Wahlhirtenbrief?

Hilfe zur Selbstorientierung

Datum:
Sonntag, 11. September 2005

Hilfe zur Selbstorientierung

Gastkommentar für die Kirchenzeitung "Glaube und Leben" im Monat September 2005

Das Wort „Wahlhirtenbrief“ ist ziemlich belastet. Unwillkürlich kommen manchen Menschen Vorstellungen in den Sinn, als wolle man sich von kirchlicher Seite aus in die freie Entscheidung des Einzelnen einmischen und vor allem die Mitglieder der Kirche auch noch auf eine bestimmte Partei festlegen. Manche meinen auch, die Kirche würde in solchen Hirtenbriefen nur das ansprechen, was ihr als Institution nützlich ist oder ihre Interessen fördert.

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass das Wort der Bischöfe zur Bundestagswahl „Aufruf“ heißt. Dieser ist zuerst mit der Absicht verbunden, auf die Verantwortung aller mündigen Bürger aufmerksam zu machen, dass sie das Wahlrecht auch in Anspruch nehmen.

Manche meinen, dafür müsse man kein solches Wort veröffentlichen. In einer Zeit, in der jedoch die Teilnahme an den Wahlen erschreckend gesunken ist und nicht wenige zwar glauben, dass sie gute Demokraten sowie politisch aktiv seien, aber die konkreten Wahlen verachten, ist dieser Hinweis auf die staatsbürgerliche Verantwortung gerade auch der Christen nicht überflüssig. Wenn zusätzlich so viele Bürgerinnen und Bürger noch kurz vor den Wahlen in hohem Maß unschlüssig sind, liegt die Gefahr einer Verweigerung der Teilnahme an der Wahlentscheidung nahe. Nicht wenige tun schließlich Wahlen als „Politzirkus“ ab.

Es ist gewiss schwieriger geworden, sich sorgfältig zu orientieren. Der Wahlkampf neigt ohnehin fast unausweichlich zu Simplifizierungen, Vergröberungen und auch Entstellungen. Gerade dies kann aber heute in einer komplexen und differenzierten Gesellschaft nicht gut sein. Der rasante Meinungswechsel und die „kurzfristigen Aufregungswellen“ (R. Köcher) werden heute auch noch genährt vom blitzartigen Tempo vieler Bilder, die im Medienzeitalter nur für kurze Zeit fesseln. Probleme werden so nicht vertieft. Man liest weniger. Man ist zerstreut und lässt sich durch letztlich unwesentliche Dinge ablenken und mitreißen. Es ist darum auch für alle seriösen Meinungsforscher und Politikwissenschaftlicher mit jeder Prognose sehr schwierig geworden. Das Handbuch zur Wahlforschung ist ein riesiger Wälzer geworden.

Der Aufruf der deutschen Bischöfe, der am 3./4. September in den Kirchen verlesen wird, will dazu bewusst ein Gegengewicht sein. Wir wollen die Themen herausstellen, die bei der Wahlentscheidung vor allem für die mittel- und langfristige Zukunft unseres Landes von Bedeutung sind (z.B. Arbeitslosigkeit, soziale Sicherungssysteme, demografische Entwicklung, Ehe und Familie, Menschenwürde, weltweite Solidarität und Gerechtigkeit usw.). Die Wähler werden gebeten, „bei der Bundestagswahl im Lichte der dargelegten Leitlinien ihre Verantwortung wahrzunehmen und von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen“.

Dabei wird bewusst auch vor verdummender Bauernfängerei und hohlem Wahlkampfgetöse gewarnt: „Dabei darf eine verantwortungsbewusste Politik nicht mehr versprechen, als sie halten kann. Eine von Vorurteilen und Pauschalierungen genährte Politik, die einfache Lösungen für komplexe Sachverhalte anbietet, kann die Zukunft nicht gewinnen. Neid zwischen gesellschaftlichen Schichten zu schüren, ist unverantwortlich.“

Es ist der Auftrag der Kirche, auf diese Sachverhalte und Kriterien aufmerksam zu machen. Dies ist keine illegitime Einmischung. Entscheiden muss der Einzelne. Wir wollen den mündigen Bürger.

© Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz