Von der Verantwortung eines jeden und aller für die Einheit der Kirche

Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz in der Eucharistiefeier zur Eröffnung der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 21. September 1999 im Hohen Dom zu Fulda

Datum:
Dienstag, 21. September 1999

Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz in der Eucharistiefeier zur Eröffnung der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 21. September 1999 im Hohen Dom zu Fulda

Meßformular: Fest des Hl. Apostels und Evangelisten Matthäus
Predigttext: Eph 4.1-7.11-13 (Lesung vom Fest)

Wir suchen uns nicht wählerisch das Predigtthema aus, sondern lassen uns vom Verfasser des Epheser-Brief
es ein Wort über unsere Verantwortung für die Einheit der Kirche sagen. Der Verfasser, ob Paulus selbst oder einer seiner engeren Schüler, empfindet eine große Sorge für diese Einheit. Der ganze Brief ist immer wieder davon durchzogen. Dies ist kein Wunder. Alle Zeiten haben unter dem Auseinanderfallen der gesellschaftlichen Wirklichkeit gelitten. Am Ende dieses Jahrhunderts erleben wir ähnliches. Auch unsere Gesellschaft strebt immer mehr auseinander, und ihr Einfluß auch auf die kirchliche Gemeinschaft ist nicht zu leugnen. Ich nehme als kleines Beispiel einen Text von Elias Canetti, näherhin aus dem zweiten Band seiner Biographie "Die Fackel im Ohr." Lebensgeschichte 1921-1931 (München o.J., S. 296): "Die eigentliche Tendenz der Dinge war eine zentrifugale, sie strebten auseinander, mit größter Geschwindigkeit voneinander weg. Die Wirklichkeit war nicht im Zentrum, wo sie wie an Zügeln alles zusammenhielt, es gab nur noch viele Wirklichkeiten und sie waren außen. Sie waren weit voneinander entfernt, es bestand keine Verbindung zwischen ihnen, wer einen Ausgleich zwischen ihnen herzustellen versuchte, war ein Fälscher." Was hier über den Kulturbetrieb im Berlin der 20er Jahre gesagt wird, gilt taufrisch auch für uns heute.

Der Epheser-Brief gibt uns schon in den ersten Sätzen eine entscheidende Vorgabe: Diese Einheit schaffen nicht wir. Freilich kommt die Einheit der Kirche auch nicht von selbst zu, sie ist ein Geschenk Gottes, um das wir immer wieder beten müssen. Die Einheit ist in Jesus Christus, in seinem Leib und in seinem Geist, schon geschenkt. Aber dies kann, wenn man es nicht sorgfältig bedenkt, auch zu einer falschen Einstellung werden. Denn wir schaffen zwar diese Einheit nicht, aber wir können sie beeinträchtigen und preisgeben. Deshalb spricht der Epheser-Brief zu uns in einer regelrechten Mahnrede. Die Einheit ist immer durch uns gefährdet. Die Einheit verdankt sich nämlich weder einem Automatismus noch unserer Programmierung. Bei aller Verantwortung der Dienste und Ämter hat dabei ein jeder/eine jede eine Aufgabe, nämlich sich für das Ganze einzusetzen. Die Sorge für die Einheit ist nicht nur eine Sache des Amtes, während alle übrigen die Spannungen und Widersprüche vertreten dürfen. Es wird ganz schlimm, wenn die Dienste und Ämter die Einheit unterminieren.

Bei diesem Ruf zur Einheit der Kirche hat die Taufe eine große Bedeutung. In ihr sollten wir den alten Menschen der Zwietracht und des Eigensinns ablegen, um "ein Leben zu führen, das des Rufes würdig ist, der an euch erging" (Eph 4,1). Deshalb geht es auch um einfache, aber doch schwierige Dinge: "Seid demütig, friedfertig und geduldig, ertragt einander in Liebe, und bemüht euch die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält." (4,2f) Andere Stellen des Neuen Testamentes reden ähnlich (vgl. z.B. Kol 3,5-17).

Drei Tugenden, die im Deutschen mit Demut, Milde und Langmut nur unzulänglich wiedergegeben werden können, stehen im Vordergrund. Die "Demut" ist die Grundhaltung des Sich-niedrig-Wissens vor Gott. Dies soll sich auswirken in der Hochschätzung der anderen, der Überwindung der Selbstsucht (vgl. Phil 2,3) und in gegenseitiger Bereitschaft zum Dienen (vgl. 1 Petr 5,5). Es ist nicht zufällig, daß unser deutsches Wort Demut etwas zu tun hat mit "Dien-Mut". Mit Unterwürfigkeit hingegen, die sich nur an die Mächtigeren anpaßt, hat dies nichts zu tun. Demut verbindet sich mit Milde und Sanftmut. Bei Paulus (vgl. 1 Kor 4,21; 2 Kor 10,1; Gal 6,1) und in der Folgezeit (Tit 3,2; 2 Tim 2,25; 1 Petr 3,15f.) erscheint die Milde besonders im Umgang mit uneinsichtigen Brüdern und widerstrebenden Gegnern. Den Christen erkennt man an dieser Tugend. Dabei schließt sich hier sehr eng die Langmut an. Im Neuen Testament ist viel von der Langmut Gottes die Rede (vgl. Röm 2,4; 9,22; 1 Tim 1,16; 1 Petr 3,20; 2 Petr 2,10). Das geduldige Zuwarten, das den vielleicht sogar berechtigten eigenen Zorn unterdrückt, verlangt eine "Großmut", für die in der Bibel Gott das Vorbild ist. Nachsicht und Geduld mit den Menschen ist die Folge (vgl. 2 Kor 6,6; Gal 5,22; Kol 3,12; 2 Tim 4,2).

Dies sind für den Epheser-Brief nicht nur moralische Appelle, sondern sie erwachsen aus der Berufung zu einem christlichen Leben. So übernimmt der Verfasser auch die Mahnung aus der christlichen Tradition (vgl. Kol 3,13), "einander in Liebe zu ertragen". Die Liebe ist der tragende Grund für alle christlichen Tugenden (vgl. Gal 5,14.22; 1 Kor 13). Dies setzt voraus, daß es unter Christen durchaus schwer erträgliche Verhältnisse und auch Personen gibt. Einander in Liebe ertragen ist Erweis des Geistes (vgl. Gal 6,1f). Diese "Einheit des Geistes" ist nicht bloß eine Gemeinsamkeit der Besinnung oder menschliche Eintracht. Weil alle an dem einen Geist Anteil haben, der den einen Leib Christi durchwaltet, darum können und sollen wir die uns geschenkte Einheit bewahren.

Die folgenden Ausführungen hämmern den Gedanken der Einheit mit großem Nachdruck ein: ein Leib und ein Geist, eine gemeinsame Hoffnung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, "der über allem und durch alles und in allem ist" (4,4ff.) Der von Gott geschenkte Friede soll alle untereinander zusammenschließen. Er kann nur entstehen, wenn wir aufhören, auf uns selber zu blicken. Solange die Menschen nur sich selber im Auge haben, werden sie immer neue Kränkungen und Verwundungen finden, immer neue Probleme, die noch nicht ausgeräumt sind. Darum wird es auch keine Einheit der Kirche geben ohne stetige Umkehr zu Gott und seinem Willen. Sie allein kann die Wunde der Spaltungen heilen.

Der Epheser-Brief setzt voraus, daß dabei jeder mitwirken kann: "Aber jeder von uns empfing die Gnade in dem Maß, wie Christus sie ihm geschenkt hat." (4,7) Damit leistet der Brief den Übergang vom Gedanken der Einheit zu dem der Differenzierung und Vielfalt. Dies ist kein Abrücken von der Einheit, es ist geradezu die Mahnung, in der Vielfalt und durch die Vielgestalt der Dienster und Ämter zur Einheit zu finden. Einheit soll also nicht uniform verstanden werden. Es muß eine reiche und bunte, vielfältige und fruchtbare Einheit sein, mit viel Farbe, mit vielen Formen, Sprachen und eigenen Traditionen, aber es muß eine Kirche sein.

Diese Einheit der Kirche erfolgt nicht nur von einem Punkt aus. Jeder einzelne hat seine Gabe und sein Charisma. Aber gerade am Fest eines Apostels und Evangelisten wird uns die frühchristliche Vielfalt der Dienste vor Augen geführt: das Apostelamt, die Propheten, die Evangelisten, die Hirten und Lehrer. Sie alle werden ermahnt, die Einheit der Kirche dadurch zu fördern, daß sie jeweils an ihrem Platz ihre Aufgabe erfüllen. Diese besteht hauptsächlich darin, "die Heiligen für die Erfüllung ihres Dienstes zu rüsten, für den Aufbau des Leibes Christi" (4,12). Diese drei Zielbestimmungen sind auch für das gegenwärtige Leben der Kirche notwendig: Zurüstung der Heiligen, Erfüllung ihres Dienstes, Aufbau des Leibes Christi. Dies sind die Ziele der Kirche und die Kriterien, ob wir einen gemäßen Dienst erfüllen.

Der Epheser-Brief ist nicht der Meinung, daß man diese Einheit bloß irgendwo im Unsichtbaren erwarten darf. Die Einheit der Kirche gehört nicht zum Ende der Welt. Jetzt sollen die Jünger Jesu eins sein, weil sonst die Welt nicht glauben kann. Also müssen die Spaltungen in dieser Geschichte überwunden werden, und zwar so schnell wie möglich. Auch dabei wird es darauf ankommen, daß alle dem Ganzen dienen und nicht eigenmächtig vorgehen.

Dies ist uns auch heute aufgegeben: mitten in der Aufgabe, einen guten Weg in der Schwangerschaftskonfliktberatung zu suchen; im Zusammenhang der Frage des kirchlichen Engagements in den Medien; für ein gemeinsames Zeugnis des Glaubens in Europa; beim Eintreten für mehr Gerechtigkeit und Freiheit; für die Armen und Bedrängten in aller Welt; nicht zuletzt in Ost-Timor; bei der Hilfe für junge Menschen in der Gestaltung ihres Lebens, besonders auch der Sexualität. Der Aufruf des Epheser-Briefes gilt aber besonders auch dem Ringen der Kirche um mehr Einheit. Mit der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung über die Rechtfertigungslehre am Reformationstag 1999 in Augsburg erreichen wir dafür eine wichtige Station. Dafür wollen wir danken. Dies wird uns gemeinsam noch besser befähigen, in einer Welt wachsender Entfremdung vom Glauben ein frohes, ermutigendes Zeugnis zu geben von der Wahrheit, Güte und Schönheit des Evangeliums Jesu Christi. Amen.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz