Der Ökumenische Kirchentag schien vorüber zu sein, auch die Zeit der Kritik danach. Eine sorgfältige Analyse steht ohnehin noch aus.
Selbstverständlich ist Kritik an diesem wie an jedem anderen Ökumenischen Kirchentag oder Katholikentag erlaubt. Sie ist auch nötig. Je gründlicher, um so besser für die Zukunft.
Gewiss droht bei solchen kirchlichen Großereignissen die Gefahr, dass sie einem „Markt der Möglichkeiten" ähnlich erscheinen, alles gleichwertig dargestellt wird und so manches „konturenlos" (so Kardinal Ratzinger) wird. Dagegen kämpfen wir immer wieder an. Mir waren die klaren Programme von Katholikentagen wie „Gott lebt", „Kirche – Gottes Kraft in menschlicher Schwäche" oder „Gemeinde des Herrn" auch lieber. Sie haben stark geprägt. Aber Verbindlichkeit fehlte in Berlin 2003 deswegen genau so wenig wie bei den Katholikentagen von Mainz 1998 und Hamburg 2000. Ein Ökumenischer Kirchentag ist gewiss noch stärker von der Offenheit der Kirchen aufeinander und auf die Gesellschaft hin bestimmt.
Nur „konturenlos" im Ganzen war es deshalb nicht. Die vielen Bibelarbeiten, Gottesdienste und Gespräche, die nicht am Fernsehen oder in den Medien erschienen (wie sollte dies auch bei 3.200 Veranstaltungen!), ließen viel von Nachfolge, Kreuz und Glaubensfreude spüren, die Kardinal Ratzinger mit Recht fordert. Es ist gewiss schade, dass darüber nicht mehr berichtet wurde, z.B. auch von dem gar nicht so angekündigten Jugendgottesdienst – es war eine einfache Messe – mit weit über 1000 überwiegend katholischen Jungen und Mädchen an Christi Himmelfahrt in der evangelischen St. Lukas-Kirche. Die Polizei musste die Straße sperren. Solche Beispiele ließen sich leicht vermehren, und zwar solche aus eigener Erfahrung.
Wir katholischen Bischöfe haben keinen Zweifel gelassen, dass für die Katholiken die Feier der hl. Messe zum Sonntag gehört und dass wir deshalb auch vor dem Ökumenischen Schlussgottesdienst am 1.6. an vielen Orten zu einer Eucharistiefeier einladen. Dies ist unübersehbar in vielen Kirchen geschehen. Ich habe dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken für diese klare Haltung gedankt, die nicht so leicht durchzusetzen war. Die Bischöfe wussten, dass diese Gestaltung des Abschlusses am Sonntagmorgen Fragen hinterließ. Aber dass deswegen „von dem ökumenischen Kirchentag ein großer Desorientierungs- und Verwirrungsschub in unsere Gemeinden ausgegangen ist", wie Kardinal Meisner meint, kann ich nicht teilen. Vielleicht war da schon vorher einiges nicht in Ordnung.
Ich empfinde das Wort vom „großen Desorientierungs- und Verwirrungsschub" als unangemessen und in gewisser Weise auch als verletzend. Kardinal Ratzinger meint: „Es war mehr sozusagen ein sich selber Feiern und Genießen." Für wen so etwas zutrifft, weiß ich nicht. In Wirklichkeit haben zahllose Mitwirkende, darunter auch viele Bischöfe, Priester und katholische Laien, um Orientierung geistiger, ethischer und spiritueller Art gerungen und haben Verwirrungen nicht erzeugt, sondern sichtbar gemacht. Dies „ganz aus der Ferne" vollkommen zu ignorieren, empfinde ich für viele und auch persönlich als verletzend. Ich habe in ungefähr zwanzig Veranstaltungen zu orientieren versucht. Nicht selten musste ich für meinen katholischen Glauben hart hinstehen. Ich hätte z.B. in der dreistündigen Diskussion um den Ausschluss der Frau vom Priestertum ganz gerne noch tüchtige Mitstreiter gehabt.
Wenn dann jemand erklärt, man sähe eben manchmal aus der Ferne besser als aus der Nähe, dann weiß ich zwar um das Körnchen Wahrheit in einer solchen Aussage, aber hier ist eine solche Rechtfertigung völlig fehl am Platz, weil sie offenbar die vielschichtige Wirklichkeit von vornherein nicht kennen will.
Warum werfen beide Mitbrüder, die ich ja auf ihre Weise schätze, sechs Wochen nach dem Ökumenischen Kirchentag die brennende Fackel in das Gespräch über Berlin 2003? Kein Wort über das Papstwort zu Berlin, kein Wort über die klare Reaktion und Solidarität der deutschen Bischöfe im Blick auf die beiden missratenen Gottesdienste in Berlin. Wenn man immer nur Defizite sieht oder den Teufel an die Wand malt, kann man wohl auch kaum Freude und Stärke des Glaubens entdecken.
Ich nehme sonst Meinungsverschiedenheiten im eigenen Lager aufmerksam und gelassen zur Kenntnis. Hier aber muss ich offen widersprechen, weil es um die Gerechtigkeit und die Wahrheit geht. War das nötig? Warum? Wem soll dies nützen? Wir haben gemeinsam Wichtigeres zu tun, dazu gibt es viele Gaben und Aufgaben, die uns verbinden.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Gastkommentar in der Kirchenzeitung von August 2003
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz