mit einem Beitrag "Warum ich in der Kirche bleibe" (zum Download im Anhang)
Inhalt
I. Der Kirchenaustritt als Phänomen der Gegenwart
II. Die grundlegende Zugehörigkeit des Getauften zu Jesus Christus und seiner Kirche
III. „Kirchenaustritt" in der Sichtweise des weltlichen Rechts
IV. Kirchenmitgliedschaft und „Austritt" in der Sichtweise des kirchlichen Rechts
V. Kirchliche Folgen des Austritts
VI. Die Möglichkeiten eines pastoralen Gesprächs
VII. Rückkehr und Wiedereingliederung
Verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
I. Der Kirchenaustritt als Phänomen der Gegenwart
Das Verhältnis auch der katholischen Christen zu ihrer Kirche macht einen Wandel durch. Es gibt gewiss noch viel Treue und Solidarität.
Viele tragen die Kirche durch ihre Loyalität mit, auch wenn sie an manchen Schwächen der Kirche leiden. Vor einiger Zeit war es noch verpönt, in einer gesellschaftlichen Runde über Kirchenaustritt zu reden. Langsam lockerte sich diese Scheu. Heute hört man in gewissen Kreisen eher die Frage: Was, du bist noch in der Kirche? Bischöfe erhalten nicht selten Briefe mit Ankündigungen eines Kirchenaustritts.
Einen Höhepunkt von Austritten gab es im Jahr 2010 im Zusammenhang des Bekanntwerdens sexueller Missbrauchsfälle. Wir haben für dieses letzte Jahr im Bistum Mainz ziemlich genau 7.000 Austritte zu beklagen. Die bisherige Jahreshöchstzahl betrug vor der Jahrtausendwende an die 8.000; die niedrigste Zahl belief sich im Jahr 2006 auf rund 3.500; im Durchschnitt der letzten Jahre waren es jeweils ca. 4.500 bis 5.000 Austritte. Es ist also jedes Jahr zahlenmäßig eine große Pfarrei, die wir verlieren.
Wir haben diese Entwicklung immer mit Sorge verfolgt. Ich bedauere jeden einzelnen Austritt. Wenn es irgendwie geht und gewünscht wird, kommen wir vor allem vor Ort mit Ausgetretenen und Austrittswilligen in ein Gespräch. Es ist aber nicht leicht, sie zurückzugewinnen. Immerhin sind im letzten Jahrzehnt pro Jahr durchschnittlich 400 katholische Christen im Bistum Mainz wieder zurückgekommen; weitere 300 Mitchristen kamen jeweils durch Konversionen und Erwachsenentaufen zu uns. Es ist auf jeden Fall Zeit, in einem Hirtenwort auf diese Entwicklungen zu sprechen zu kommen.
II. Die grundlegende Zugehörigkeit des Getauften zu Jesus Christus und seiner Kirche
Der Glaube an Jesus Christus erfordert eine personale Entscheidung. Man ist nicht einfach Christ, weil man in einem bestimmten Land oder in einer bestimmten Nation geboren wird. Die Praxis der Kindertaufe ist hier kein Gegenargument, denn sie setzt die persönliche Entscheidung der Eltern und die spätere Bekräftigung durch den Getauften, zum Beispiel in der Firmung, voraus. Die Zugehörigkeit zur Kirche ist also immer auch Ergebnis einer persönlichen Entscheidung. Man wird Christ durch Glaube und Taufe. Durch sie werden wir mit Jesus Christus und dem Heiligen Geist verbunden (vgl. Röm 6,3; 1 Kor 1,13.15). Dies geschieht nicht nur für den Augenblick, sondern ein für allemal, wirksam und dauerhaft. Der hl. Paulus gebraucht in diesem Zusammenhang das Bild vom „Siegel" Jesu Christi und des Heiligen Geistes, mit dem Gott uns „in der Treue zu Christus festigt und der uns gesalbt hat" (2 Kor 1,21f.). Die Überlieferung spricht deshalb von einem „unauslöschlichen Merkmal", das den Getauften in seiner bleibenden Verbundenheit mit Jesus Christus und durch ihn mit der Kirche prägt.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die katholische Kirche theologisch und spirituell keinen „Kirchenaustritt" kennt, wenn man darunter den völligen Verlust der durch Glaube und Taufe grundgelegten Zugehörigkeit zu Jesus Christus und der Kirche versteht. So gilt durchaus der alte Grundsatz: Semel catholicus, semper catholicus, das heißt: einmal katholisch, immer katholisch.
III. „Kirchenaustritt" in der Sichtweise des weltlichen Rechts
Das weltliche Recht hat einen anderen Blickwinkel auf die Zugehörigkeit eines Bürgers zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft. Vor dem Hintergrund einer besonderen geschichtlichen Entwicklung in Deutschland - Stichworte: konfessionelle Spaltung, Bemühung um Religionsfrieden - möchte der Staat durch die Ermöglichung eines Kirchenaustritts vor einer staatlichen Behörde die Religionsfreiheit seiner Bürger gewährleisten. So räumt er einzelnen Kirchenmitgliedern - als Bürgern - die Möglichkeit ein, sich jederzeit von einer Konfession oder Religionsgemeinschaft zu distanzieren und sich durch einen „Austritt" zum Beispiel auch der Kirchensteuerpflicht zu entledigen.
Dabei kann der Staat jedoch nicht festlegen, welche Folgen ein Kirchenaustritt für das innere Verhältnis des einzelnen Mitglieds zu seiner Kirche hat. Das obliegt allein der jeweiligen Kirche bzw. Religionsgemeinschaft. Vor diesem Hintergrund gehen Versuche fehl, Kirchenaustrittserklärungen vor staatlichen Stellen so abzufassen, dass sie unterscheiden möchten zwischen der Kirche als Glaubensgemeinschaft, in der man bleiben wolle, und der steuerberechtigten Körperschaft, die man verlassen möchte. Höchste Gerichte, insbesondere das Bundesverfassungsgericht selbst, haben solche „modifizierten Kirchenaustritte" als unzulässig zurückgewiesen. Und das zu Recht. Es muss jeder Religion selbst überlassen bleiben, welches Maß an religiöser Identifizierung und welche Formen religiöser Betätigung sie von ihren Mitgliedern fordert. Die katholische Kirche kann zwar durchaus Kirche in ihren Dimensionen als „Glaubensgemeinschaft" und „Körperschaft Öffentlichen Rechts" unterscheiden; sie kann diese verschiedenen Ebenen aber nicht trennen und schon gar nicht zulassen, dass man sie gegeneinander ausspielt. Eine solche Trennung verbietet sich im Blick auf die beständige katholische Lehre über die Kirche, wie sie auch das Zweite Vatikanische Konzil vorgetragen hat.
Das Konzil sagt dazu wörtlich: „Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst." (LG 8).
IV. Kirchenmitgliedschaft und „Austritt" in der Sichtweise des kirchlichen Rechts
Wir müssen also vor diesem Hintergrund fragen, wie es um die Folgen für einen ausgetretenen Katholiken innerhalb der Kirche bestellt ist. Es geht dabei um die Aufgaben der Wahrung der Einheit der Kirche, des Zeugnisses in der Welt und der vielfältigen Unterstützung der Kirche. Hierfür sei im Einzelnen zunächst an einige Passagen aus dem kirchlichen Gesetzbuch von 1983 (CIC) erinnert, die weitgehend in Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils wurzeln:
- „Durch die Taufe wird der Mensch der Kirche Christi eingegliedert und wird in ihr zur Person mit den Pflichten und Rechten, die den Christen unter Beachtung ihrer jeweiligen Stellung eigen sind." (can. 96) Damit ist eine konkrete Sendung in die Welt verbunden (can. 204 §§ 1-2).
- Voll in der Gemeinschaft der katholischen Kirche stehen jene Getauften, die - „im Besitz des Geistes Christi" (LG 14) - durch „die Bande des Glaubensbekenntnisses, der Sakramente und der kirchlichen Leitung und Gemeinschaft ... in ihrem sichtbaren Verband mit Christus" verbunden sind (LG 14, vgl. can. 205).
- „Die Gläubigen sind verpflichtet, auch in ihrem eigenen Verhalten, immer die Gemeinschaft mit der Kirche zu wahren." (can. 209 § 1)
- „Die Gläubigen sind verpflichtet, für die Erfordernisse der Kirche Beiträge zu leisten, damit ihr die Mittel zur Verfügung stehen, die für den Gottesdienst, die Werke des Apostolates und der Caritas sowie für einen angemessenen Unterhalt der in ihrem Dienst Stehenden notwendig sind." (can. 222 § 1)
- Der Diözesanbischof hat unter bestimmten Bedingungen das Recht, eine Abgabe für die notwendigen Bedürfnisse der Ortskirche festzulegen (vgl. can. 1263). Auf diese Ermächtigung bezieht sich ganz wesentlich die Kirchensteuer-Praxis der Kirche in Deutschland.
Aus der Sicht der Kirche kann kein Zweifel daran bestehen, dass durch die Erklärung des Austritts aus der Kirche vor der staatlichen Behörde „mit öffentlicher Wirkung die Trennung von der Kirche vollzogen" wird. So wird es in einer Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz vom 24. April 2006 formuliert.
Die Verweigerung der Kirchensteuer ist dabei nicht etwa ein geringfügiges Vergehen oder eine zu vernachlässigende Randerscheinung. Im Kern ist sie vielmehr eine Aufkündigung der Solidarität und eine „schwere Verfehlung, gegenüber der kirchlichen Gemeinschaft (Communio)". (So ebenfalls in der genannten Erklärung.) Man wird zugestehen müssen: Häufig ist der Kirchenaustritt Ausdruck eines Protestes. Die Motive für solche Proteste sind vielfältig. Ob man nun die Folge eines Kirchenaustritts als "Exkommunikation" bezeichnet oder nicht: in der Regel wird der Austritt als ein schwerwiegender Verstoß zu werten sein, der wegen der Trennung von der Einheit der Kirche und der Verweigerung der kirchlichen Gemeinschaft gravierende Konsequenzen nach sich zieht.
V. Kirchliche Folgen des Austritts
Der Ausgetretene bleibt aufgrund seines Getauft-Seins zwar Glied der Kirche, aber er verliert viele wichtige Rechte als Mitglied der Kirche (sogenannte „Gliedschaftsrechte"). Das heißt konkret:
- Außer in Todesgefahr keine Teilnahme an den Sakramenten der Buße, der Eucharistie, der Firmung und der Krankensalbung;
- Keine Übernahme von Ämtern und Funktionen in der Kirche, auch nicht in pfarrlichen und in diözesanen Räten;
- Keine Ausübung des Dienstes als Tauf- und Firmpate;
- Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts in der Kirche;
- Ausschluss von der Mitgliedschaft in öffentlichen kirchlichen Vereinen;
- Gemäß kirchlichem Arbeitsrecht fristlose Kündigung von kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Fall ihres Kirchenaustritts;
- Widerruf einer kirchlichen Ermächtigung zur Ausübung von Diensten wie zum Beispiel einer Lehrbefugnis („missio canonica" oder „nihil obstat");
- Mögliche Verweigerung eines kirchlichen Begräbnisses, falls die ausgetretene Person nicht vor dem Tod irgendein Zeichen der Reue zum Ausdruck brachte.
VI. Die Möglichkeiten eines pastoralen Gesprächs
Am wichtigsten ist für uns die Frage, wie wir in der Seelsorge mit dem Problem der Kirchenaustritte umgehen und wie wir jedem einzelnen Menschen, der austreten will oder ausgetreten ist, begegnen. Dafür gibt es keine generelle Lösung. Denn die Motive und Anlässe für einen Kirchenaustritt sind sehr verschieden. Einige Menschen treten eher spontan aus, weil sie sich gerade mächtig z.B. über irgendein Verhalten kirchlicher Autoritäten ärgern, also zum Beispiel über Pfarrer, Bischof oder Papst. In solchen Fällen ist es noch am ehesten möglich, dass die Betroffenen ihre Entscheidung noch einmal überdenken, wenn sich ihr Ärger wieder etwas gelegt hat. Andere wiederum verlassen die Kirche, weil sie tief enttäuscht darüber sind, dass sie in einer schwierigen Situation keine Hilfe gefunden haben. Schließlich gibt es auch noch jene, die vor ihrem Austritt schon sehr lange keinen Kontakt zur Kirche mehr hatten und in einem weiteren Bleiben einfach keinen Sinn sehen. Der Kirchenaustritt ist dann nur das Ende eines langen Entfremdungsprozesses. Hier ist es gewiss am schwierigsten, von kirchlicher Seite aus noch einmal das Gespräch aufzunehmen. Doch sollten wir es auch in solchen Fällen wenigstens versuchen. Denn jeder Austritt ist einer zu viel.
Umso wichtiger ist es, bereits im Vorraum einer solchen Entscheidung zu einem Gespräch zu kommen. Nach meiner eigenen Erfahrung ist es nicht selten noch möglich, manche Konflikte zu mildern oder einen Austritt sogar ganz zu verhindern. Schwieriger ist die Lage, wenn der Austritt bereits erfolgt ist. Hier zeigt sich ein Nachteil der deutschen Regelung, dass der Austretende seine Erklärung vor einer staatlichen Instanz abgibt (mit Ausnahme von Bremen) und die Kirchengemeinde erst hinterher davon erfährt. Ursprünglich hat diese Regelung die Absicht, die Freiheit des Einzelnen darin zu schützen, sich ohne jeden äußeren Druck auch gegen die Ausübung einer bestimmten Religion entscheiden zu können. Für eine so höchstpersönliche Entscheidung ist diese Bestimmung in gewisser Hinsicht also verständlich. Aber sie erschwert der Kirche jede rechtzeitige Kontaktaufnahme.
In der Regel kann der Pfarrer sich zumeist erst nachträglich an eine ausgetretene Person wenden und zu einem Gespräch über den Austritt und dessen Gründe einladen. Auch wenn man niemandem den Ernst einer solchen Entscheidung, die Kirche zu verlassen, absprechen möchte, so kann vielleicht doch noch in einem Gespräch das eine oder andere Missverständnis geklärt werden. Vielleicht geht manchem auch dann erst die Tragweite der getroffenen Entscheidung auf. Selbst wenn dadurch - wenigstens im Augenblick - kein Sinneswandel eintritt, so kann die ausgetretene Person dennoch spüren, dass der Kirche der Verlust eines Mitglieds keineswegs gleichgültig ist, und zwar bei weitem nicht nur im Blick auf die finanziellen Folgen.
VII. Rückkehr und Wiedereingliederung
Wer aus der Kirche ausgetreten ist, kann diesen Schritt im Prinzip jederzeit wieder rückgängig machen. Dann wird die Kirchenmitgliedschaft wieder belebt und die Beschränkung der Mitgliedsrechte aufgehoben. Dies ist aber nicht gleichzusetzen mit einem Wiedereintritt in irgendeinen Verein, den man einmal verlassen hat. Es muss aufrichtige Reue und echte Umkehrbereitschaft vorliegen. Insofern der Kirchenaustritt als Trennung von der Einheit und Gemeinschaft mit der Kirche und damit auch als „Schisma" (mit der Folge der „Exkommunikation") beurteilt werden kann (vgl. can. 751; 1364 § 1), bedarf es zur Wiedereingliederung der Versöhnung mit der Kirche, also einer sogenannten „Rekonziliation". In der Regel wird diese Versöhnung in Gegenwart zweier Zeugen von einem Pfarrer vorgenommen, der vom Bischof dazu bevollmächtigt worden ist (vgl. „Die Feier der Wiederaufnahme in die katholische Kirche", 2. Auflage, Salzburg 1993).
Empfohlen werden dabei das Ablegen des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, ein gemeinsames Gebet und die Handauflegung durch den Pfarrer als Zeichen der Versöhnung. Dies alles kann auch im Rahmen einer kleinen gottesdienstlichen Feier geschehen.
Die Sorge um Austrittswillige, Ausgetretene, aber auch von der Kirche schon lange entfremdete Menschen gehört zu den wichtigen Schwerpunkten einer heutigen missionarischen Pastoral der Kirche. Dies ist nicht nur eine Aufgabe der Geistlichen. Vielmehr gehören der Kontakt und die Begegnung mit den Menschen, die die Kirche verlassen haben, zur Sendung jedes Christen. Es geht um unser alltägliches Glaubens- und Lebenszeugnis zum Beispiel in der Nachbarschaft und in Freundeskreisen. Wir alle sind dazu aufgerufen, in der heutigen Welt glaubwürdige Zeugen Jesu Christi zu sein.
Ich bitte Sie alle, liebe Schwestern und Brüder, für diese Sorge um die nötige Sensibilität in Ihrem Lebensumfeld. Dies ist auch eine wichtige gemeinsame ökumenische Aufgabe aller Christen. Dazu gehört nicht zuletzt, ein wahres und zugleich unverkrampftes Bild von der Kirche zu vermitteln. Dies kann ich nicht mehr im Rahmen dieses Hirtenwortes ausführen. Im Anhang biete ich Ihnen dazu einen Text an mit dem Titel: „Warum ich in der Kirche bleibe".
Ich danke Ihnen allen für Ihre Treue und Mitsorge.
Mit Gruß und Gottes Segen
im Namen des + Vaters, des + Sohnes und des + Heiligen Geistes
bin ich
Ihr Bischof
+ Karl Kardinal Lehmann
Bischof von Mainz
Mainz, 11. März 2011
Das Hirtenwort zum Download im Volltext
(inkl. Anhang und Beitrag "Warum ich in der Kirche bleibe", Fürbittvorschläge und Literaturhinweise)
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz