Warum soviel Kleinglaube? - Zur Situation der Kirche heute

Kolumne von Kardinal Lehmann in der Kirchenzeitung "Glaube und Leben"

Datum:
Sonntag, 5. Oktober 2014

Kolumne von Kardinal Lehmann in der Kirchenzeitung "Glaube und Leben"

Wir haben gewiss in den letzten Jahren eine Reihe von Erfahrungen mitgemacht, die dem Ansehen der Kirche schwer geschadet haben. Es fing nach der Jahrtausendwende an mit einigen Fällen des sexuellen Missbrauchs. Ein Jahrzehnt später wurde von diesen Vergehen noch mehr aufgedeckt, auch wenn es relativ wenige Täter waren. Aber jeder ist einer zu viel. Die Affäre um den früheren Limburger Bischof kam hinzu und hat zusätzlich Vertrauen erschüttert. Von manchen, die der Kirche eher feindselig gegenüberstehen, wurde dies oft in unverschämter Weise ausgeschlachtet, Transparente unter dem Titel „Limburg ist überall!" waren zu sehen. Wir durften uns nicht viel beklagen, denn die Ursache für die harte Kritik lag bei uns selbst. Wenn die Angriffe pauschal gegen die Kirche und die Bischöfe im Ganzen gerichtet wurden, war es dennoch nicht so einfach, diese Angriffe zu ertragen, wenn man selbst überhaupt nicht beteiligt und verantwortlich war.

In der Zwischenzeit ist viel Wasser den Rhein hinuntergeflossen. Vieles ist aufgearbeitet worden, wie z.B. Gespräche mit Betroffenen, Wiedergutmachung in vieler Hinsicht und zahlreiche Präventionsmaßnahmen, um nur an den sexuellen Missbrauch anzuknüpfen. Wir haben zehntausende Menschen, die vom Kindergarten bis zur Jugendarbeit täglich auf allen Ebenen Kinder und Jugendliche begleiten, denen man nichts vorwerfen kann. Auch dies gehört zur Wahrheit.

Es war auch klar, dass diese Welle von Kritik nicht rasch endet, sondern gerne wurde die Geschichte z.B. von der Limburger Badewanne immer wieder hervorgezogen. Wir werden noch eine Weile damit zu tun haben. Es war auch zu erwarten, dass eine gewisse Depression die Einstellung vieler in der Kirche erfasst. Wir werden immer wieder von schlechten Nachrichten eingeholt, die diese Stimmungen am Leben erhalten, so z.B. die hohe Zahl der Kirchenaustritte, der immer schwächer gewordene Gottesdienstbesuch usw.

Aber manchmal habe ich den Eindruck, dass wir selbst diese negative Stimmung auch pflegen. Manche können nicht oft genug wiederholen, die Kirche wäre am Ende. Niemand wisse, was in zehn Jahren sei, darum sei es geradezu unmöglich, die Kirche der Zukunft zu organisieren. Selbstquälerisch hört man immer wieder die Frage: Warum kommen wir nicht an!?

Diese Selbstzweifel findet man nicht nur im Volk Gottes, sondern auch bei vielen in Amt und Diensten. Die Alternative besteht nicht darin, dass man den Kopf in den Sand steckt und nicht genau wissen will, was los ist. Wir müssen der Wirklichkeit schonungslos in die Augen sehen.

Aber dies geht nur anders mit den „Augen des Glaubens". Wir sollten doch gerade in unseren Tagen nicht übersehen, wo überall Kirche gebraucht wird und wo sie durch eine große Zahl von Gläubigen, besonders der Laien und des Ehrenamtes, in den Nöten unserer Tage unterstützt wird. Dies gilt z.B. auch für die Sorge um die Migranten und um die Flüchtlinge aus aller Welt, besonders auch für die vielen „unbegleiteten Kinder", die ohne Eltern und Verwandte, ohne Mittel und ohne Sprachkenntnisse bei uns stranden - und Gott sei Dank so viele eindrucksvolle Helferinnen und Helfer finden. Es sind gerade in den Kirchen viel mehr, als wir in den Medien erfahren.

Wir erfahren buchstäblich jeden Tag weltweit, wie die Gewalt, oft besonders grausam, in den großen Krisengebieten unserer Welt, die geradezu aus dem Boden geschossen sind, herrscht und zerstörerisch wirkt. Sehen wir nicht handgreiflich das Elend, aber auch die Chancen der Gewaltlosigkeit und der Solidarität mit den bedrängten Menschen? Geht uns nicht dadurch noch deutlicher auf, wie dringend die Welt die biblische Botschaft vom Frieden, das Evangelium Jesu Christi braucht?

Warum trauen wir so wenig dieser Botschaft? Warum kommen wir über viel Missmut und Depressionen nicht hinaus? Warum wiederholen wir oft nur die schlechten Botschaften von gestern? Der christliche Glaube kann Berge versetzen. Warum zeigen sich bei den Glaubenden heute so viel Zweifel? Der Evangelist Matthäus nennt dies in seinem Evangelium „Kleinglaube". Er weiß, dass nicht nur die Glaubenslosigkeit und ein militanter Atheismus lähmen, sondern dieser Kleinglaube. Er ist der Unglaube der Jünger. Dabei geht es nicht um eine grundsätzliche Verweigerung des Glaubens, sondern um Mangel an Vertrauen und fehlendes Durchhalten des Glaubens. Auch dafür braucht es Umkehr und Erneuerung.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

Diese Gastkolumne lesen Sie auch in der gedruckten Ausgabe der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 5. Oktober 2014

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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