Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
In diesen Tagen begegnen wir zwei Haltungen. Auf der einen Seite die Freude: 2000 Jahre Christentum, 2000 Jahre Feier der Geburt unseres Herrn. Und auf der anderen Seite die Frage: Ist dieses Christentum nicht am Ende? Gibt es nicht viele andere Religionen, große und kleine, und hat das Christentum nicht selber ein Stück weit in dieser Geschichte versagt? Hat es nicht mehr erreichen können in diesen 2000 Jahren? Schon längere Zeit wird immer wieder die Frage gestellt: Muß das Christentum sterben? Dies ist eine Frage und eine Herausforderung, der wir nicht ausweichen wollen und der wir nicht auszuweichen brauchen.
Da ist zunächst das Verständnis Gottes, so wie es im Alten und Neuen Bund ausgeprägt worden ist und in besonderer Weise unserem Glauben zu eigen ist. Gott ist nicht um so mehr Gott, je ferner er von uns ist. Er bleibt der Unbegreifliche, und er bleibt der, der immer im Geheimnis ist, auch wenn er sich offenbart. Aber zugleich ist er derjenige - und dadurch unterscheidet er sich von den Göttern vieler Religionen, von den allermeisten -, der immer mehr zum Menschen herabsteigt. Er bleibt nicht - wie die antiken Götter - selig in sich selbst. Er ist nicht einer, der mit unseren Händeln und unseren Problemen nichts zu tun haben will, sich immer mehr in eine unbegreifliche, staunenswerte Ferne zurückzieht, sondern er wendet sich uns zu, schafft die Welt, ist ganz nahe bei uns durch sein Wort. Er bringt uns dieses Wort noch näher durch die Propheten, sie bringen sein Wort in unsere Welt, richten es aus in unseren Verhältnissen und in unseren Situationen. So steigt er immer mehr herab - bis er schließlich in seinem Sohn zu uns kommt. Dies ist das letzte, was Gott selber machen kann: in seinem einzigen, vielgeliebten Sohn zu uns zu kommen. Wir haben es eben gehört im Johannes-Evangelium: Er ist der Sohn, der am Herzen des Vaters ruht. Stärker kann man nicht beschreiben, daß jemand ganz dicht und nah beim andern ist, ja, daß er von seiner Seite kommt und - wie wir tiefer ergründen - einer aus der wirklichen Dreifaltigkeit ist.
Der Vater schickt als äußerste Form seiner Zuwendung zur Welt seinen Sohn zu uns. Und dieser Sohn, der streift nicht nur einmal die Erde, es ist nicht so, daß er einfach ein menschliches Kleid anzieht und eine Weile so tut, als ob er bei uns sei; nein, er wird wirklich Mensch. Das wahre Weihnachten zeigt uns, wie er zu uns kommt: Unterwegs ist er von Anfang an, er hat keinen Platz mehr in unseren Häusern und Hütten und muß in einen Stall, er liegt im Futtertrog, Herodes möchte aus lauter Angst vor dem Verlust der Macht alle Kinder in seinem Alter umbringen, und so müssen sich schließlich die Eltern Jesu, Maria und Josef, die sich um ihn sorgen, auch noch auf die Flucht nach Ägypten machen.
Dies ist die reale Welt, in die er kommt, und wir hätten es nicht schwer, aus den Nachrichten von heute und den letzten Tagen zu sagen, daß sie sich in dieser Hinsicht nicht so schrecklich viel verändert hat: Gewalt herrscht vor, Menschen werden aus Heimat und Hof vertrieben, und schließlich sind es immer wieder die Armen und die Kleinen, die unter die Räder kommen.
Meine lieben Schwestern und Brüder, "Gott ist Mensch geworden", das ist nicht nur eine allgemeine Formel. Er wurde Mensch bei uns, bei unseren Hütten, er hat wirklich das Schicksal ertragen, wie es viele, viele in diesen 2000 Jahren und vorher ertragen mußten. Und er, der als besonders Gerechter durch unsere Welt geht, erfährt die schlimmste Ungerechtigkeit in seinem Leiden. Seine Liebe wird dadurch belohnt, daß er den bittersten, schändlichsten Tod stirbt, den die Welt damals kannte: den Tod am Kreuz.
In diese Welt kommt er, in diese Welt kommt Gott. Meine lieben Schwestern und Brüder, darum wird das Christentum nicht sterben: Weil Gott nicht mehr tun kann, als seinen einzigen Sohn in unsere Welt zu schicken, damit er diese Welt erlöse und damit er sie rette. Das ist immer noch das Neueste, das ist immer noch das, was nicht überwunden werden kann, das ist das Neueste, was möglich ist, und zwar nicht nur heute, sondern immer und gewiß auch in Zukunft. Ein Weiser aus dem 17. Jahrhundert hat gesagt: Die Menschwerdung Gottes, die Leiblichkeit Gottes sei auch das Ende der Wege Gottes. Gott wird Mensch, einer von uns wird, ganz konkret: Was soll, was kann er eigentlich noch mehr machen, als selbst in unsere Welt zu kommen? Und Gott bringt in unsere Welt viele Dinge, die nicht weniger neu sind, auch heute und morgen. Alles, was er durchgemacht hat, was er angenommen hat als Mensch, all das, was er von Menschen erlitten hat, das ist nicht einfach eine neutrale Sache, die ihm passiert ist. Die Kirchenväter haben den weisen Satz gesagt: Alles, was er angenommen hat, das hat er auch geheilt, befreit und erlöst. Alles: Deswegen ist er in die letzte Tiefe unseres Menschseins hineingegangen. Das hat er alles geheilt, er hat alles, was wir tun und tun können, unterfangen durch diese Gnade, und darum nennt die alte Kirche die Geburt Jesu gerne das "Sakrament der Barmherzigkeit Gottes". Gott hat uns aufgefangen durch die Geburt Jesu, ja er ist in die größte und letzte Tiefe gegangen, in die wir Menschen überhaupt gehen können.
Darum sagt der hl. Paulus dieses unerhört kühne Wort, das theologisch immer wieder auf seinen genaueren Sinn befragt worden ist: Er sei sogar für uns zur Sünde geworden. Alles hat man auf ihn "draufgesattelt", die ganze Last des Leidens, der Ungerechtigkeit, des Hasses und der Sünde ist auf diesen Gerechten geladen worden. Es ist die schwerste Bürde, die es gibt. Unser Glaube sagt uns, daß er nach der Kreuzigung abgestiegen ist in das Reich des Todes, sagen wir ruhig: abgestiegen in das Reich der Hölle. Dort hat er bis zum Äußersten gelitten. Dort hat er sozusagen alle Mächte der Finsternis angetroffen und befreit, und dadurch ist er in ganz besondere Weise für uns zum Anführer des Heils geworden. Alles, was er angenommen hat, das hat er auch geheilt und befreit.
Meine lieben Schwestern und Brüder, seitdem gibt es in unserer Welt keinen Ort - und sei es beinahe die Hölle -, keinen Ort und keine Zeit, keine Uhrzeit, wo es nicht möglich ist, zu ihm zu rufen, wo es nicht möglich ist, auch in unserer leiblichen Existenz Heil erfahren zu können, Segen erfahren zu können, Zuspruch zu hören. Dies ist die am besten begründete Hoffnung in unserer Welt: daß wir einen haben, der uns in allem vorausgegangen ist, gerade auch im Leiden und im Sterben, und daß wir immer vertrauen dürfen, daß er uns hört, daß er uns begleitet, daß er wirklich ein Mensch, ein Bruder, ein Freund ist.
Das ist das Ende der Wege Gottes. Näher kann er bei uns nicht sein. Mehr kann er uns nicht schenken. Er schenkt uns auch in unsere Welt hinein diese neue Menschlichkeit: auf daß wir einander annehmen, daß wir nicht einfach ausgrenzen, daß wir nicht einfach Gewalt anwenden. Er hat einen ganz neuen Begriff gebracht von Gewalt, von Vollmacht, von Kraft. Es ist nicht das, was sich rücksichtslos durchsetzt, nicht das, was andere links und rechts in die Gräben abseits der Straße drückt, es ist nicht der Haß; seine Gewalt, seine Macht ist etwas ganz anderes. Es ist das Schonen, das Verzeihen, das Versöhnen, die Liebe. Eine ganz andere Macht und Kraft ist dies in unserem Leben. Auch wenn sie sich schwer durchsetzt, wenn sie immer wieder durch das Leiden und durch die Verwundungen hindurch gehen muß: Diese Kraft wird am Ende siegen. Sie wird viel stärker sein. Deswegen ist jetzt vieles von unserem Heil verborgen. Auch Jesus ist in der Armut, im Stall verborgen. Im Hintergrund zeigt sich schon so etwas wie eine Signatur des Kreuzes und all das, was wir dann von seinem Weg kennen; da ist lange vieles verborgen.
Auch die Liebe Gottes, auch die Liebe der Menschen, meine lieben Schwestern und Brüder, ist vielfach verborgen. Davon ist heutzutage oft wenig die Rede, vielmehr von anderen Dingen, und deswegen ist es auch gut, wenn wir heute, als Zeichen dieser Liebe, die Sammlung "Adveniat" durchführen, für die bedrängten, armen Völker besonders Lateinamerikas, damit wir auch dort einen Stern setzen, einen Stern der Liebe Jesu Christi. Diese Welt, in diese Welt ist er gekommen, und sie verändert er durch uns, wenn wir seine Zeugen sind, und darum sollen wir alle dieses Licht, diesen Stern des heutigen Tages hinaustragen in unsere kleinen und großen Lebenskreise, in Ehe und Familie, in unsere Verbände, Vereine, Freundschaften, Freundeskreise, Gemeinden, ja auch in unsere Gesellschaft, in unseren Staat, über unsere Nation hinaus in Europa und in der ganzen Welt.
Darum sind wir Christen, meine lieben Schwestern und Brüder, an diesem Tage wieder neu gefestigt in unserer Hoffnung. Es ist keine leere Hoffnung, es ist eine Hoffnung, die auch der Not in die Augen sieht, die nicht wegguckt, die nicht irgendeinen Firlefanz macht, die nicht allein für einen Tag alles ein bißchen erhöht, mit Lametta und mit Schein. Nein, jetzt ist eine Hoffnung in unserer Welt, die sich auch im Schlimmsten bewährt und in der wir immer wieder sagen können: Wir haben einen, der uns weiterführt, weiterführt bis in die Weide des ewigen Lebens. Amen.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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