Statement beim 25. Stuttgarter Unternehmergespräch „Wandel der Arbeit – Arbeit im Wandel“ am 10. November 2005 in Stuttgart
„Durch die Arbeit muss sich der Mensch sein tägliches Brot besorgen, und nur so kann er beständig zum Fortschritt von Wissenschaft und Technik sowie zur kulturellen und moralischen Hebung der Gesellschaft beitragen, in Lebensgemeinschaft mit seinen Brüdern und Schwestern. Hier geht es um jede Arbeit, die der Mensch verrichtet, unabhängig von ihrer Art und den Umständen“ , mit diesen Worten hat Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Laborem exercens“ die Bedeutung der Arbeit für den Menschen umschrieben. Mir scheint dies zu Beginn Ihrer Überlegungen zum „Wandel der Arbeit – Arbeit im Wandel“ von Bedeutung. Wir dürfen die Arbeit nicht nur von den Erfordernissen der Unternehmen, vom Funktionieren von Arbeitsprozessen, vom Wert des „Humankapitals“, vom Nutzen der Arbeitsleistung für andere her denken. Dies sind gewiss nützliche und auch notwendige Gesichtspunkte. Wir müssen die Arbeit zunächst von dem her denken, der sie erbringt, vom Menschen her. Papst Johannes Paul II. hat die Bedeutung der Arbeit für den Menschen folgendermaßen beschrieben: Der Mensch ist „seit dem Anfang zur Arbeit berufen. Die Arbeit ist eines der Kennzeichen, die den Menschen von den anderen Geschöpfen unterscheiden“.
Vor diesem Hintergrund ist Arbeit nie eine Ware wie jede andere. Die Kirche hat so immer den Vorrang der Arbeit vor dem Kapital betont. Deshalb ist der Umgang mit den Menschen in einem Unternehmen immer von besonderer Bedeutung und stellt das Personalmanagement eine besondere Herausforderung dar. Der ihnen angemessene Umgang mit den Mitarbeitern, die Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse und Sorgen in Zeiten des Wandels, ihre Fortentwicklung und Motivation sind zentrale Aufgaben des Managements, das den Mitarbeitern eines Unternehmens und ihrer Würde gerecht zu werden verpflichtet ist. Gleichwohl kann das Personalmanagement nie losgelöst betrachtet werden von den Zielen des Unternehmens insgesamt und den Verpflichtungen, denen sich das Management gegenüber sieht. Schließlich ist es ja gerade im Sinne und Dienste des Mitarbeiters, wenn das Unternehmen die Arbeitsplätze sichern und neue schaffen kann. Deshalb scheint es mir notwendig, den Blick etwas zu weiten und über die Notwendigkeit von Werten im Handeln des Unternehmers und Managers insgesamt nachzudenken.
Nicht wenige meinen, eine an Marktprinzipien orientierte Wirtschaft könne auf ethische Belange keine Rücksicht nehmen, weil freiwillige „moralische“ Handlungen der Marktlogik widersprächen und ein ethisch handelnder Unternehmer an den Gesetzen des Marktes scheitern müsse. Wenn diese Auffassung zutreffend wäre, dann dürften Fragen der sozialen und ökologischen Unternehmensführung keine Rolle spielen, ja sie müssten als gefährlich für den unternehmerischen Erfolg angesehen werden. Und auch die Kirche, welche die Eigengesetzlichkeiten der verschiedenen weltlichen Sachbereiche, also auch der Wirtschaft, anerkennt, hätte dann zu Fragen des richtigen Managements und damit zu den notwendigen Fähigkeiten für die Wahrnehmung von Führungsaufgaben in Unternehmen nichts zu sagen. Ihre Äußerungen wären jedem Sachbereich unangemessen und für die gegenwärtigen Herausforderungen ohne Bedeutung.
Dagegen steht die Wahrnehmung, dass sich viele Unternehmen unter dem Begriff der „Corporate Social Responsibility“ verstärkt einer Unternehmensführung zuwenden, die sich innerbetrieblich und zum betrieblichen Umfeld hin als sozial und ökologisch verantwortungsvoll versteht und so die Stakeholder-Interessen auch aus Gründen der Legitimität stärker in den Blickpunkt rückt. Immer größere öffentliche Aufmerksamkeit hat in letzter Zeit das moralische Handeln von Führungskräften in Politik und Wirtschaft erfahren. Es scheint, als seien Teile der Bevölkerung bei der Suche nach Vorbildern wieder bei Unternehmensführern und Staatslenkern angekommen, nachdem mediale „Superstars“ nicht hinreichend überzeugen konnten. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass unter den Führungskräften selbst eine verstärkte Suche nach Sinn und Moral begonnen hat. Heute gilt vor dem Hintergrund eines Qualitäts- und Innovationswettbewerbs vieler Unternehmen vielfach eine sozial verantwortete Ausprägung von Führungskompetenz als zentrale Anforderung an Topmanager. Das so genannte „Humankapital“ – der Mensch mit seinen Begabungen und Fertigkeiten – gewinnt als „Produktionsfaktor“ immer mehr an Bedeutung. Unternehmensmanager müssen vor allem die Fähigkeit entwickeln, Teams erfolgreich zu führen und jeden einzelnen Mitarbeiter für das Unternehmen zu gewinnen. Soziale Kompetenz wird wieder nachgefragt, moralisches Handeln nicht mehr als kostenintensiver Wettbewerbsnachteil, sondern vielmehr als grundlegender Erfolgsfaktor unternehmerischen Handelns verstanden. Ohne eine Sensibilität für die Interessen verschiedenartiger gesellschaftlicher Anspruchsgruppen ist gesellschaftliche Akzeptanz und Legitimität, die für Unternehmen angesichts globaler Kommunikations- und Marktstrukturen immer wichtiger wird, nicht zu gewinnen. Die Strategie „make a quick buck and go“ ist wohl keine Strategie für Unternehmer des 21. Jahrhunderts.
Welche moralischen Werte sollte nun eine Führungspersönlichkeit verkörpern? Die Tradition der Tugenden , die aus dem antiken Denken stammt, aber auch in der Tradition der Kirche seit langem eine Heimat gefunden hat, hebt die vier Grundhaltungen „prudentia“, „iustitia“, „fortitudo“ „temperantia“, das sind die Klugheit, die Gerechtigkeit, die Tapferkeit und das Maß, besonders hervor. Diese Haltungen, die als Kardinaltugenden - vom Lateinischen „cardo“, das heißt Türangel - bezeichnet werden, womit auf ihre Zusammengehörigkeit wie auf ihre tragende Funktion für alle anderen Tugenden hingewiesen wird, werden seit Jahrhunderten als hilfreiche Orientierungen für eine gute Lebensführung angesehen.
Im christlichen Verständnis, insbesondere bei Augustinus, aber auch bei anderen Kirchenvätern, werden die Kardinaltugenden als Erscheinungsformen der Liebe Gottes gedeutet. Thomas von Aquin, der große Denker des Mittelalters, entfaltet seine ganze Ethik als Tugendethik und behandelt nach den theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe (1 Kor 13) die einzelnen Kardinaltugenden, welche die Grundlage seiner gesamten materiellen Ethik bilden. Können diese traditionsreichen Grundhaltungen nicht auch für die Suche nach einem tragfähigen Konzept einer guten Unternehmensführung herangezogen werden? Es waren gerade deutsche Philosophen wie M. Scheler, O. F. Bollow, J. Pieper und in unserer Gegenwart O. Höffe, die die Tugenden, die lange Zeit eher dem Witz und dem Kabarett ausgesetzt waren, rehabilitierten. In jüngster Zeit sind es besonders auch grundlegende Arbeiten aus dem angelsächsischen Bereich und auch aus dem so genannten Kommunitarismus, die die Tugendethik neu zur Geltung brachten.
Oberste und erste Kardinaltugend ist die Klugheit. Sie mit bloßer Intelligenz gleichzusetzen, wäre unzutreffend. Klugheit besteht vielmehr in der Fähigkeit, vernünftig zu handeln. Augustinus nennt die Klugheit „die Liebe, die das, was uns hilft in unserem Streben nach Gott, von dem, was uns daran hindert, unterscheiden kann“. Dieser Gedanke erinnert an den Apostel Paulus, der darum betet, dass die „Liebe immer noch reicher an Einsicht und Verständnis“ (Phil 1,9) werde. Der Klugheit entsprechen das von Vernunft gelenkte Urteil und die Fähigkeit, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Klugheit ist anders als Intelligenz, aber auch anders als Schläue. Sie befähigt den Menschen, sich ein Bild von den Folgen seines Handelns zu machen. Erfahrungs- und Sachwissen sind hierbei unerlässlich, weil dieses verantwortliches Entscheiden erst ermöglicht. Ethische Intuition reicht nicht aus. Verantwortlich handeln kann letztlich derjenige, der das nötige Wissen erworben hat und die rechte Unterscheidungsgabe besitzt.
Für Führungspersönlichkeiten in Unternehmen bedeutet dies zunächst einmal die Aufforderung, ihre Sachkunde und ihr Erfahrungswissen in den Arbeitsprozess einzubringen. Aber mehr als das: sollen sie doch nicht allein gebildet, sondern klug sein. Der Unternehmensführer muss also voraus bedenken, welche Folgen seine Entscheidungen haben werden: für das Unternehmen, für die Gesellschaft, für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Eine kluge Unternehmensführung folgt weder allein Sachzwängen nach handelt sie allein aus dem Bauch heraus. Sie zielt nicht auf den kurzfristigen Effekt, sondern auf den langfristigen Erfolg und die nachhaltige Wirksamkeit. So müssen Sachkompetenz ebenso wie ein Wertegerüst gemeinsam den Rahmen der Entscheidungsfindung bilden.
Die feste und beständige Grundhaltung, jedem das Seine zu geben, entspricht der Kardinaltugend der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist insbesondere sozialethisch bedeutsam. Gerechtigkeit als ausgleichende Gerechtigkeit sichert die Ansprüche bei Rechtsgeschäften, die verteilende Gerechtigkeit sichert den Rechtsanspruch des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, und die gesetzliche Gerechtigkeit betont umgekehrt den Rechtsanspruch der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen. Aus diesen Gerechtigkeitsdimensionen folgt auch die soziale Gerechtigkeit, der in heutiger Zeit besondere Bedeutung beigemessen wird. Sozial gerecht ist, was dem Gemeinwohl dient, ungeachtet dessen, ob es gesetzlich verankert ist oder nicht.
Jedem das Seine zu geben bedeutet auch, die Interessen eines Jeden in Betracht zu ziehen. Ich denke hier daran, auch ferner liegende Stakeholder-Interessen, seien es die der von Umweltverschmutzung Betroffenen oder vom Welthandel Ausgeschlossenen, zu berücksichtigen, um nur zwei Beispiele zu geben. So folgt auch das Bemühen, der sozialen Verantwortung des Unternehmens zu entsprechen, wie es das Konzept der „Corporate Social Responsibility“ vorsieht, letztlich diesem Gerechtigkeitsgedanken.
Die Tugend der Tapferkeit meint letztlich die Standhaftigkeit, dort zu widerstehen, wo es das Gewissen gebietet. Die Tapferkeit befähigt den Menschen dazu, zu sich und zu dem zu stehen, was seine Überzeugung ist, allen Umständen zum Trotz. Eine zeitgenössische Ausprägung der Tapferkeit ist die Zivilcourage. Gemeint ist damit der Mut, für die eigenen, wohl begründeten Überzeugungen öffentlich einzutreten und sich nicht blindlings dem Urteil anderer anzuschließen.
Wie ist aus diesem Blickwinkel zu beurteilen, wenn vor allem in Kapitalgesellschaften, die an der Börse – dem US-amerikanischen Muster folgend – zunehmend nach der Güte der Quartalsberichte beurteilt werden, ohne Rücksicht auf die Belange der Mitarbeiter und möglicherweise auch ohne Rücksicht auf die längerfristigen Marktaussichten des Unternehmens teilweise zu spät und dann auch kopflos rationalisiert und umstrukturiert werden. Wäre nicht derjenige Unternehmensführer tapfer zu nennen, der auf den nur kurzfristigen Erfolg an den Börsen (beispielsweise durch Entlassungen) verzichtet, auch wenn der Druck der Anleger und Analysten immens ist, und statt dessen in Technologie und Qualität investiert und damit längerfristig Marktanteile und auch Arbeitsplätze sichert? In den letzten Jahren haben besonders Beispiele aus dem Automobilbereich breite öffentliche Beachtung gefunden, bei denen zu fragen ist, ob hier alle Top-Manager klug und tapfer gehandelt haben.
Schließlich ist das Maßhalten eine Kardinaltugend. Es gehört viel Selbstbeherrschung dazu, das rechte Maß zu halten, und es scheint gegen die eigenen Wünsche und die eigene Person zu stehen. In Wirklichkeit aber geht es um die dem Menschen zugute kommende Abkehr von einer Wunscherfüllung, die kein Maß kennt. So wird das Maßhalten zu einer Überlebenskunst der Menschheit. Es hilft sowohl bei der individuellen Bewältigung eines falschen Konsumismus wie bei der Herstellung sozialer Gerechtigkeit weltweit.
Im Maßhalten kommt die soziale und ökologische Verantwortung des Unternehmensführers zum Ausdruck. Ein schonender Umgang mit den Ressourcen und Kapazitäten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Rücksicht auf deren individuelle Leistungsfähigkeit und persönlichen Lebensumstände können Ausdruck eines maßvollen Verhaltens von Führungspersonal sein. Auch hinsichtlich der Belange der Schöpfung und der gerechten Verteilung der Güter weltweit wird verantwortliches Handeln nicht ohne Verzicht auskommen können. Vielleicht die schwierigste Übung des Mäßigens aber stellt sich demjenigen, der selbst direkt oder auch indirekt über seinen Lohn entscheiden kann. Mit Blick auf einige in jüngster Zeit öffentlich gewordene Beispiele scheint das rechte Maß bei manchen aus dem Blickfeld geraten zu sein.
Die Kardinaltugenden können einen Orientierungsrahmen für eine sozial und ökologisch verantwortungsvolle Unternehmensführung bieten. In ihrem Zusammenwirken sind sie ein Vermächtnis der reichen Tradition innerhalb und außerhalb der Kirche an diejenigen, die nach Kriterien für ein Management suchen, die den Interessen des Unternehmens und denen seiner Mitarbeiter gerecht wird. Der Kirchenvater Augustinus hat das im vierten Jahrhundert nach Christus so formuliert: „Ein gutes Leben ist nichts anderes, als Gott aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und aus ganzem Sinn zu lieben. Man bewahrt ihm (durch die Mäßigung) eine ganze Liebe, die kein Unglück erschüttern kann (was Sache der Tapferkeit ist), die einzig ihm gehorcht (das ist die Gerechtigkeit) und die wachsam ist, um alle Dinge zu besehen aus Angst, man könnte sich von der List und Lüge überraschen lassen (und das ist die Klugheit)“.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
Im Orginal sind eine Reihe von Fußnoten und Anmerkungen enthalten.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz