Vor dem Herrn der Welt und ihm entgegen

Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, im Eröffnungsgottesdienst zur Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 11. Februar 2008 im Hohen Dom zu Würzburg

Datum:
Montag, 11. Februar 2008

Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, im Eröffnungsgottesdienst zur Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 11. Februar 2008 im Hohen Dom zu Würzburg

Texte der Lesungen: Lev 19,1-2. 11-18; Mt 25,31-46 (Predigttext)

In jedem Eröffnungsgottesdienst bei der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz hören wir die Lesung vom Weltgericht in der Fassung des Matthäus-Evangeliums (25,31-46). Dieses eindrucksvolle Gemälde ist die fünfte und letzte Redekomposition des ersten Evangeliums, bevor das Leiden und die Auferstehung Jesu erzählt werden. So ist es wie ein großes Finale, das die Botschaft Jesu zusammenfasst. Die neutestamentliche Exegese ist sich einig, dass diese Szene eine ausdrückliche Entsprechung darstellt zur Eröffnung des Wirkens Jesu, vor allem zu den Seligpreisungen (vgl. 5,1 ff.). Auf dem Weg des ganzen Evangeliums gibt es immer wieder so etwas wie Brückenschläge und Brückenpfeiler zwischen dieser Eröffnung und dem Finale (vgl. 9,13; 12,7; 18,19-22; 19,21; 22,34-40; 23,23-24).

Man ist sich auch heute noch einig darin, dass hinter vielen einzelnen Formulierungen eine sehr reiche jüdisch-rabbinische Tradition steht, die hier aufgenommen worden ist (vgl. die Kommentare). Dies gilt besonders auch für die Spruchweisheit (z.B. Spr 19,17; 17,5a usw.). Unübersehbar ist der Charakter eines Weltgerichtes, sodass hier der biblische und besonders der christliche Universalismus des Heils ganz deutlich wird (vgl. auch Mt 21,43; 8,11 und 28,19). Alle Völker werden angesprochen. Zur großen biblisch-jüdischen Tradition gehört auch der Gedanke, dass Gott hinter dem leidenden Menschen steht. Auch kann man die einzelnen Notlagen, um die es besonders geht, in der Bibel des Alten Bundes leicht wieder finden (vgl. Jes 56,6 ff.; 58,7; Ez 18,7; Sir 7,35, Hiob 22,7; Ps 146,9). Dabei kommt sehr nachhaltig ein regelrechter, sechsfacher Katalog der Notlagen zur Sprache: hungrig, durstig, fremd, nackt, krank, gefangen. Dies sind die Ur-Herausforderungen des leidenden Menschen über alle Jahrtausende und Jahrhunderte hinweg, von der Steinzeit bis in unsere moderne Gegenwart. Er nimmt uns in Pflicht (vgl. E. Lévinas). Hier kann der Mensch nicht ausweichen. Hier steht der leidende Mensch mit seinem Antlitz erbarmungswürdig vor uns und spricht uns auf unsere Hilfsbereitschaft an.

Immer wieder kommt mit dem fünffachen „dann“ und dem zweifachen bekräftigenden Amen (40.45) die unerbittliche Konsequenz des Eintretens für den leidenden Bruder zur Sprache. Im Zentrum stehen die Dialoge (34-40, 41-45). Die Notlagen rufen nach spontanem mitmenschlichem Handeln. Dabei spielt das Unterlassen der Hilfe eine große Rolle. Durch das Unterlassen des Guten verfehlt der Mensch sich selbst. Es geht nicht nur um das ausdrückliche Verüben des Bösen. Auch unsere Hartherzigkeit, Gleichgültigkeit und Wahrnehmungsunfähigkeit werden angeprangert. Nicht umsonst sagt der große Origenes, die Wurzel aller Sünde sei die „anaisthesis“, d.h. die „Anästhesie“, also die Narkose im Sinne der Fühllosigkeit des Menschen gegenüber der Not des Nächsten. Es ist erstaunlich, wie weltumspannend und universal dieses Gericht erzählt wird und wie zugleich jeder einzelne Mensch – gewiss nicht nur der Christ – in seinem Tun und Unterlassen, also in seinem Gewissen angesprochen und getroffen wird. Wenn der Bruder im Matthäus-Evangelium auch sonst vorwiegend der Glaubensbruder sein mag (vgl. 5,22-24; 7,3-5; 18,15. 21; 23,83), so wird er mindestens hier (vgl. aber auch 5,44; 12,40 ff.) zugleich überschritten. Der Brudername schließt alle Notleidenden ein und fordert eine grenzenlose Solidarität. Barmherzigkeit und Erbarmen für alle sind die Nagelprobe des Glaubens.

Das Matthäus-Evangelium warnt uns auch schon in den übrigen Reden vom Ende (vgl. 24,1-25, 30) vor den Katastrophen im menschlichen Verhalten. Viele Gestalten versagen (der böse Knecht, die dummen Mädchen, der vorsichtige Knecht). Wir haben Grund, Angst zu haben vor dem Heulen und Zähneknirschen, wenn wir an das Versagen vor dem leidenden Menschen denken. Das Weltgericht bringt diese Linie gleichsam auf den Höhepunkt. Die Liebe ist das oberste Gebot, es ist die letzte Synthese der christlichen Botschaft Jesu Christi bei Matthäus. Alles auf dem Weg Jesu zielt zu dieser Vollendung universaler Liebe.

Das Erschrecken ist deshalb besonders groß, und zwar bei den Schafen zur Rechten und zur Linken, wenn Jesus enthüllt: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. – Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“ (25,40. 45) Immer wieder hat man sich mit diesem Wort schwer getan. Man hat diese überraschende und zugleich harte Identifikation Jesu mit dem Notleidenden aufzulösen versucht, „als ob“ Jesus in dem Fremden erscheine, als ob es eine mahnende Fiktion wäre. Davon kann aber keine Rede sein. Diese Identifizierung Jesu mit dem Leidenden geht weiter und tiefer als die alttestamentlichen Aussagen, die freilich schon zu denken geben, dass Gott selbst hinter dem leidenden Menschen steht. In der Tat erfasst uns immer wieder das Erschrecken, ja vielleicht sogar das blanke Entsetzen bei diesen Worten Jesu: „Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen“ (47, vgl. 37-39)

Dem Weltgericht entspricht in seiner umfassenden Weite auch der Richter. Jesus wird mit allen Titeln ausgezeichnet, die seine Würde zum Ausdruck bringen können: Er ist der Menschensohn, er kommt in seiner Herrlichkeit, die Engel erscheinen mit ihm, er sitzt auf dem Thron der Herrlichkeit, er wird mehrfach als König angesprochen (14. 40), er ist wirklich der Herr der Welt. Damit wird sein Urteil auch als Maßstab für alles herausgestellt. Er ist wirklich endgültig und kann nicht überboten werden, deshalb geht es auch in diesem Bericht um den letzten Ernst, wirklich um die Frage, worum es denn in unserer Welt und in unserer Zeit geht. Da wird die ganze Geschichte, wie der große jüdische Denker Walter Benjamin gefordert hat, wirklich gegen den Strich gebürstet. Alle Ideologien und alle Verbrämungen, Geschichtsklitterungen und Glorifizierungen fallen ab und werden entlarvt. Hier geht es wirklich um Segen und Fluch, Leben und Tod (ganz im Sinne von Mt 25,34): „Den Himmel und die Erde rufe ich heute als Zeugen gegen euch an. Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen, liebe den Herrn deinen Gott, hör auf seine Stimme und halte dich an ihm fest, denn er ist dein Leben.“ (Dtn 30,19-20)

Dieses Bild steht in seiner ganzen Dramatik vor uns. Es will uns nicht Angst einjagen. Aber es will uns den Blick weiten bis an die Grenzen unserer Erde und unserer Zeit. Es ist zugleich letzte Mahnung und Warnung vor der unentrinnbaren Katastrophe, wenn wir diese Aussagen und Bilder nicht ernst nehmen. Damit wird auch deutlich, dass dieses Gericht auch uns selbst, ja die ganze Kirche, im Blick auf ihre letzte Bestimmung vor die Frage stellt: Wohin willst du Was ist dein Ziel Was willst du erreichen Was ist dir wichtig, und zwar in diesem Leben Da wird nicht nach einem fernen Jenseits geschielt. Es ist geradezu aufregend, dass von den Menschen nicht zuerst oder allein ein Messias-Bekenntnis abverlangt wird. Natürlich wird das Glaubensbekenntnis auch nicht einfach relativiert (vgl. dazu nur Mt 10,32 f.). Aber die Erzählung – nennen wir einmal die Darlegung so – bringt doch die Sache auf den Punkt: Allein menschliches Handeln gibt den Ausschlag. Allein die Barmherzigkeit im Leben kann im Gericht bestehen, sie triumphiert gleichsam sogar über das Gericht.

Unter diesem Gericht steht eben auch die Kirche selbst, jede einzelne Gemeinde, jeder einzelne Christ, letztlich jeder Mensch (vgl. dazu Mt 7,21 f.; 13,36-43. 49 f.; 18,23-35; 22,11-14). Gerade wenn der Kirche das Evangelium Jesu Christi anvertraut wird, bleibt sie selbst unter diesem Wort, unter seinem Richtmaß. Bei aller Nähe und Intimität zum Evangelium tut sich hier auch ein Raum des fundamentalen Gehorsams zwischen dem Herrn und seiner Kirche auf: Darauf allein kommt es an. Vor diesem Wort wird alles, was wir tun, vorläufig, oder besser gesagt: es wird von einem letzten Ernst der Liebe her gemessen und gewogen. Es gibt einen letzten Vorbehalt in allem, was wir tun, ob wir nämlich diesen Willen Jesu, die neue Gerechtigkeit erfüllt haben oder ob wir letzten Endes doch, vielleicht sogar ohne es zu wissen, zwiespältige Heuchler sind. Um so mehr brauchen auch wir Vergebung und Barmherzigkeit. Gericht und Gnade gehören eng zusammen. Aber nach beiden Seiten hin: ein Gott, der nur liebt, jedoch nicht richtet, wäre ein Vergebungsautomat, mit dem man bloß spielen könnte. Wie höhnt Voltaire über Gott oder vielleicht mehr über seine halbherzigen Bekenner: Son métier, c´est pardonner, sein Handwerk, sein Geschäft ist es zu verzeihen.

So, meine verehrten, lieben Schwestern und Brüder, werden wir zu Beginn der Österlichen Bußzeit auf diesen Weg der Umkehr und in die Zeit unseres Lebens hinein entlassen. Auch im Matthäus-Evangelium wird es blutig ernst: Auf der nächsten Seite beginnt die Passion. Auf sie gehen auch wir zu. Jetzt wissen wir um den Weg. Am Ende aber steht die große Verheißung, zu der uns der König einlädt: „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist.“ (25,34) Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort!

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz