Warum?

Der globale Schock der Flutkatastrophe - astbeitrag für die Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" - Januar 2005

Datum:
Dienstag, 11. Januar 2005

Der globale Schock der Flutkatastrophe - astbeitrag für die Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" - Januar 2005

Wenn ich in diesen Tagen in ein Einkaufszentrum komme oder auf der Straße angesprochen werde, kommen immer wieder Menschen mit der bedrängenden Frage: Warum kann es eine solche Katastrophe geben? Warum lässt Gott so etwas zu?

Jede vorschnelle Antwort kann leicht falsch werden, auch wenn sie gut gemeint ist. Schon während meines Theologiestudiums habe ich an der Antwort gezweifelt, das Böse in der Welt würde ja schließlich am Ende der Tage in eine höhere Harmonie aufgelöst werden. Die unvorstellbaren Ereignisse in Auschwitz, das stellvertretend auch für alle anderen großen Verbrechen steht, haben solche Antworten ein für alle Mal außer Kraft gesetzt. Philosophie und Theologie dürfen nicht durch ein Übermaß spekulativer Erklärungsversuche dem Rätsel des Bösen und des Unheils in der Welt den Stachel nehmen.

Schon das Alte Testament weiß, wie schwer jede Frage ist, wenn junge Menschen einfach hinweggerafft werden. Die große Literatur hat immer wieder die so genannte Theodizee-Frage gestellt, wie nämlich der Glaube an Gott bzw. Gott selbst angesichts des immensen Leides gerechtfertigt werden könne. Es ist die Frage Dostojewskis, aber auch von Albert Camus, nach dem Leiden unschuldiger Kinder. Reinhold Schneider hat im „Winter in Wien“ (1958) das ganze Grauen vor allem auch in der nicht menschlichen Kreatur unvergesslich zur Sprache gebracht.

Wir dürfen auch große Katastrophen der jüngsten Zeit nicht vergessen. Als 1755 Lissabon durch ein Erdbeben dem Erdboden gleich gemacht wurde und zwei Drittel aller Einwohner getötet wurden – die untersten Zahlenangaben sprechen von 30.000 – und als vor 60 Jahren allein bei der Zerstörung Dresdens 35.000 Tote identifiziert wurden, haben die Menschen geradezu das Ende der Welt nahe gefühlt.

Bei der Katastrophe in Südostasien sind nicht nur die Opferzahlen noch höher. Die modernen Kommunikationsmittel verbreiten im Nu, was sonst der gesamten Menschheit im ganzen Ausmaß eher verborgen bliebe. Diesmal gibt es wirklich einen globalen Schock. Er hat die Menschheit auch deshalb so überrascht, weil wir an Naturkatastrophen dieses Ausmaßes kaum mehr glaubten. Das Unheil in der Welt schien weitgehend durch Menschen bedingt zu sein, durch Kriege und Terrorismus, evtl. auch durch den Frevel an unserer Umwelt. Aber jetzt zeigt sich, dass die Natur, die wir sonst für fast gebändigt gehalten haben, wirklich ungeheuerliche Kräfte in sich birgt, die uns wehrlos überfallen können und in eine kaum mehr vorstellbare Ohnmacht fallen lassen. Wir müssen plötzlich wieder eine kreatürliche Armut zur Kenntnis nehmen, die unserem Bewusstsein weitgehend fremd geworden war.

Dies alles kann nicht verhindern, dass wir immer wieder die Frage nach dem „Warum?“ stellen. Auch wenn wir sie kaum beantworten können, so meldet sie sich immer wieder in ihrem ganzen Gewicht. Wie kann man eine Schöpfung lieben, in der Kinder gemartert werden? Der Atheismus glaubte immer wieder, hier eine besondere Stärke gegen jeden Gottesglauben zu haben: „Die einzige Entschuldigung für Gott besteht darin, dass er nicht existiert.“ (F. Nietzsche)

Das religiöse Denken unserer Zeit ist seit „Auschwitz“ und der Erfahrung des Holocaust an dieser Stelle viel sensibler geworden, gewiss nicht überall. Die Theologie kümmert sich wirklich solidarisch um die Schreie der Menschen in Leid und Not. Man kennt bei allem Scharfsinn die Grenzen der Theorie. Es gibt andere Formen der Auseinandersetzung mit dem Leid. Seit Ijobs harten Fragen an Gott gibt es sogar im Rahmen der Offenbarung ein Richten mit Gott, ja eine Anklage. So ist die Klage selbst schon eine erste Hilfe in der Not. Das elementare Gebet, zu dem schließlich auch der Gottverlassenheitsruf Jesu (vgl. Mt 27,46, vgl. auch 26,39ff.) gehört, ist eher der Ort, wo man nicht von Außen, sondern im Ringen des Glaubens mitten in aller Bodenlosigkeit so etwas wie einen Halt finden kann. Dies kann aber nicht von Außen andemonstriert werden. Man muss auch mit Gott selbst kämpfen, um seinen Segen zu erhalten, wie uns Jakob (vgl. Gen 32,23-33) in seiner Gottesbegegnung lehrt.

Wenn uns auch bei der Suche nach einer Antwort nach dem „Warum“ fast die Worte ausbleiben, so können wir dennoch etwas tun: Helfen. Die Tat des Lebens bringt uns manchmal weiter, wenn wir sonst nur noch stammeln können. Dies ist die Chance unserer Stunde: Es gibt nicht nur eine wirtschaftlichen Interessen folgende Globalisierung, auch nicht nur den weltweit lähmenden Schock, sondern es gibt eine globale Hilfsbereitschaft wie selten vorher. Hoffentlich ist es nicht nur der kurzlebige Ausdruck unserer Verlegenheit, sondern wirklich die Initialzündung zu einem neuen Denken in globaler Verantwortung. Nutzen wir die Stunde dafür?

 

© Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz