzeugt, dass es dafür eigentlich nur zweier Mittel bedarf, nämlich das Kreuz und das Evangelium. Nun erfolgt rasch der Ausbau dessen, was er in der Vision gesehen hatte. Bereits im Jahr 1930 wird ihm deutlich, dass zum Opus Dei Frauen gehören sollten. Es wäre aufschlussreich, der Bedeutung und Stellung der Frau näher nachzugehen. Die ersten Berufungen kommen. Das erste Apostolische Werk, die Akademie DYA, wird in Madrid eröffnet. Die ersten wichtigen Schriften erscheinen im Jahr 1934: „Geistliche Betrachtungen" und „Der heilige Rosenkranz", das erste ein Vorläufer des Camino, der Rosenkranz erschien mit über 100 Auflagen in 20 Sprachen.
Während des Bürgerkrieges, der am 18. Juli 1936 ausbricht, bleibt Josemaría Escrivá unter Lebensgefahr in Madrid. Im September 1937 besorgt er sich über den Konsul von Honduras die nötigen Dokumente, um Spanien verlassen zu können. In einem Gewaltmarsch überquert er die Pyrenäen und trifft am 2. Dezember 1937 über Andorra in Frankreich ein. Während des Bürgerkriegs, der am 28. März 1939 endet, lebt er eine Weile in Burgos und nimmt zunächst von dort die Apostolische Arbeit wieder auf. Nach dem Krieg ist er wieder in Madrid. Ein wichtiger Einschnitt ist die Approbation des Opus Dei am 19. März 1941 als „Fromme Vereinigung" (pia unio). Bald darauf gründet er die „Priesterliche Gesellschaft vom Hl. Kreuz", die eng mit dem Opus Dei verbunden ist. Am 22. April stirbt unerwartet seine Mutter. Am 11. Oktober 1943 erhält das Opus Dei die erste Approbation vom Hl. Stuhl. 1944 werden die ersten aus den Opus Dei hervorgegangenen Priester geweiht, darunter auch der spätere Nachfolger von Josemaría Escrivá, der lange Zeit mit ihm zusammenarbeiten sollte: Don Alvaro Del Portillo. Alle drei Neupriester waren Ingenieure. Als 1947 die Säkularinstitute offiziell kirchlich gegründet werden (Vgl. dazu G. Pollak, Der Aufbruch der Säkularinstitute und ihr theologischer Ort, Vallendar 1986.), erhält auch das Opus Dei die Zulassung nach dieser neuen Form geistlichen Lebens. Der Gründer ist nicht glücklich über diese Form, aber sie ist das, was unter den gegebenen Möglichkeiten am ehesten seiner Vision entspricht.
Rasch erfolgt der weitere weltweite Ausbau der Gemeinschaft. Seit 1946 lebt Josemaría Escrivá als Generalpräsident des Opus Dei in Rom. Der Gründer wird öfter vom Papst Pius XII in Privataudienz empfangen. 1948 wird das „Collegium Romanum Sanctae Crucis" als Studienzentrum eröffnet, in dem Tausende aus allen Ländern der Welt ihre geistliche Bildung erhalten. Es ist vor allem für die Priester gedacht. Im Jahr 1950 gewährt Papst Pius XII. dem Opus Dei die endgültige Approbation. 1952 beginnt in Pamplona der Aufbau der Universität von Navarra, die dem Gründer bis ans Lebensende ganz besonders am Herzen liegt. Im Jahr 1953 wird das Bildungszentrum auch für die Frauen des Opus Dei eröffnet (Vgl. dazu Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 129-172.) In dieser Zeit dürfen auch Nicht-Katholiken und Nicht-Christen Mitarbeiter werden. Hatte er im Jahr 1939 das Doktorrat in den Rechtswissenschaften erhalten, so wird er im Jahr 1955 an der Päpstlichen Lateranuniversität das Doktorat in Theologie erhalten. 1960 empfängt der neue Papst, Johannes XXIII., den Generalpräsidenten in Audienz. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils wirkt vor allem Don Alvaro Del Portillo als Berater mit (Zum Opus Dei und zum Konzil, vgl. P. Berglar, Opus Dei, Salzburg 1983, 267-278.). Josemaría Escrivá begibt sich in dieser Zeit und danach als Pilger zu vielen europäischen Heiligtümern, übrigens auch nach Guadalupe in Mexiko.
Im Jahr 1975 begeht er in Rom sein Goldenes Priesterjubiläum. Ende Mai führt ihn seine letzte Reise nach Spanien. Wenige Tage nach seiner Rückkehr nach Rom, am 26. Juni, stürzt er in seinem Arbeitszimmer zu Boden und stirbt. Jede Hilfe, die ihm noch zuteil wird, ist vergeblich. Anderthalb Stunden dauerte der Kampf um sein Leben. Sein Leichnam ruht in der Krypta der Kirche Maria vom Frieden im Zentralsitz der Prälatur in Rom.
Bald nach seinem Tod entsteht eine große Wallfahrt zu seinem Grab. Es sind besonders viele junge Menschen. Die Pilger kommen aus allen Erdteilen. Bereits am 12. Mai 1981 wird der Seligsprechungsprozess eröffnet, der 1986 auf der Diözesanebene abgeschlossen und am 17. Mai 1992 durch die feierliche Seligsprechung zu Ende geführt wird.
Im Jahr 1982 gibt Papst Johannes Paul II. der Öffentlichkeit seine Entscheidung bekannt, das Opus Dei als Personalprälatur zu errichten. Mit der Apostolischen Konstitution „Ut sit" vom 28. November kommt die juristische Suche nach einer angemessenen kirchlichen Organisations-Gestalt des Opus Dei an ein Ende. Es ist die rechtliche Form, die Josemaría Escrivá immer gesucht und gewünscht hatte. Die Personalprälatur, angeregt durch das Dekret über Dienst und Leben der Priester des Zweiten Vatikanischen Konzils (PO 10), soll für Weltpriester eine eigene Möglichkeit der Inkardination schaffen, um deren mobilen und flexiblen Einsatz zu ermöglichen. Eine endgültige Regelung erfolgt einerseits im Motu proprio „Ecclesiae Sanctae" und anderseits im Rahmen des neuen Kirchenrechtes (vgl. cc. 294-297 CIC). Damit können auch im Jahr 1983 die Statuten der Prälatur vom Hl. Kreuz und Opus Dei erlassen werden. (Näheres dazu bei A. de Fuenmayor u.a., Die Prälatur Opus Dei. Zur Rechtsgeschichte eines Charismas. Darstellung, Dokumente, Statuten = Münsterischer Kommentar zum CIC, Beiheft 11, Essen 1994 (Übersetzung aus dem Spanischen, wo das Werk 1989 erschienen ist), 4. Auflage, Navarra 1990. In diesem Band sind auch alle wichtigen Dokumente abgedruckt: 513-679. Die Statuten wurden auch eigens herausgegeben: Rom 1982.)
Die Personalprälatur besteht aus Weltpriestern und ist geprägt durch ihren Zweck. Das Personalbistum ist eine Diözese, deren konstitutiver Teil des Gottesvolkes neben dem Territorium durch eine personale Kategorie umschrieben ist (vgl. can. 372 § 2 CIC). Die Personalprälatur ist ein eigenständiger, zweckgebundener, für die Weltgeistlichen bestimmter Inkardinationsverband, den es nur in der lateinischen Rituskirche gibt. Zur Personalprälatur gehören also die in ihm inkardinierten Priester, aber auch die der Prälatur eingegliederten Laien. Alle vereint eine einzige Berufung, ein Geist, ein Ziel, eine Leistung. Das Opus Dei ist bisher die einzige Einrichtung mit dieser Bezeichnung. Sie weicht in ihrer Struktur von der im CIC vorgezeichneten Gestalt ab. Die Diskussion über diese Form einer Gemeinschaft, die weder dem Ordensstand noch dem Säkularinstitut entspricht, geht weiter.
Die Seligsprechung hatte ein großes Echo. So wurde der Ruf nach einer Heiligsprechung immer lauter. In der Tat konnte Johannes Paul II. bald nach der Feier des 100. Geburtstages von Josemaría Escrivá am 6. Oktober 2002 unter großer Anteilnahme die Heiligsprechung vollziehen. (Zur Selig-sprechung vgl. den Bildband: Geh ein in die Freude deines Herrn. Seligsprechung von Josefmaria Escrivá, Gründer des Opus Dei, Köln 1992. )
Viele Veröffentlichungen des Gründers erschienen nach dem Tod und haben in vielen Sprachen sehr hohe Auflagen erreicht. Die wichtigsten Bücher sind: Der Weg (Köln 1983); Die Spur des Sämanns (Köln 1986); Im Feuer der Schmiede (Köln 1987); Christus begegnen (Köln 1981); Freunde Gottes (Köln 1980); Der Kreuzweg (Köln 1981); Der Rosenkranz (Köln 1976 u.ö.). Im Zusammenhang der Heiligsprechung begann auch das Erscheinen der bisher umfangreichsten, auf drei Bände berechneten Biographie von Andrés Vásquez de Prada. (Der Gründer des Opus Dei. Josemaría Escrivá. Eine Biographie. Band 1: Die frühen Jahre (Köln 2002). Dieser Band endet mit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs 1936. Band 2 soll die Jahre 1936 bis 1945, Band 3 die Jahre 1945 bis 1975 umfassen. Zum 100. Geburtstag und zur Heiligsprechung erschien ein wichtiger Band „Josemaría Escrivá. Profile einer Gründergestalt", herausgegeben vom früheren Prälaten der deutschen Region, César Ortiz, Köln 2002.)
Mit dieser biographischen Skizze sind zugleich auch die Umrisse der spirituellen Gestalt von Josemaría Escrivá sichtbar geworden. Nach langer Zeit des Wartens ist, so haben wir gesehen, bei der entscheidenden Vision vom 2. Oktober 1928, die Grundintuition mit großer Deutlichkeit erkennbar geworden. Ein Kern liegt in der Aussage, „dass jede Arbeit, die im Menschlichen lauter und rechtschaffen ist, zu einem göttlichen Tun werden kann. Wenn man Gott dienen will, gibt es keine belanglosen oder zweitrangigen Arbeiten: alle sind von größter Bedeutung. – Um Gott zu lieben und ihm zu dienen, ist es nicht nötig, auffallende Dinge zu tun". Es gibt viele Interpretationen, um das damit Gemeinte näher zu entfalten. (Vgl. dazu P. Berglar, Opus Dei, 278ff.; V. Messori, Der „Fall" Opus Dei, Aachen 1995 (italienische Ausgabe: Mailand 1994), C. Ortiz (Hg.), Josemaría Escrivá, 123, 225ff., 253ff., 311ff., 347ff.; D. Le Tourneau, Das Opus Dei, Stein am Rhein 1987, 49ff.; P. Rodgríuez u.a., Das Opus Dei in der Kirche, Paderborn 1997, 107ff., 159ff.; )
Vielleicht ist das Wort von der „neuen Weltverantwortung", das wir auch im Titel benutzen, noch zu künstlich und anspruchsvoll für das Elementare, das in dieser Spiritualität zum Ausdruck kommt. Escrivá geht davon aus, dass der Christ ein unbefangeneres, freilich keineswegs naives Verhältnis zur Welt und zu seiner Arbeit gewinnen muss.
Hier setzt er sich am stärksten von den klassischen Orden ab. Er bestreitet entschieden und grundlegend, dass nur derjenige ein ganz auf Gott gerichtetes Leben führen kann, der auf irgendeine Weise Abstand von der Welt hält, so z.B. durch Klostermauern, Gelübde, Ordenskleid und auch Ordensregeln. Er sah es als falsch an, dass das eigentliche christliche Leben faktisch oft gleichgesetzt worden ist mit der Abgeschiedenheit von der Welt, wie dies ein Ideal vieler Ordensgemeinschaften war. Auch die Weltpriester haben nach Escrivá ihr persönliches religiöses Leben weitgehend in dieser Richtung, wenn auch in abgemilderten Formen, orientiert. Weil der Laien-Christ oft noch stärker Versuchungen und Zerstreuungen ausgesetzt ist, hat man ihm ein Leben nach dem Evangelium gar nicht zugetraut und ihn nicht selten als einen „Christen zweiter Klasse" gesehen, der die bedingungslose Nachfolge Jesu Christi nicht beschreiten könne. Die Laien selbst haben sich nach Escrivá dieser negativen Vorstellung zu lange gebeugt.
Diese Tradition prägte – gewiss mit Ausnahmen – nach Escrivá die ganze katholische Kirche. Es scheint, dass sie im Spanien der 20er und 30er Jahre besonders krasse Formen angenommen hatte. Es liegt also gewiss etwas Revolutionäres darin, wenn Escrivá sich mit solchen Argumenten nicht mehr mit einer ausgedünnten Ordensspiritualität für Laien abfinden möchte. Er traut der Gnade Gottes im Wirken vieler Laienchristen mehr zu. So hat Escrivá ganz grundlegend die Berufung jedes Christen in den Vordergrund gestellt. Wiederum ist hier das Time-Interview vom 15. April 1967 aufschlussreich: „Am ehesten ist das Opus Dei zu verstehen, wenn man sich das Leben der ersten Christen vergegenwärtigt. Sie lebten ihre christliche Berufung mit uneingeschränkter Hingabe; sie suchten ernsthaft jede Vollkommenheit, zu der sie durch die einfache und erhabene Tatsache der Taufe gerufen waren. Äußerlich unterscheiden sie sich nicht von den anderen Leuten. Die Mitglieder des Opus Dei sind normale Menschen, die einer normalen Arbeit nachgehen und in der Welt als das leben, was sie sind: als christliche Staatsbürger, die den Forderungen ihres Glaubens ganz entsprechen wollen." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 50. Vgl. auch ebd., 49ff., 77ff., 87ff.) Kann man nicht verstehen, dass dieses Programm, auch wenn es vielleicht manchmal missverständlich umgesetzt wurde, viele Menschen anzog und anzieht?
Die Unbefangenheit dieser Worte kann leicht täuschen. Es handelt sich keineswegs um eine naive Zuwendung zur Welt. Der Gründer war sich vollkommen klar, dass derjenige, der mehr in der Welt lebt, um so tiefer die Wurzeln seiner Existenz in Gott erfahren muss. Nicht zur Abkehr von der Welt ist der Laien-Christ gerufen, sondern zu ihrer verantwortlichen Gestaltung im Sinne des Schöpfers. Immer wieder kommt die Formulierung vor: sich durch seinen Beruf heiligen, seinen Beruf heiligen und die anderen durch den eigenen Beruf heiligen. Im Jahr 1967 formuliert Escrivá diese grundlegende Überzeugung in einer Predigt mit folgenden Worten: „Für euch, Männer und Frauen der Welt, steht jede Flucht vor den ehrbaren Wirklichkeiten des alltäglichen Lebens im Gegensatz zum Willen Gottes... Gott ruft euch auf, ihn gerade in den materiellen, weltlichen Aufgaben des menschlichen Lebens und aus ihnen heraus zu dienen. Im Labor, im Operationssaal eines Krankenhauses, in der Kaserne, auf dem Lehrstuhl einer Universität, in der Fabrik, in der Werkstatt, auf dem Acker, im Haushalt, in diesem ganzen, unendlichen Feld der menschlichen Arbeit wartet Gott Tag für Tag auf uns... Es tut unserer Zeit Not, der Materie und den ganz gewöhnlich erscheinenden Situationen ihren edlen, ursprünglichen Sinn zurückzugeben, sie in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen und sie dadurch, dass sie zum Mittel und zur Gelegenheit unserer ständigen Begegnung mit Jesus Christus werden, zu vergeistigen." (Zitiert nach D. M. Helming, Fußspuren im Schnee, 22)
Deshalb hat Escrivá immer auch wieder Leute gesucht und mit ihnen gerungen, die ein intensives weltliches Leben führten und große Aufgaben erfüllen mussten. Er hielt die Einsatzbereitschaft und die Disziplin solcher Menschen für günstige Voraussetzungen, um sich in ähnlichem Maß auch für geistliche Ziele einzusetzen, die die alltäglichen Aufgaben nicht etwa verdrängen, sondern – wie er gerne sagte – „veredeln". Er war überzeugt, dass Menschen, die den beruflichen Anforderungen eher ausweichen und auch wenig Änderungsbereitschaft erkennen lassen, weniger geeignet sind für das Opus Dei. Eine solche Aussage kann im Blick auf die Armen, Schwachen und Bedrängten gewiss zwiespältig werden. Aber die entscheidende Stoßrichtung ist klar. Es kommt nicht in erster Linie darauf an, dass Escrivá die Mächtigen und Einflussreichen aufsuchen und gewinnen wollte, sondern Menschen mit einer hohen Bereitschaft zum Einsatz und auch zur Veränderung. Das ganze menschliche Leben muss in der Kontemplation wurzeln. Immer wieder sagte Escrivá, die Waffe des Opus Dei sei nicht die Arbeit, sondern das Gebet.
Damit hat er manchmal Menschen in der Welt geradezu verblüfft. Prof. Victor García Hoz, Psychologe und später Mitglied von Opus Dei, erzählt uns: „Im Jahre 1941 sagte Don Josemaría einmal zu mir: ‚Gott ruft dich auf dem Weg der Kontemplation.‘ Ich war total verblüfft. Ich war schließlich ein verheirateter Mann mit damals drei Kindern, zu denen noch weitere dazukommen konnten und tatsächlich auch kamen. Außerdem hatte ich hart zu arbeiten, um meine Familie zu ernähren. Dass jemand einem Mann wie mir Kontemplation, geistliche Beschaulichkeit, als ein erreichbares Ziel hinstellte, das war in der damaligen Zeit einfach ungeheuerlich" (Ebd., 21.). Die Welt selbst wird so für den Laien im strengen Sinn zum Ort der Begegnung mit Gott. Jederzeit und an jedem Ort stehen die Wege der Kontemplation allen offen, die arbeiten. „Alles Wesentliche an der christlichen Berufung bleibt unverändert. Doch neu ist die Weise, sie zu verwirklichen. Nachdem anderthalb Jahrtausende lang das Ordensideal vorherrschte, greift das Opus Dei wieder die Art auf, mit der die Christen der ersten Jahrhunderte ihren Glauben lebten. Ein in mancher Hinsicht gewagtes Unternehmen. Kein Wunder, dass es bei aller Zustimmung auch auf Missverständnisse und Skepsis, ja Ablehnung stieß und stößt." (Ebd., 22.)Gerade hier darf man nicht vergessen, dass von den über 80.000 Mitgliedern in fast 100 Ländern nur 2% Priester sind.
Ich verzichte darauf, diese Aspekte zu vertiefen und weiter zu entfalten. Wenn man jedoch Escrivá verstehen will, muss man immer wieder zu diesem grundlegenden Gedanken zurückkehren. Nur von daher ist es auch verständlich, dass er in relativ kurzer Zeit so viele Menschen ansprach, die mitten im säkularen Leben standen und dennoch Christen sein wollten. Viele haben einen solchen Weg der Heiligung mitten in der Welt gesucht, ihn aber mit den traditionellen Wegen nicht finden können.
Dennoch ist dieser Weg eigentlich nicht etwas Neues. Mit Recht hat der Gründer immer wieder gesagt, dieser Geist des Opus Dei sei „so alt wie das Evangelium – und wie das Evangelium so neu". (Ebd.) Er verweist auf das frühe Christentum. Aber es gibt natürlich auch Akzentuierungen und Vorläufer, die solche Gedanken bereits thematisierten. Man wird hier, wie in allen Lebensprozessen, nicht immer alles mit Zitaten nachweisen können. Escrivá hat sich bestimmt manche Aussagen der Ordensspiritualitäten zu eigen gemacht, z.B. das Benediktinische Ethos des „Ora et labora" („Bete und arbeite"). Dies gilt ganz gewiss auch für das „Gott suchen in allen Dingen" des hl. Ignatius von Loyola und des Jesuitenordens, aber vermutlich auch für die Spiritualität der Theresia von Lisieux, in der das alltägliche Leben eine besondere Form der Heiligung erfährt. Schließlich darf man nicht vergessen, wie zentral „Heiligung" im AT und NT ist, besonders auch in der reformierten Tradition. (Vgl. z.B. J. Zmijewski, Heiligung, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflag, Band IV, Freiburg i.Br. 1995, 1331-1332.)
Bei diesem Vergleich denke ich z.B. an Aussagen der folgenden Art: „Ich versichere euch, wenn ein Christ die unbedeutendste Kleinigkeit des Alltags mit Liebe verrichtet, dann erfüllt sich diese Kleinigkeit mit der Größe Gottes. Das ist der Grund, warum ich immer und immer wieder betone, dass die christliche Berufung darin besteht, aus der Prosa des Alltags epische Dichtung zu machen. Himmel und Erde scheinen sich am Horizont zu vereinigen; aber nein, in euren Herzen ist es, wo sie eins werden, wenn ihr heiligmäßig euren Alltag lebt." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 177 (Nr. 116). Besonders hingewiesen sei auf den beinahe klassischen Text „Die Welt leidenschaftlich lieben", ebd., 173-183, eine Ansprache an der Universität von Navarra am 8. Oktober 1967.) Wenn man in die Kleinigkeiten des Alltags Liebe hineinlegt, dann wird man auch die Spuren Gottes darin finden. Alles andere ist für Escrivá „Blechmystik", die letztlich aus eitlen Träumereien und falschen Idealismen besteht. Escrivá scheut sich nicht, unmittelbar die ganz materielle Wirklichkeit als Feld christlicher Bewährung zu sehen und spricht wiederholt von einer „Materialisierung" des christlichen Lebens oder auch von einem „christlichen Materialismus". Wir haben vielleicht heute Schwierigkeiten mit einer solchen Sprache. Aber jeder, der verstehen will, kann diese Sprache deuten und auslegen – was wir ja sonst auch machen.
Ich denke aber auch an die Einschätzung der irdischen Dinge und ihre Autonomie bei Thomas von Aquin, der den Eigenwert der Schöpfungswirklichkeit und das Gutsein der aus den Händen Gottes hervorgegangenen Welt unmissverständlich betont. Man wird aber auch nicht fehlgehen, wenn man an Männer wie Thomas Morus denkt, die ihre Überzeugung aus dem Gewissen mit ihrem Leben besiegelten. Es ist jedoch das Verdienst von Escrivá, dass er mit Entschiedenheit die Ansätze der Tradition aufgreift und daraus wirklich nicht nur eine „Spiritualität für Laien", sondern eine „laikale Spiritualität" schafft. In diesem Sinne ist Escrivá ohne jede Frage ein Vorläufer des Zweiten Vatikanischen Konzils. Viele Aussagen des Konzils über die Berufung zur Heiligkeit in der Kirche und zum Glaubenszeugnis in Kirche und Welt haben hier ihre Wurzeln.
In dieser Grundintuition ist alles andere vorgezeichnet. Deshalb ist es auch nicht notwendig, an dieser Stelle die Konsequenzen sichtbar zu machen. Dies gilt z.B. für die Suche nach einer adäquaten rechtlichen Form, in der die Grundgedanken des Opus Dei angemessen gelebt werden können. „Für einen Lebensweg, der die Heiligung des Laien-Christen im Alltag und durch ihn zum Ziel hatte, für die spezifische Berufung zu etwas Unspezifischem also, gab es in der Kirche noch kein juridisches Modell. Erst das realiter von Menschen in aller Welt gelebte Opus Dei schaffte nach und nach eine innerkirchliche Gegebenheit, welcher schließlich, gemäß den organischen Lebensprinzipien der Kirche die adäquate Rechtsform zuwachsen musste." (P. Berglar, Opus Dei, 11) Diese Einsicht bestimmt auch manche andere Eigenheiten des Opus Dei. So gibt es im Bereich der irdischen, säkularen Probleme eine große innere Freiheit, wie sie der Einzelne im Alltag seines Berufes auch braucht, während die Ausrichtung auf ein transzendentes, übernatürliches Ziel mit großer Gemeinsamkeit verfolgt wird.
Ich kehre kurz an den Anfang zurück. Es kam mir darauf an, die spirituelle Grundgestalt des neuen Heiligen darzulegen. Wenn die Kirche einen neuen Heiligen geschenkt bekommt, dann muss sie sich auch fragen, was der Geist Gottes durch einen solchen Zeugen hindurch der Kirche einer Zeit sagen möchte. Wir haben dies vielleicht bisher zu wenig versucht. Dies gilt nicht nur für Josemaría Escrivá, sondern auch für Mutter Teresa, Edith Stein, Adolf Kolping, Maximilian Kolbe, Titus Brandsma und manche andere. Es wäre ein unverzeihliches Versäumnis, wenn wir uns nicht wenigstens mühen würden, das spezifische Zeugnis in dieser Bedeutung für uns heute zu entdecken.
Deshalb habe ich mir auch den Mut genommen, einmal alle üblichen Diskussionen über das Opus Dei zurückzustellen. Ich will dabei nicht leugnen, dass es in der Vergangenheit da und dort bei der Inkulturation eines solchen Werkes in unserer Gesellschaft Probleme und Missverständnisse gegeben hat, die freilich auf mehreren Seiten liegen. Aber die spirituelle Herausforderung, die im Opus Dei liegt, darf nicht einfach mit Rückgriff auf diese Verdächtigungen abgewürgt werden. Leider gehen nicht wenige Veröffentlichungen auf das grundlegende Charisma von Josemaría Escrivá überhaupt nicht ein. (Vgl. R. Hutchison, Die heilige Mafia des Papstes, München 1996; M. del Carmen Tapia, Hinter der Schwelle. Ein Leben im Opus Dei. Der schockierende Bericht einer Frau, Zürich 1993; J. Ropero, Im Bann des Opus Dei. Familien in der Zerreißprobe, Solothurn 1995; zur Auseinandersetzung vgl. auch Opus Dei. Ziele, Anspruch und Einfluss, hrsg., von H. Schützeichel, Düsseldorf 1992, vgl. hier auch die Beiträge von H. St. Puhl; „Katholischer" Fundamentalismus. Häretische Gruppen in der Kirche, hrsg. von W. Beinert, Regensburg 1991. Vgl. auch oben Anm. 1)
Es scheint mir gerade darum ein Gebot der Stunde zu sein, mit Sorgfalt und Fairness das Profil des neuen Heiligen genauer zu betrachten. Wenn das Opus Dei selbst in der Verwirklichung des Werkes etwas falsch gemacht hat oder machen sollte, dann muss man es zuerst gewiss an der Bibel, besonders aber an der Gestalt des Gründers und seiner Vision messen. Alles andere wäre nicht seriös. Darum macht man es sich zu einfach, wenn man versucht, das Opus Dei als eine Sekte oder gar so etwas wie eine Mafia abzustempeln.
Die Kirche kann es sich heute nicht leisten, Charismen, die in ihr entstanden und aufgeblüht sind, zu verachten. Sie kann sich auch nicht leisten, Bewegungen dieser Art gegeneinander auszuspielen. Ich bin fest überzeugt, dass wir angesichts der großen Herausforderung des christlichen Glaubens heute alle Kräfte bündeln müssen, um bei aller Ausformung im Einzelnen aus der Mitte des Glaubens heraus ein gemeinsames Zeugnis vor der Welt ablegen zu können. Dies ist gerade auch wichtig in der Stoßrichtung dessen, was Josemaría Escrivá im Blick auf eine „laikale Spiritualität" wollte. Die Kirche muss die Laien befähigen, inmitten ihrer säkularen Tätigkeit authentische Zeugen des Evangeliums zu sein. Es ist gar nicht möglich, dass der Arm der verfassten Kirche überall hinreicht. Es braucht die Selbstständigkeit aller Christen je an ihrem Ort, um dem Evangelium in allen Feldern unseres Lebens einen Weg zu bahnen und Raum zur Entfaltung zu geben. Davon wird in hohem Maß die Zukunft der Kirche abhängen.
Ich will evtl. vorhandene Probleme nicht verdrängen oder gar verdecken. Aber sie können wirklich nur gelöst werden, wenn wir uns der zündenden Idee im Leben und Wirken des heiligen Josemaría Escrivá stellen. So möchte ich mit einer wichtigen Aussage des neuen Heiligen schließen: „Es versteht sich von selbst, dass sich diese Vorstellungen von einem heiligmäßig gelebten Alltag kaum verwirklichen lassen, wenn man nicht im Besitz jener vollen Freiheit ist, die dem Menschen – auch nach der Lehre der Kirche – aufgrund seiner Würde als Ebenbild Gottes zusteht. Die persönliche Freiheit – wenn ich von Freiheit spreche, meine ich natürlich immer eine verantwortungsbewusste Freiheit – besitzt eine wesenhafte Bedeutung für das christliche Leben. – Versteht also meine Worte als das, was sie sind: als Aufforderung, tagtäglich und nicht nur in besonderen Notsituationen eure Rechte auszuüben, ehrlich eure staatsbürgerlichen Pflichten in Politik, Wirtschaft, Universität und Beruf zu erfüllen und mutig die Folgen eurer persönlichen Entscheidungen sowie die Bürde der euch zustehenden Autonomie auf euch zu nehmen. Diese christliche Laienmentalität wird euch dazu befähigen, jede Form von Intoleranz und Fanatismus zu meiden; oder positiv ausgedrückt: sie wird euch helfen, in Frieden mit all euren Mitbürgern zusammenzuleben und das friedliche Zusammenleben in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu fördern." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 178 (Nr. 117).)
So kommt es in erster Linie darauf an, endlich einmal den heiligen Josemaría Escrivá selbst zu Wort kommen zu lassen. Dies sollte mein Beitrag sein, sich dieser oft verkannten Gestalt neu zu nähern und sie besser zu verstehen. Die Heiligsprechung vom 6. Oktober 2002 könnte dabei eine wichtige, ja entscheidende Hilfe sein.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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