Was lehrt der Advent über das Geheimnis der Zeit?

Gastkolumne von Kardinal Lehmann in der Kirchenzeitung "Glaube und Leben" - Dezember 2014

Datum:
Sonntag, 7. Dezember 2014

Gastkolumne von Kardinal Lehmann in der Kirchenzeitung "Glaube und Leben" - Dezember 2014

Gewöhnlich leben wir in den Tag hinein und achten nicht so sehr auf die Zeit. Aber dies wird manchmal doch ganz anders: Wenn wir über Gebühr warten müssen, bis sich etwas erfüllen lässt, besonders wenn es uns verspochen ist, dann kann eine kurze Zeit ganz lange werden. Manchmal erschrecken wir auch über das Zerrinnen der Zeit: wenn wir auf den Sekundenzeiger schauen und wissen, dass auch die kleinste Zeiteinheit ein für allemal vorbei ist. Zeit und Vergänglichkeit sind ganz nahe beieinander.

Weil die Zeit uns so deutlich an unsere Vergänglichkeit mahnt und erinnert, hat der Mensch immer auch vor dieser Unentrinnbarkeit des Vergehens geradezu Angst. Die Zeit erschien dem Menschen schon seit alters als ein „gefräßiges Tier". Gleichzeitig hat der Mensch den Eindruck, wenn er warten muss, dass er regelrecht auf die Folter gespannt wird.

Der Mensch erlebt im Lauf der Jahrtausende die Zeit immer wieder in einem zweifachen Sinn: sie ist einmalig, sie kommt nie wieder zurück, sie bringt uns das Verlorene nicht wieder. Die Einlinigkeit der Zeit und die Gnadenlosigkeit des Vergehens können uns fast zur Verzweiflung bringen. Aber die andere Grundvorstellung von der Zeit, dass nämlich alles wiederkommt und die Zeit nur einen ewigen Kreislauf des immer Selben darstellt, tröstet wirklich auch nicht. Man kann dann höchstens z.B. bei der Vorstellung der Seelenwanderung eine andere Existenzweise, eine leichte Variation des Schicksals - mal Mensch, mal Tier; mal arm, mal reich - erleiden.

Man darf sich nicht einfach nur auf eine der Deutungen einlassen. Zur linearen Deutung gehört die tatsächliche Erfahrung, dass es in unserem Leben Einmaliges, Nie-mehr-Wiederkehrendes gibt. Dies verursacht nicht nur den Schrecken des Verlustes, sondern kann in der Einmaligkeit auch etwas Zauberhaftes bedeuten, kann aber wenn ein großer Schrecken vorbei ist, befreiend wirken. Beim kreisförmigen Verständnis vermissen wir gerade die Einmaligkeit eines Ereignisses. In der unaufhörlichen Wiederholung liegt nicht nur Langeweile und Verdruss, sondern auch nicht selten eine verborgene Verzweiflung. Die Dinge wiederholen sich auch nicht beim Menschen in genau derselben Weise.

Die Zählung unserer Zeit nach Jahren gibt uns eine eigene Antwort darauf. Das Jahr, wie es schon die Jahreszahlen zeigen, hat etwas Einmaliges, das nie mehr wiederkehrt. Das Gedenken bei Jubiläen zeigt uns, dass wir uns zwar an dieses Einmalige erinnern, dass wir es aber nicht wieder gegenwärtig setzen können. Einfache Wiederholung würde gerade diesen Charakter des Einmaligen zerstören.

Jedes Jahr, ob bürgerlich oder religiös, hat aber auch die Chance, dass es endet und neu beginnt. Dies gilt ganz besonders für das Verstehen von einmaligen Ereignissen, die man oft in ihrer Tiefe lange gar nicht begreift. Der Reigen der Jahre gibt uns aber die Gelegenheit, dass man das, was uns im zu Ende gehenden Jahr entgangen ist, im kommenden Jahr neu entdecken kann. Dies gilt für die religiösen Feste, z.B. Weihnachten, Ostern und Pfingsten, aber auch für Geburts- und Hochzeitstage: ein Ereignis, das uns bisher einfach gleichgültig gelassen hat, bekommt plötzlich eine bisher ungeahnte Tiefe und schafft Freude, dass jemand z.B. so alt werden durfte oder dass ein Ehepaar in großer Treue zusammenblieb.

Das Jahr vereint beides: Es ist linear, weil es wirklich Neues und Einmaliges bringt und uns immer wieder darauf hoffen lässt. Es bietet uns durch die Wiederkehr eines Jahres eine besondere Chance, ja geradezu Gnade, denn wir bekommen die Möglichkeit, etwas was wir bisher versäumt haben, in seinem bisher verkannten Glanz wieder zu entdecken. So können im Jahr beide Zeitdeutungen in einer denkwürdigen Einheit, die wir besonders beim „Übergang" erfahren, also z.B. an Neujahr, ineinsgehen, was sonst undenkbar ist.

So haben wir am Ende eines Kirchenjahres für die religiöse Sinndeutung unseres Lebens aus dem Glauben und am Ende des „bürgerlichen" Jahres für die gesamte Breite und Tiefe unseres Lebens jeweils eine große Gunst, die wir nur allzu leicht übergehen. Dies ist das Geheimnis der menschlichen Zeit. Ob wir dies jetzt beachten?

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

Diese Kolumne lesen Sie auch in der Ausgabe der Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 7. Dezember 2014

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz