Warten und Hoffen

Katholische Morgenfeier in hr2-kultur am Ersten Adventssonntag, 1. Dezember 2013

Datum:
Sonntag, 1. Dezember 2013

Katholische Morgenfeier in hr2-kultur am Ersten Adventssonntag, 1. Dezember 2013

Wir beginnen an diesem Sonntag ein neues Kirchenjahr. Am sogenannten Ersten Adventssonntag begehen wir diesen Anfang, der uns zugleich auf Weihnachten hin einstimmt und damit auch bald auf ein neues bürgerliches Jahr. Aller Anfang scheint zunächst leicht zu sein. Wir schließen eine alte Zeiteinheit ab und lassen sie hinter uns. Aber so einfach ist es dann doch nicht. Wir nehmen uns ja selber mit, damit auch den alten Schlendrian und alles, was uns an einem wirksamen Willen zur Änderung und Besserung hindert. Deshalb ist es heilsam, wenn wir in der heutigen Lesung aus dem Römerbrief des Heiligen Paulus im Blick auf diesen Anfang und seine Chancen aufgerüttelt werden.

Hören wir aus dem 13. Kapitel zu diesem neuen Aufbruch:

„Brüder (und Schwestern)! Bedenkt die gegenwärtige Zeit:

Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf.
Denn jetzt ist das Heil uns näher
als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.
Die Nacht ist vorgerückt,
der Tag ist nahe.
Darum lasst uns ablegen die Werke der Finsternis
und anlegen die Waffen des Lichts.
Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tag,
ohne maßloses Essen und Trinken,
ohne Unzucht und Ausschweifung,
ohne Streit und Eifersucht.
Legt als neues Gewand den Herrn Jesus Christus an
und sorgt nicht so für euren Leib, daß die Begierden erwachen." (Röm 13,11-14)

Musik 1: Wach auf, der du schläfst (CD: „Singt Gott den neuen Lobgesang!", hrsg. vom Institut für Kirchenmusik des Bistums Mainz in Kooperation mit den Abteilungen Öffent-lichkeitsarbeit und Kath. Rundfunkarbeit im Bistum Mainz, Vocalensemble Darmstadt, Lei-tung Jorin Sandau; Frauenchor im Binger Vokalensemble, Leitung Alexander Müller).

Wir sollen nicht einfach weiterschlafen, uns zufriedengeben mit dem, was und wie wir sind. Der Schlaf, der uns nach des Tages Müh so wohl tut, darf keine ständige Lebensform werden. Wir sollten erneut darum wissen, in welcher besonderen und herausfordernden Zeit wir leben. Paulus verwendet hier ein eigenes griechisches Wort, nämlich „kairos", das einen besonders qualifizierten, schicksalsträchtigen Augenblick bezeichnet. Wir könnten hier frei übersetzen: Wir wissen, was die Stunde geschlagen hat! Paulus verwendet ein in der Urchristenheit geläufiges Bild: Die Stunde ist schon da, aufzustehen vom Schlaf. Die Menschen warten auf das Kommen des Menschensohnes. Plötzlich kündigt ein Weckruf die Ankunft des Erwarteten an (vgl. Mt 24,42 - 25,13). Nach einem Wort im Brief an die Epheser, das uns schon bei der Taufe zugerufen wird: „Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten, und Christus wird dein Licht sein." (5,14) Die Wachsamkeit muss jetzt besonders groß sein: „Denn jetzt ist das Heil uns näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden." Wie wichtig gesteigerte Wachsamkeit ist, unterstreicht Paulus nochmals durch das Bild vom kommenden Tag: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist (ganz) nahe." Der Apostel denkt aber nicht an eine kalendermäßig und chronologisch messbare Zeit, sondern er möchte die Konsequenzen für eine Lebensführung beschreiben, die dem „anbrechenden Tag" entspricht. Er spielt dabei mit der Bedeutung des Wortes Gottes: Tag in Gegensatz zu Nacht und Finsternis, wie er dies auch sonst öfter macht (vgl. Thess 5,1-10). Tag ist das Wort für das Licht des Tages, das von denen gemieden wird, die Unanständiges und Böses im Sinn haben. Ein solches Verhalten ist typisch für das Dunkel der Nacht. Die Finsternis der Nacht steht für die Macht, die das Böse will und wirkt. Der Tag steht für das hereinbrechende Licht der kommenden Herrschaft Gottes, die alles Böse überwinden und Heil für die bringen wird, die sich ihm glaubend geöffnet haben.

Musik 2: Wdh. Refrain Wach auf, der du schläfst (CD: „Singt Gott den neuen Lobgesang!", hrsg. vom Institut für Kirchenmusik des Bistums Mainz in Kooperation mit den Abteilungen Öffentlichkeitsarbeit und Kath. Rundfunkarbeit im Bistum Mainz, Vocalensemble Darm-stadt, Leitung Jorin Sandau; Frauenchor im Binger Vokalensemble, Leitung Alexander Müller).

Aber vielleicht muss man sogar noch einen Schritt zurückgehen, wenn in so deutlicher Form vom Aufstehen aus dem Schlaf gesprochen wird. Leben wir nicht manchmal einfach dahin, von Tag zu Tag, als ob alles gleich-gültig wäre, von der Hand in den Mund? Seit alter Zeit gilt der Mensch als ein Wesen der Wachsamkeit. Wir sind nicht Tiere, die allein ihrem Instinkt vertrauen können. Wir müssen viel aufmerksamer sein. Die Gefahren für den Menschen sind viel größer und wir sind auch anfälliger für vieles, was uns schädigt. Die Wächter auf den Türmen unserer Städte, die die ganze Nacht, während wir schlafen, Ausschau halten nach einem eventuell ausbrechenden Feuer, sie sind zugleich ein Sinnbild für den wachen Menschen - auch wenn wir heute keine Wächter mehr auf unseren Türmen haben.
Wachsam und aufmerksam sein kann man aber nur, wenn man etwas erwartet und erhofft, und sei es nur ein heller, gesunder Tag. Dabei ist es wichtig, dass wir etwas erwarten. Warten alleine genügt nicht, wir dürfen in unserem Leben nicht einfach herumsitzen, als ob wir ständig untätig wie in einem ewigen Wartezimmer sitzen. Absitzen nennt man so etwas. Dies würde aber auch bedeuten, dass wir unsere Lebenschancen verpassen und regelrecht verschlafen. Der Mensch ist, wie er ein Wachender ist, auch ein Wartender. Er hofft immer auf etwas. Sonst gibt es keine Spannung im Leben. Wir sind immer auch auf eine - und sei es auch eine noch so kleine - Erfüllung aus. Dies kann die Vorfreude sein auf das baldige Gelingen eines Vorhabens, das Eintreffen einer glücklichen Nachricht oder das Glücken einer lang ersehnten Begegnung, vielleicht ein Wiedersehen. Jedes Warten ist ein Stück weit die Vorwegnahme kommender Ereignisse, auf die wir uns insgeheim freuen. Ein Mensch, der gar nichts mehr zu erwarten hat, ist buchstäblich „fertig". Aber dann verlieren wir auch die Auszeichnung, ein Mensch zu sein.

Musik 3: Steh auf, werde licht (CD: „Singt Gott den neuen Lobgesang!", hrsg. vom Institut für Kirchenmusik des Bistums Mainz in Kooperation mit den Abteilungen Öffentlichkeitsar-beit und Kath. Rundfunkarbeit im Bistum Mainz, Vocalensemble Darmstadt, Leitung Jorin Sandau; Frauenchor im Binger Vokalensemble, Leitung Alexander Müller).

Der Advent setzt an diesem Punkt unserer menschlichen Erfahrung ein. Er hat etwas mit unse-rer Zukunft zu tun. Wir träumen von etwas, wir ersehnen etwas, wir hoffen auf jemand. Unsere Ziele können weit vor uns liegen wie ein Pfeil unserer Sehnsucht. Ja es können Träume und Utopien sein. Gerade wenn wir in Not sind, spüren wir, wie wichtig eine Wende ist, die wir erwarten. Viele Menschen, auch in unserer Welt, einzeln und in Gemeinschaft warten, dass sie ihren Hunger befriedigen, ihren Durst stillen und Gerechtigkeit erlangen können: Freiheit zumal. So ist der Advent immer auch gekennzeichnet durch viele Einzelne und ganze Völker, die durch die Nacht der Knechtung und der Bedrückung gehen. Deshalb sollten wir auch in der Adventszeit besonders sensibel sein für das Leiden und die Hilfsbedürftigkeit so vieler Menschen auf unserer Welt. Den Erwartungen anderer Raum zu geben, sie nicht ins Leere laufen zu lassen, ist ein wichtiges Werk des Friedens.
Die Menschen wissen seit uralter Zeit, dass dieser Friede nicht einfach von selbst kommt, au-tomatisch eintritt oder wie ein Blitz vom Himmel fällt. Sie erwarten vielmehr Menschen von ganz besonderer Art, die diesen Umschwung herbeiführen: Herrscher mit besonderem Ge-schick; aber Gewalt macht es nicht, sondern schafft nur neues Unrecht und Leid; Führer und Könige mit großer Weisheit und dem Willen zur Gerechtigkeit für alle. Aber dies sind ja Erwartungen, die oft in der Menschheitsgeschichte bitter enttäuscht wurden. Sie suchen nach einem wirklichen gerechten Richter, der die Wege zum Frieden eröffnet. Die Sehnsucht danach ist in allen Religionen groß.
Dies ist auch der Grund, warum man das Wort vom Advent, besonders seit dem Kommen Jesu Christi, nochmals anders verstehen kann. Advent heißt auf der einen Seite Zukunft, wie wir es bisher verstanden haben. Advent heißt aber auch Ankunft. Damit ist gemeint, dass unsere Zukunft von vorne her auf uns zukommt. Es ist eine Zukunft, die nicht wir einfach machen, sondern die uns von vorne geschenkt wird. Diese Zukunft ist dann etwas ganz Neues. Zukunft ist nicht zuerst „futurum": unsere nach vorne entworfenen Möglichkeiten, sondern „adventus": Gott selbst kommt von vorne auf uns zu. Gott spricht wie bei den Propheten: Ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben (vgl. z. B. Jer 29,11). So souverän und frei kann nur Gott selbst reden. In einem Menschenmund wäre ein solches Wort vermessen. Nur derjenige, der auch die Unwahrheit und die Sünde, die Ungerechtigkeit und den Tod besiegt, kann dieses steile Wort sagen: Ich gebe euch eine Zukunft und eine Hoffnung. Immer wieder wird der wartende Mensch dieses „Ich" suchen.

Musik 4: Die Nacht ist vorgedrungen (CD: O Heiland, reiß die Himmel auf. Vergessene Strophen der Weihnacht, Athesinus Consort Berlin, Leitung Klaus-Martin Bresgott).

Der Advent gibt uns eine neue Chance für einen solchen Aufbruch in unsere Zukunft hinein. Er stellt uns dabei Menschen zur Seite, die wirkliche Wegweiser sind. Sie helfen uns, dass wir nicht einschlafen und schläfrig bleiben. Sie wecken uns immer wieder, indem sie uns die Augen aufmachen. Wir sind nicht alleine, sondern haben Helfer und Tröster als Weggenossen in unserer Nähe. Es sind die Propheten des Alten Bundes, die uns durch die Jahrhunderte begleiten. Es gibt unter diesen Propheten auch Johannes den Täufer, der die Wege für einen Größeren bereitet. Und es gibt auf diesem Weg auch die zunächst so unscheinbare junge Frau aus dem einfachen Volk Israels, die Maria heißt und in ganz besonderer Weise wachsam und offen ist für das immer überraschende Wort Gottes in unser Leben hinein. Wenn wir auf diese Gestalten der Wachsamkeit und der Hoffnung achten, dann haben wir auch die Chance, in Jesus den Erlöser und Befreier von aller Ungerechtigkeit und Sünde, den Vollender unserer Hoffnung zu erkennen.

Freilich müssen wir noch etwas bedenken. Wenn wir nicht alles von unserem aktiven Tun, von Aktivismus und Religion erwarten dürfen, so erlangen wir auch keine Erfüllung unserer Hoff-nungen ohne unser Zutun. Gott schenkt Zukunft und Hoffnung nicht in schlechthin untätige Hände, so wenig sie alleine von unserer Leistung abhängig gemacht werden dürfen. Darum sagt uns der Heilige Paulus auch an Beispielen, die heute noch zutreffen: „Darum laßt uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Laßt uns ehrenhaft leben wie am Tag, ohne maßloses Essen und Trinken, ohne Unzucht und Ausschweifung, ohne Streit und Eifersucht." (Röm 13,12b-13). Darum gehört zur Verheißung eines neuen Anfangs auch der Auftrag, nach Gott zu suchen und nach ihm zu rufen.
So viele Lieder im Advent, die von weither kommen und die Sehnsucht der Menschen nach einer neuen Gerechtigkeit durch Jahrtausende hindurch erklingen lassen, helfen uns dabei zu rufen: „Herr, komm!" Aber zu diesem Komm müssen wir ihm entgegengehen.

Musik 5: Eingangschoral der Kantate „Wachet auf, ruft uns die Stimme" von J.S. Bach (CD: Bach: Cantatas, The Monteverdi Chor, The English Baroque Soloists, John Eliot Gar-diner).

Karl Kardinal Lehmann
Bischof von Mainz

(Musikauswahl: Diözesankirchenmusikdirektor Thomas Drescher)

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz