Was Jesus Christus annimmt, erlöst er auch

Predigt an Weihnachten, 25. Dezember 2013, im Mainzer Dom

Datum:
Mittwoch, 25. Dezember 2013

Predigt an Weihnachten, 25. Dezember 2013, im Mainzer Dom

Verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn! Gott wird Mensch. Aber verträgt sich beides miteinander, der allmächtige Gott und der sterbliche Mensch? Sind nicht Missverständnisse geradezu programmiert, um den menschgewordenen Sohn Gottes in seiner Einzigartigkeit zu verfehlen? Große Geister haben über Jahrhunderte dieses Geheimnis für uns Menschen zu erschließen versucht. Es bleibt ein Geheimnis. Aber es ist nicht sicher, ob nicht auch wir heute die Wahrheit von Weihnachten verkennen.

Jesus ist ein wirklicher Mensch wie wir alle. Die Evangelien beschreiben ihn in seiner ganzen Menschlichkeit: er wird von einer menschlichen Mutter geboren, wächst und reift heran, lernt einen Beruf, hat Hunger und Durst, wird versucht, wird müde, stellt Fragen, spürt Mitleid, freut sich besonders an Kindern, er wird aber auch zornig, vor allem über die Hartherzigkeit der Menschen, er hat Angst, leidet Schmerzen, wird ungerecht bestraft und stirbt schließlich am Kreuz. Jesus ist ein Mensch mit Leib und Seele, er hat die Höhen und Tiefen des Menschseins durchlebt und durchlitten. Er ist unser Bruder (vgl. Joh 20,17; Röm 8,29; Hebr 2,1).

Der Hebräerbrief fasst das Zeugnis der Evangelien zusammen: „Wir haben ja nicht einen Hohepriester, der nicht mitfühlen könnte mit unserer Schwäche, sondern einen, der in allem wie wir in Versuchung geführt worden ist, aber nicht gesündigt hat." (4,15) Er war in allem uns gleich, ausgenommen die Sünde. Vielmehr hat er sein Leben hingegeben „für viele", d.h. für alle (vgl. Mk 10,45). Diese Hingabe an den Willen des Vaters und für die Menschen bestimmt sein ganzes Leben und Sterben. In diesem Für-euch, Für-uns und Für-alle ist Jesus Christus in wirklich menschlicher Gestalt die Erscheinung der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes (vgl. Tit 3,4). Dass Jesus wie ein Verbrecher am Kreuz stirbt, war „für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit" (1 Kor 1,23). Darum fällt für die frühe Christenheit auch die Entscheidung mit dem Bekenntnis, „dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist". Wer sich dazu nicht bekennt, der ist ein Antichrist (vgl. 2 Joh 7; vgl. 1 Joh 4,3). Schon früh traten nämlich Irrlehrer auf, die behaupteten, Jesus habe nur einen Scheinleib gehabt und er habe nur zum Schein gelitten. Einer der ersten Kirchenväter, Ignatius von Antiochien, erkannte bereits in seinem Brief an die Gemeinde von Smyrna um 110, dass wir dann auch nur zum Schein erlöst sind. Das Christentum würde sich in eine Scheinwirklichkeit auflösen.

Nur wenn Gott leibhaftig in unser menschliches Fleisch und Blut eingegangen ist, dann hat er uns auch in unserer Menschlichkeit erlöst. Heil und Erlösung sind dann nie nur innerliches Heil bloß unserer Seele, sondern zielen auf das Heil- und Ganzsein des Menschen. Wir müssen die Menschwerdung Jesu ohne untergründige Täuschung verstehen: die Menschheit Jesu ist keine Verkleidung, ein lebloses Instrument oder gar eine Art Marionette in der Hand Gottes. Nur wenn Jesus Christus nicht nur wahrer Gott, sondern auch wahrer Mensch ist, kann er uns erlösen, wie Anselm von Canterbury immer wieder betont. Nur allzu gern denken wir die Menschwerdung Jesu wie ein Märchen. Er streift wie ein Komet unsere Erde und unser Menschenleben. Nein, Gott selbst kommt wirklich in die Niederungen unseres Lebens, wird ein Kind, liegt in einer Krippe, wird unterwegs in der Fremde geboren, wird ein Flüchtlingskind. Er zieht nicht bloß die Gala-Uniform eines Menschen an, die er abstreift, wenn es blutig und brenzlig wird. Er leidet die Tiefen und Nöte des Menschen aus. Er spielt nicht Theater. Er erfährt von der Krippe bis zum Kreuz die Schikanen und die hinterhältigen Fallen der Menschen. Jesus leidet an der Härte der Menschen, an ihrer Unbußfertigkeit, am Hass, an den Krankheiten seiner Mitmenschen und an der Verachtung vieler Menschengruppen zur damaligen Zeit. Es sind nicht nur die Heiden und manche Nachbarn desselben Religionsstammes, wie etwa die Samariter, sondern auch Frauen und Kinder.

Jesus wird auf vollkommene Weise Mensch, indem er diese Situationen annimmt und auch ausleidet. Dadurch gibt er uns gewiss ein Beispiel, dass auch wir in solchen Situationen nicht einfach verzweifeln. Und doch bedeutet die Annahme des ganzen Menschseins mit seinen Höhen und Tiefen noch mehr. Er hat nämlich durch sein Kommen und durch die Hingabe seines Lebens das Unheil, das uns Menschen immer wieder bedrängt, grundlegend überwunden und Heilung gebracht. Die hl. Schrift hat dafür sehr viele Worte und Bilder: Erlösung, Befreiung, Loskauf. Er schenkt uns neues Leben. Wir sagen dies so leicht. Es gehört gewiss zu den Grundaussagen unseres Glaubens, dass dies so ist. Aber wir müssen noch tiefer in diese Wahrheit eindringen: Alles, was Jesus Christus durch seine menschliche Natur angenommen hat, das hat er auch erlöst und geheiligt, befreit und erneuert. Dies gilt nicht nur für die Menschwerdung Gottes. Es ist nicht nur eine schöne Utopie, der wir an Weihnachten für einige Stunden erliegen. Die Menschwerdung Gottes ist zwar ein einmaliges Ereignis, aber zu ihr gehört die ganze Geschichte dieses Lebens mit allen Folgen. So gibt es keine menschliche Situation, die durch das Leben und Sterben Jesu nicht eine innere Umwandlung erfahren hätte. Weil Gott in Jesus Christus alles, was er angenommen hat, auch erlöst hat, darum gibt es grundsätzlich keine menschliche Situation mehr, in der nicht die Liebe über alle Gestalten des Hasses und des Todes siegen könnte. Es gibt keinen Ort und keinen geschichtlichen Aufenthalt, der nicht zu einer Möglichkeit des Heils werden kann. Dies zeigen schon die Geburtsgeschichten bei Matthäus und Lukas, wenn man sie sorgfältig liest. Es gilt aber auch für den Abstieg Jesu in die Unterwelt, in die „Hölle". Auch dorthin bringt er Befreiung und Heil.

Wir können nämlich schon in den Geburtsgeschichten Jesu viele Nuancen und Anspielungen entdecken: Heimatlosigkeit, Kargheit des Lebens, Zurückweisung in der Not, Kindermord, Flucht. Mitten in diesem Elend der Geschichte gibt es jedoch die Kunde des Engels, die Verheißung vom Frieden auf Erden und die wenigen Treuen, die sich um das Kind sorgen. Der Glaube der Kirche hat schon sehr früh im Anschluss an die Hl. Schrift von einem „heiligen Tausch" gesprochen. „Denn ihr wisst, was Jesus Christus, unser Herr, in seiner Liebe getan hat: Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen." (2 Kor 8,9) Stets wiederholen die Väter des Glaubens von den Anfängen her dieses große Geschenk: „O beglückender Tausch! Die Bosheit vieler wird in dem einen Gerechten verborgen, die Gerechtigkeit des Einen rechtfertigt viele Ungerechte!" (Diognetbrief 9,2) Immer wieder wird uns gesagt: „Denn für uns ist er arm geworden, damit wir durch seine Armut reich würden." Der hl. Augustinus spricht schon vom „Tausch der Liebe". Martin Luther hat über ein Jahrtausend später vom „fröhlichen Wechsel" gesprochen. Der Jubel überschlägt sich geradezu, wenn dieser Platztausch zwischen Arm und Reich überschwänglich wird und z.B. Cyrill von Alexandrien zu dem Wort greift: „Gott ist Mensch geworden, damit wir Götter werden und Söhne". Es kann so auch geradezu ein gefährliches Wort werden.

Aber davor behütet uns das nähere und tiefere Verständnis. Diese Freude ist nicht folgenlos. Wenn unsere Maßstäbe durch diesen Platztausch auf den Kopf gestellt werden, dann hat dies auch Konsequenzen für unser Leben. Groß ist man z.B. nicht einfach durch Macht, Glanz und Überheblichkeit, schon gar nicht durch Gewalt. Die Größe Gottes zeigt sich - dies offenbart sich an Weihnachten - im Schonen und Verzeihen. Dann gilt dies auch für unsere Weihnachtsfreude. Die Bewegung, dass Gott unseretwegen arm wird, vollendet sich erst, wenn wir den von ihm empfangenen Reichtum weiterschenken. Sonst bleiben wir in einem Sinne reich, den die Hl. Schrift bitter tadelt (vgl. Mk 10,17ff.; Lk 12,22; 1,53; 6,24; 16,19ff. u.ö.). Wer zu dieser Freigiebigkeit bereit ist, der kann auch als Armer Reichtum schenken. So sagt der hl. Paulus: „Wir sind arm und machen doch viele reich." (2 Kor 6,10) Paulus spricht hier von einem „Ausgleich": „Im Augenblick soll euer Überfluss ihrem Mangel abhelfen, damit auch ihr Überfluss einmal eurem Mangel abhilft." (2 Kor 8,14, vgl. auch Vers 13)

Wir sind es gewohnt, dass wir seit über 50 Jahren (1961) die Menschen in Lateinamerika durch die Sammlung ADVENIAT in ihrer Armut unterstützen. Im Gesicht des Armen begegnet uns Jesus selbst. Dies gilt für die kleinen und großen Werke der Liebe. Der Papst aus Lateinamerika erinnert uns durch seine Worte und Gesten ganz leibhaftig an unseren Auftrag. Papst Franziskus hat diese Sammlung uns aus der Kenntnis der Fruchtbarkeit in diesem Jahr, in dem er zum ersten Mal Weihnachten mit uns feiert, in einem eigenen Grußwort an unser Herz gelegt und schreibt uns: „Die Liebe ist eine geistliche Kraft, die uns verwandeln will. Er, der unseretwegen arm wurde, lädt uns ein, ihm ähnlich zu werden: hinauszugehen, uns klein zu machen mit den Kleinen und arm mit den Armen ... In Europa, wo Wohlstand herrscht, ist uns manchmal nicht bewusst, wie groß die Armut in der Welt ist. Es fehlt an so vielem, nicht nur an Nahrung und Unterkunft, sondern auch an ärztlicher Versorgung, an Bildung, an einem gesunden Sozialgefüge ... Ich vertraue auf euer großes Herz, das, je mehr es sich verschenkt, umso mehr mit Gottes Gaben neu gefüllt wird." (Grußwort von Papst Franziskus zur ADVENIAT-Aktion 2013)

Meine sehr verehrten lieben Schwestern und Brüder, der Unmut und die Enttäuschung über Ereignisse in der Kirche, besonders auch in unserem Nachbarbistum Limburg, darf nicht dazu führen, dass wir die Hilfe für die Armen in Afrika, Asien und Lateinamerika aufkündigen. Papst Franziskus bittet uns in besonderer Weise darum.

Platztausch zwischen Reich und Arm, fröhlicher Wechsel der Liebe - das ist ein Thema von ungeahnter Tiefe. So kann Gott unser Schicksal wenden und macht aus unserer oft so aussichtslos erscheinenden Situation eine hoffnungsvolle. Die Freude an Weihnachten ist erst dann voll erlaubt, wenn wir Weihnachten in diesem Sinne zu Ende denken. Die Liebe Gottes ist unüberbietbar. Dann sollten wir auch alles für sie geben. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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