Weltweiter Zeuge christlicher Hoffnung

Die Wahl von Papst Franziskus und ihre Bedeutung für die Weltkirche

Datum:
Sonntag, 9. März 2014

Die Wahl von Papst Franziskus und ihre Bedeutung für die Weltkirche

1. Predigt zur Österlichen Bußzeit am 9. März 2014 im Hohen Dom zu Mainz. 

Am kommenden Donnerstag, 13. März 2014, ist es genau ein Jahr her, dass das Kardinalskollegium den Erzbischof von Buenos Aires, Kardinal Jorge Mario Bergoglio, zum Papst gewählt hat, der sich den Namen Franziskus gegeben hat. Deswegen mag es besonders angezeigt sein, an diese Wiederkehr der Wahl vor einem Jahr anzuknüpfen.

Keine vollen vierzehn Tage war die katholische Kirche ohne einen Papst. In der Zwischenzeit hatte nach den gültigen Bestimmungen das Kardinalskollegium die Leitung der Kirche übernommen. In zehn Vollversammlungen aller Mitglieder des Kardinalskollegiums - dies sind knapp über zweihundert - stand die Lage der weltweiten Kirche im Zentrum. Daraus ergaben sich, ohne Namen auszusprechen, die Anforderungen an einen neuen Oberhirten. In knapp zwei Tagen entschieden die 115 Kardinäle, die unter achtzig Lebensjahren ein Wahlrecht besaßen, den Nachfolger von Papst Benedikt XVI. Die Entscheidung fiel nach einem knappen Tag im fünften Wahlgang.

Mit der Wahl des Erzbischofs Jorge Mario Bergoglio von Buenos Aires in Argentinien war eine dreifache Besonderheit gegeben. Kardinal Bergoglio ist der erste Nicht-Europäer in der Papstgeschichte - wenn wir den heutigen Begriff von Europa einmal voraussetzen dürfen - und vertritt als Argentinier den lateinamerikanischen Halbkontinent, in dem die Hälfte der 1,2 Milliarden Katholiken in aller Welt lebt. Er ist zweitens ein Angehöriger des Jesuitenordens. Die „Gesellschaft Jesu", die ein besonderes Dienst- und Gehorsamsverständnis zum Papst hat, kann zum ersten Mal den obersten Hirten der katholischen Weltkirche stellen. Umso überraschender war es drittens auch für Viele, dass Kardinal Bergoglio als Jesuit sich den Namen Franziskus beilegte und dabei hinzufügte, dass er diese Wahl im Gedenken an den heiligen Franziskus von Assisi getroffen habe. Aber dies war nicht nur die Überraschung, dass ein Sohn des heiligen Ignatius von Loyola den Namen des Gründers der franziskanischen Bewegung annahm, sondern, dass er mit dem Namen des Poverello von Assisi sich in besonderer Weise als Anwalt der Armen bekannte. Diese dreifache Überraschung glich insgesamt einer Sensation. Als solche wirkt sie auch noch nach einem Jahr weiter.

Ich glaube, dass die Wähler aus aller Welt damit einen Nachfolger Petri und besonders auch Benedikts XVI. bestimmten, der den Erwartungen in einem hohen Maß entsprochen hat: Er ist nicht nur in der Philosophie und Theologie zuhause, sondern kennt auch die heutige geistige und gesellschaftliche Situation des Menschen. Er war auch einmal Chemie-Laborant und studierte Literatur und Psychologie. Aber er ist kein Fachexperte in Theologie, wie es sein Vorgänger war, und auch kein Intellektueller im üblichen Sinn. Er kennt die Wege des Menschen, gerade auch in Not und Elend. Er hat als Ordensmann mit Verantwortung auf vielen Ebenen und als verantwortlicher Seelsorger einer Weltstadt eine nüchterne Vision vom Weg der Kirche in Gegenwart und Zukunft. Schließlich erwarteten alle, die ihn kannten, und besonders seine Wähler, dass er angesichts der notwendigen Reformen vor allem auch in der Kirche selbst Führungskraft und Durchsetzungsfähigkeit an den Tag legen kann, wie viele ihm, die ihn näher kennen, bescheinigen. Reformen beziehen sich dabei freilich aber nicht in erster Linie oder nur auf Strukturveränderungen, sondern sie beginnen bei der Umkehr des einzelnen Menschen zu neuer Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Der Papst weiß auch um umfassende Gefährdungen des Menschen, besonders angesichts der vielfältigen Bedrohungen unserer Lebensbedingungen.

Das Franziskus-Wunder wäre nicht möglich geworden - und das geht bisher immer noch etwas unter -, ohne den Amtsverzicht von Papst Benedikt XVI. Vielleicht war dies die aufregendste und am meisten unerwartete Entscheidung von Papst Benedikt XVI. Es brauchte einen großen Mut, nach über 500 Jahren in einer ganz anderen Zeit eine solche Entscheidung zu treffen. Viele haben sie nicht verstanden und bedauern bis heute den Abschied von Benedikt XVI. Ich brauche hier an dieser Stelle die Verdienste von Benedikt XVI. nicht eigens zu würdigen, weil ich es im Hirtenwort zur Österlichen Bußzeit 2013 kurz nach dem Rücktritt von Benedikt XVI. getan habe.

Ich brauche jetzt nicht den Klatsch und die Gerüchte zu wiederholen, die vor oder nach der Wahl ausgestreut worden sind. Man weiß, dass der Kardinal aus Argentinien bereits 2005 bei der Wahl von Benedikt XVI. zu den Kandidaten gehörte. Im Jahre 2013 war es aber um ihn relativ still. Er hat auch im Vorkonklave, wo die Reden gehalten werden, kein Aufsehen erregt. Er hat einmal gesprochen und hat diese Rede nach seiner Wahl - dies konnte ja er nur als Papst entscheiden - zur Veröffentlichung freigegeben. Man hat das ganze Gewicht dieser Rede damals wohl nur zum Teil erfasst, was auch mit den vielen Reden und der starken Beschränkung der Redezeit zusammenhängt. Aber zweifellos ließ diese Rede aufhorchen, sodass ich sie, wohl ziemlich genau ein Jahr danach, in einer Übersetzung nochmals zu Gehör bringen möchte:

„Ich habe Bezug genommen auf die Evangelisierung. Sie ist der Daseinsgrund der Kirche. Es ist die ‚süße, tröstende Freude, das Evangelium zu verkünden‘ (Paul VI.). Es ist Jesus Christus selbst, der uns von innen her dazu antreibt.

1. Evangelisierung setzt apostolischen Eifer voraus. Sie setzt in der Kirche kühne Redefreiheit voraus, damit sie aus sich selbst herausgeht. Sie ist aufgerufen, aus sich selbst herauszugehen und an die Ränder zu gehen. Nicht nur an die geografischen Ränder, sondern an die Grenzen der menschlichen Existenz: die des Mysteriums der Sünde, die des Schmerzes, die der Ungerechtigkeit, die der Ignoranz, die der fehlenden religiösen Praxis, die des Denkens, die jeglichen Elends.

2. Wenn die Kirche nicht aus sich selbst herausgeht, um das Evangelium zu verkünden, kreist sie um sich selbst. Dann wird sie krank (vgl. die gekrümmte Frau im Evangelium). Die Übel, die sich im Laufe der Zeit in den kirchlichen Institutionen entwickeln, haben ihre Wurzel in dieser Selbstbezogenheit. Es ist ein Geist des theologischen Narzissmus.

In der Offenbarung sagt Jesus, dass er an der Tür steht und anklopft. In dem Bibeltext geht es offensichtlich darum, dass er von außen klopft, um hereinzukommen. Aber ich denke an die Male, wenn Jesus von innen klopft, damit wir ihn herauskommen lassen. Die egozentrische Kirche beansprucht Jesus für sich drinnen und lässt ihn nicht nach außen treten.

3. Die um sich selbst kreisende Kirche glaubt - ohne dass es ihr bewusst wäre - dass sie eigenes Licht hat. Sie hört auf, das „Geheimnis des Lichts" zu sein, und dann gibt sie jenem schrecklichen Übel der „geistlichen Mondänität" Raum (nach Worten de Lubacs das schlimmste Übel, was der Kirche passieren kann). Diese (Kirche) lebt, damit die einen die anderen beweihräuchern.

4. Was den nächsten Papst angeht: (Es soll ein Mann sein) der aus der Betrachtung Jesu Christi und aus der Anbetung Jesu Christi der Kirche hilft, an die existenziellen Enden der Erde zu gehen, der ihr hilft, die fruchtbare Mutter zu sein, die aus der „süßen und tröstenden Freude der Verkündigung" lebt.

Vereinfacht gesagt: Es gibt zwei Kirchenbilder: die verkündende Kirche, die aus sich selbst hinausgeht, die das „Wort Gottes ehrfürchtig vernimmt und getreu verkündet"; und die mondäne Kirche, die in sich, von sich und für sich lebt.

Dies muss ein Licht auf die möglichen Veränderungen und Reformen werfen, die notwendig sind für die Rettung der Seelen."

Ich habe eigens diesen Text nochmals vorgelesen, weil wir heute vielleicht besser als damals erkennen, wie der Papst geistlich und theologisch strukturiert ist.

Kehren wir kurz nochmals zur Wahl zurück: So begegnete Papst Franziskus nach der Wahl nicht nur den bisherigen Amtsbrüdern, sondern auch den Hunderttausenden von Menschen, die nach dem Aufsteigen des weißen Rauches wie bisher in Rom aus allen Stadtteilen auf den Petersplatz strömten, bis hinunter zum Tiber.

Er kam ohne zusätzliche Ausstattung im schlichten weißen Talar des Papstes. Ganz natürlich und einfach begrüßte er mit „buona sera" und später mit „buon riposo", „Guten Abend" und „Gute Nachtruhe". Er sprach vorwiegend als Bischof von Rom, bat schlicht und überzeugend um das Gebet und um den Segen der Menschen, bevor er ihnen allen weltweit seinen ersten Apostolischen Segen von der Loggia des Petersdomes zusprach.

Es war ein starker Anfang.

Wir danken heute noch dafür, dass das Kardinalskollegium mit seinen 115 Wählern innerhalb kurzer Zeit nach dem Rücktritt von Benedikt XVI. einen Nachfolger gefunden hat. In weniger als zwei Wochen nach dem Wirksamwerden des Rücktrittes konnten wir Papst Franziskus als Nachfolger Petri begrüßen. Wenn man an die Vielfalt unserer Weltkirche und an die vielen Zerrissenheiten unserer Welt denkt, die sich immer wieder auch in der Kirche bemerkbar machen, so ist diese Einigkeit, zu der ja eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist, keineswegs selbstverständlich. Nicht wenige haben ein langes Konklave angekündigt, und dies vor allem wegen der angeblichen Zerstrittenheit des Kardinalskollegiums. Umso dankbarer sind wir, dass die Wähler nach den ca. einwöchigen Beratungen in den sogenannten Generalkongregationen, in denen die Situation der Kirche überall zur Sprache kam (es wurden aber keine Namen genannt), - ich habe es schon erwähnt - bereits im fünften Wahlgang zu einem so hohen Einvernehmen kamen.

Vielleicht darf man nochmals auf die Wahl selbst verweisen, die seit bald 800 Jahren gewiss mit vielen Wandlungen urdemokratische Verfahren ausgebildet hat und sehr streng auf ihre Einhaltung achtet, aber dennoch nicht als eine politische Schlacht um Mehrheiten verstanden werden darf. Die ganze Kirche betet für eine gute Wahl. Der große Gottesdienst in St. Peter eröffnet die Wahl im engeren Sinne. Man zieht bald in die ehrwürdige Sixtinische Kapelle unter dem Gesang des „Veni Creator Spiritus" ein, legt einen Eid ab auf die Geheimhaltung und Unabhängigkeit des Wahlvorgangs, hört eine mahnende Meditation zur Bedeutung der Wahl und wählt die verantwortlichen Assistenten, die öfter wechseln, für den Kardinal, der die Wahl leitet, und für den Kämmerer der Kirche, der für die wichtigsten Verwaltungsvorgänge verantwortlich ist. Das Gewicht der je eigenen Stimme, die man zum Altar trägt und in eine große Urne legt, wird durch eine knappe Erklärung erkennbar, die jeder spricht: „Ich rufe Christus, der mein Richter sein wird, zum Zeugen an, dass ich den gewählt habe, von dem ich glaube, dass er nach Gottes Willen gewählt werden sollte." Diese Worte werden unmittelbar vor dem großen Gerichtsgemälde auf den Fresken Michelangelos gesprochen, womit die Verantwortung und Rechenschaft, die jeder spürt, für alle erkennbar wird. Auszählung und Ankündigung des Ergebnisses jedes Wahlganges werden laut vernehmlich mitgeteilt. Aussprachen, von Geschäftsordnungsstellungnahmen abgesehen, gibt es im Konklave nicht.

Als der Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Mario Kardinal Bergoglio, Zweidrittel der Stimmen erreicht hatte, gab es diskreten Beifall, vor allem aber viel Freude. Nach der Auszählung aller Stimmen wird der Gewählte gefragt, ob er die Wahl annehme. Wenn er zustimmt (und schon Bischof ist), ist er sofort das Oberhaupt der katholischen Kirche und der Nachfolger Petri. Alles andere, auch die Amtseinführung einige Tage später, dient der Ausgestaltung dieses Jawortes. Sofort wird der neue Papst nach seinem Namen gefragt. Daraufhin kleidet sich der Gewählte in einem Nebenzimmer (der „Kammer der Tränen") als Papst an und nimmt sofort die Glückwünsche und das Versprechen der guten Zusammenarbeit und des Gehorsams seiner Wähler an. Direkt danach begibt sich der neue Papst mit einer kleinen Begleitung auf die Loggia von Sankt Peter, wo sein Name den von überall her strömenden Römern verkündigt wird. Alles andere wissen Sie und haben es zum großen Teil selbst erlebt.

Wer ist Papst Franziskus? Jorge Mario Bergoglio wurde am 17. Dezember 1936 in Buenos Aires geboren. Sein Vater, Buchhalter bei einer Eisenbahngesellschaft, war noch in Italien bei Turin geboren und tätig, bis er 1929, wie viele Menschen damals, auswanderte. Die Mutter war eine junge Argentinierin, ebenfalls mit italienischen Wurzeln. Ihre Eltern waren noch in Norditalien geboren. Sie lernten sich in Buenos Aires kennen und heirateten 1935. Nach dem Erstgeborenen Jorge Mario (17.12.1936) folgten noch vier weitere Kinder, zwei Brüder und zwei Schwestern. Es leben nur noch der Papst selbst und seine Schwester Maria Elena. Man blieb in vielem der italienischen Herkunft der Familie, besonders im Glauben, treu. Durch diese Herkunft besitzt Papst Franziskus die argentinische und die italienische Staatsangehörigkeit, natürlich heute auch die vatikanische. Er spricht sehr sicher die italienische Sprache; Kenner meinen auch in ihr einen leichten piemontesischen Dialekt zu erkennen. Dies und vor allem auch die Wahl des Namens in Erinnerung an San Francesco von Assisi haben den neuen Papst rasch eine gute Aufnahme bei den Italienern finden lassen. Ähnlich wie Johannes XXIII. hat er die Grundlage seines Amtes von Anfang an betont, zuerst und in allem Bischof von Rom zu sein.

Papst Franziskus ist durch und durch Seelsorger. Er hat ein starkes Fundament dafür in seinem tiefen persönlichen Glauben. Dieser wurzelt von Kind auf im religiösen Leben seiner Familie. Er erfuhr in seinem eigenen Leben viele Orte einer Bewährung dieses Glaubens. Aber dieser Glaube war nie weltflüchtig. Er hat ja zuerst als Chemielaborant studiert und gearbeitet. Als er dann in den Jesuitenorden eingetreten ist (1958), hat er im Gesamtzusammenhang der Ausbildung auch Psychologie und Literatur studiert, übrigens auch in Chile. In den 70er Jahren durchlief er das ordensübliche Studium der Philosophie und Theologie (1970 Abschluss). Kurz vor seinem 33. Geburtstag wurde er am 13. Dezember 1969 zum Priester geweiht. Nachdem er das fast zehnjährige Studium insgesamt abgeschlossen hatte und im Orden verschiedene Aufgaben übernahm, wurde Bergoglio mit nur 37 Jahren für sechs Jahre zum Ordensoberen (Provinzial) in Argentinien gewählt.

Der noch junge Provinzial konnte nicht ahnen, dass ihm bald eine sehr schwierige Zeit seines Lebens bevorstehen sollte. Diese Zeit hat ihn auch bis nach der Wahl zum Papst verfolgt. Es ist eines der schwärzesten Kapitel Argentiniens, die Zeit der Militärdiktatur (1976-1983). Für die Menschen bedeutete dies die ständige Angst vor Verschleppung und Tod. Wer kritische Worte fand, konnte seines Lebens nicht mehr sicher sein. Entführungen, bestialische Folterungen und Ermordungen geben Zeugnis. Man spricht heute von 30.000 Menschen, die der Junta zum Opfer gefallen sind. Viele sind einfach bis heute verschwunden. Immer wieder wurden auch Opfer in Flugzeuge verladen und über dem Meer abgeworfen. Die Kirche war in dieser Hinsicht gespalten. Es gab viele Geistliche, die sich unter Einsatz ihres Lebens für Regimegegner einsetzten. Manche traten besonders in den Elendsvierteln für die Rechte der Armen ein. 20 Priester fanden dabei den Tod.

Papst Franziskus wurde über die Wahl hinaus vorgeworfen, er habe eine zu große Nähe zu den regierenden Generälen gehabt und habe sich nicht genügend vor seine Glaubensbrüder gestellt. Dabei wird oft nicht genügend beachtet, dass P. Bergoglio damals ja nicht als Bischof oder gar Kardinal die Kirchenpolitik bestimmte, sondern dass er als Provinzial vor allem die Personen seiner Ordensgemeinschaft und auch andere Menschen schützen musste und wollte. Der Papst hat damals gewiss mit hohem Einsatz eine mittlere Linie einzuhalten versucht zwischen der konkreten Rettung einzelner Menschen, besonders auch aus dem Orden, und eines Kontaktes mit den Machthabern. Er weiß, dass es mutigere Mitbrüder gab, aber er hat auch nicht wenige gerettet. Im Wissen um diese schwierige Zwiespältigkeit, in die hier jeder kommt - man denke nur an die NS-Zeit bei uns -, hat er im Oktober 2012 ein Schuldbekenntnis abgelegt und das Schweigen mancher Verantwortlichen und Formen der Kollaboration bedauert. Es bleiben gewiss Fragen, wie sie in solchen Situationen unvermeidlich sind. Aber es besteht auch kein Zweifel, dass viele Vorwürfe aus einer polemischen Grundkonstellation gegen die Kirche formuliert worden sind, auch gegen Kardinal Bergoglio. Ich brauche im Rahmen dieser Predigt nicht näher darauf einzugehen. Viele, die Vorwürfe erhoben hatten, haben inzwischen die Einwände zurückgezogen, jedenfalls in ihrem Gewicht. Wir werden gewiss in der nächsten Zeit hier noch manches über die Geschehnisse von damals und ihre Aufarbeitung erfahren. Jedenfalls weiß der Papst um die reale Gefahr der Verwicklung in solche Zusammenhänge und kennt die Spirale der Gewalt. Es ist schon erstaunlich, dass diese Einwände heute fast ganz verstummt sind. Im Gegenteil, viele bezeugen ihre Rettung durch das Eingreifen des Erzbischofs der Hauptstadt. Zum guten Glück kamen die Vorwürfe erst nach der Wahl an das Tageslicht. Wenn sie vor dem Konklave aufgetreten wären, kann man sich kaum denken, dass er gewählt worden wäre, denn die Zeit zur Klärung war ja nun ganz und gar nicht gegeben.

Der Papst ist bei aller Offenheit und Kommunikationsbereitschaft ein stiller Mann. Er sucht nicht aufgeregt einen Gesprächspartner nach dem anderen auf. Er hält sich eher zurück. Er ruht - so hat man den Eindruck - sehr in sich, aber nicht im Sinne einer esoterischen Weltvergessenheit und Selbstverliebtheit. Denn wenn er auf jemanden zugeht oder andere ihm begegnen, ist er sofort wach. Wenn manche ihn als scheu bezeichnen, darf man nicht das Interesse und die Sensibilität für andere Menschen übersehen, die ihn still prägen. Er macht kein Aufheben von sich. Trotz des Studienaufenthaltes in unserem Land, in Boppard (1985), wo er zwei Monate am Goethe-Institut einen deutschen Sprachkurs absolvierte, und in Frankfurt/St. Georgen während eines Semesters zum Studium (1986) weilte, war er mit Reisen eher zurückhaltend. Deswegen kennt man ihn nicht überall persönlich. Als er Bischof wurde (1992 Weihbischof, 1998 Erzbischof, 2001 Kardinal), betonte er immer wieder, seine Diözese und die Menschen in ihr seien seine „Braut", an die er sich zuerst binde.

Dies zeigt sich auch wiederum in seiner Zurückhaltung gegenüber der Kirchenpolitik und auch theologischen Strömungen. Am bekanntesten ist seine Mitwirkung bei der Abfassung des Abschlussdokuments der V. Generalkonferenz des Episkopates von Lateinamerika und der Karibik vom 13. bis 31. Mai 2007 in Aparecida (Brasilien). Wenn er auch kein unmittelbarer Vertreter der Theologie der Befreiung ist, so eint ihn doch eine tiefe Verbundenheit mit dem grundlegenden biblischen und spirituellen Impuls des lateinamerikanischen Aufbruchs nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, der wirklich zu einer ganz neuen Zuwendung zu den Armen dieses Kontinentes führte und bis heute vorbildlich ist. Die Ausarbeitung einer „Theologie der Befreiung" ist ein späterer Schritt. Aber dies darf nicht sein tiefes Engagement für die Armen und Bedrängten dieser Welt verdecken, wie wir dies bei ihm täglich beobachten können. Wir werden noch darauf zurückkommen.

Vielleicht kann man dies am besten darlegen durch die kleine Geschichte, die Papst Franziskus selbst bei der Begegnung mit den Journalisten bald nach seiner Wahl erzählte: Als die Zahl der Stimmen im Konklave für Kardinal Bergoglio anstieg und offenbar ihn dies etwas bedrängte, saß ein großer Freund von ihm, Kardinal Claudio Hummes, neben ihm und als die Zweidrittel erreicht waren, umarmte Hummes ihn, küsste ihn und sagte: „Vergiss die Armen nicht!" Und Bergoglio fährt fort: „Und da setzte sich dieses Wort in mir fest: die Armen, die Armen. Dann sofort habe ich in Bezug auf die Armen an Franz von Assisi gedacht. Dann habe ich an die Kriege gedacht, während die Auszählung voranschritt bis zu allen Stimmen. Und Franziskus ist der Mann des Friedens. So ist mir der Name ins Herz gedrungen: Franz von Assisi. Er ist für mich der Mann der Armut, der Mann des Friedens, der Mann, der die Schöpfung liebt und bewahrt. Gegenwärtig haben auch wir eine nicht sehr gute Beziehung zur Schöpfung, oder? Er ist der Mann, der uns diesen Geist des Friedens gibt, der Mann der Armut ... Ach, wie möchte ich eine arme Kirche für die Armen!" (16. März 2013)

Die Wähler dieses Papstes haben diesen seinen Geist geahnt und wollten einen solchen Papst. Sein Profil konnte gut erkannt werden in der Ansprache, die er während der Generalkongregation der letzten Tage vor der Wahl hielt (es waren nur vier Minuten). Ich habe diesen Text schon zitiert und darf nochmals an die entscheidenden Punkte erinnern: keine um sich selbst kreisende Kirche, keine bloße Selbstbezogenheit der Kirche, sie verkündet nur das Licht Jesu Christi, in der Evangelisierung muss sie aus sich herausgehen. Ich wiederhole nochmals: „Was den nächsten Papst angeht: (Es soll ein Mann sein), der aus der Betrachtung Jesu Christi und aus der Anbetung Jesu Christi der Kirche hilft, an die existenziellen Enden der Erde zu gehen, der ihr hilft, die fruchtbare Mutter zu sein, die ‚aus der süßen und tröstenden Freude der Verkündigung des Evangeliums‘ lebt." Wir können von Herzen froh und dankbar sein, dass Papst Franziskus - wie ich schon sagte - diesen Text von der Geheimhaltungspflicht befreit hat und ihn dem Erzbischof von Havanna, Kardinal Jaime Ortega, und der ganzen Kirche zur Veröffentlichung überlassen hat.

Ich glaube, damit ist mehr gesagt, als unsere Worte dies noch vermehren könnten. Vielleicht ist damit auch erklärt, warum die 115 wählenden Kardinäle sich erstaunlich rasch für den Erzbischof von Buenos Aires und den ersten Jesuiten der Papstgeschichte entschieden haben. Vielleicht darf ich nur noch ein kleines ergänzendes Wort hinzufügen. In den offiziellen Beratungen und besonders auch in den privaten Gesprächen spielte nach meiner Erfahrung die Überlegung, ob man auch einen Nichteuropäer wählen könnte, überhaupt keine Rolle Dies bedeutete auch einen Unterschied zu 2005. Hier mussten die Nichteuropäer immer noch um eine gewisse ebenbürtige Anerkennung ringen. Im März 2013 war dies überhaupt kein Thema, und dies trotz der wachsenden Pluralität auch in der Kirche. Dies war für mich eine der tiefsten Erfahrungen des Konklaves 2013. Es war der Grund, in der Gemeinschaft des christlichen Glaubens aus tiefstem Herzen für die gelebte Katholizität in unserer Kirche dankbar zu sein. - Dies gilt nicht nur bei der Papstwahl und in den enthusiastischen Tagen danach, sondern auch im Alltag und besonders in seinen Niederungen. Papst Franziskus weiß gerade auch im Blick auf den Poverello von Assisi sehr wohl um das Kreuz in der Welt und in jedem Leben.

Nach mir werden in diesen Predigten zur Österlichen Bußzeit ja noch drei Mitbrüder das Zeugnis über den Kardinal Bergoglio, den sie schon vor der Wahl zum Papst kannten, fortsetzen. Ich möchte am Ende noch zwei Gesichtspunkte nennen, die mir am Herzen liegen. Vieles wird ganz gewiss durch Professor Dr. Gerhard Kruip, Professor P. Dr. Michael Sievernich SJ und Prälat Bernd Klaschka geklärt werden.

Das erste ist das Verhältnis von Papst Franziskus zur Befreiungstheologie. Man versteht dieses Verhältnis nicht, wenn man nicht die spezifische Ausformung von Befreiungstheologie in der argentinischen Version kennt. Dies ist bei uns in der europäischen Diskussion wenig beachtet worden. Die argentinische Theologie war damals sehr geprägt durch einen wichtigen Theologen, Lehrer auch des Papstes, nämlich Professor Lucio Gera, von der Katholischen Universität in Buenos Aires. Über ihn ist - Gott sei Dank - ein sehr erhellender Artikel „Lucio Gera - ein Lehrer von Papst Franziskus" von Frau Professor Dr. Margit Eckholt (Osnabrück) im März-Heft 2014 der „Stimmen der Zeit" erschienen, den ich nur empfehlen kann (S. 157-172).

Wenn man die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Strömungen kurz kennzeichnen möchte, kann man wohl sagen: Die argentinische Version knüpft weniger an eine Sozialanalyse, die gelegentlich auch marxistisch inspirierte Elemente verwendet, an, wie das in vielen anderen Konzepten der Befreiungstheologie erfolgt. Sie bezieht sich sehr viel stärker auf die Pastoral und das, was Lucio Gera „die Theologie des Volkes" nannte. Die Theologie entspringt, sagt Gera einmal, aus der Pastoral und der Predigt. Theologie und Pastoral gehören viel enger zusammen. Man kann dies in dem Schreiben des Papstes „Evangelii gaudium" noch sehr gut durchscheinen sehen (z. B. Nr. 20/21). Gewiss darf man den Unterschied der verschiedenen Befreiungstheologien nicht übertreiben. Sie sind schon auch durch den Aufbruch des lateinamerikanischen Kontinentes nach dem Konzil geprägt. Man darf nur die II. Lateinamerikanische Vollversammlung des Episkopates 1968 in Medellin in Erinnerung bringen. Die dortigen Ausarbeitungen kennzeichnen diesen exemplarischen Aufbruch eines Kontinentes nach dem Konzil (vgl. dazu Internationale Theologen-Kommission, Theologie der Befreiung, Einsiedeln 1977, 9-44). Es würde sich lohnen, dieser verschiedenen und doch gemeinsamen Ausrichtung näher nachzugehen. Es ist noch der Hinweis nützlich, dass Kardinal Bergoglio im Jahr 2012, als sein Lehrer Lucio Gera starb, ihn in der Krypta des Domes in Buenos Aires beerdigen ließ, obwohl er nicht Bischof und nicht Mitglied des Domkapitels war. Über sein Grab ließ Kardinal Bergoglio nur schreiben: „Maestro en teologia".

Daraus folgt noch eine wichtige Konsequenz. Wenn Kardinal Bergoglio und der heutige Papst Franziskus von den „Armen" redet, dann meint er gewiss zuerst die materiell Bedürftigen und an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen. Er hat ja gerade auch in den argentinischen Wirtschaftskrisen das Elend vieler Bevölkerungsteile hautnah erlebt. Deswegen gibt es ja auch gegenüber einem rücksichtslosen Kapitalismus, wie wir ihn kaum mehr kennen, in „Evangelii gaudium" sehr harte Worte, die man eigens interpretieren muss. Aber es wäre ein grotesker Irrtum, wenn man übersehen würde, dass das biblisch orientierte Wort von den „Armen" auch alle Menschen einbezieht, die keinen Sinn mehr in ihrem Leben kennen oder sich nur um eine irdische Sicht ihres Lebens kümmern. Arm kann man auch sein, wenn man sehr reich ist. Deswegen ist es unbedingt notwendig, bei den Äußerungen des Papstes das ganze Spektrum im Blick zu haben. Das hat auch zur Folge, dass man die Tätigkeit der Kirche nicht einfach - so notwendig dies ist - von der Diakonie und Caritas, auch nicht von der Sorge allein um die materiell Armen her versteht. Der Papst weiß, dass diese umfassende Bekämpfung von Armut im weitesten Sinne nur durch den intensiven Einsatz von Menschen möglich ist, die tief im Evangelium wurzeln. Deswegen schätzt er in „Evangelii gaudium" zur Überraschung vieler die Verkündigung des Evangeliums, die Predigt in höchstem Maß (vgl. Nr. 110-175). Dies hat manche völlig aus dem Verständnis von Papst Franziskus geworfen, weil sie dies nicht erwartet haben. Ich zitiere als Konsequenz nur ein Wort des Papstes aus den letzten Wochen und Monaten: „Nur wenn man tief in Gott gründet, kann man an die Ränder der Welt gehen." Nur in dieser Einstellung kann der Papst auch wirklich allen Aufgaben der Kirche gerecht werden.

Es gibt auch einen falschen Papst-Mythos, der aber letztlich ganz unkatholisch ist. Als ob der Papst, wenn er nur wollte, alles allein verändern und besser machen könnte! Oft denkt man gerade von außen so. Wer die Kirche wirklich kennt, denkt nicht einmal an so etwas. Der Papst braucht uns, noch mehr als bisher. Wir dürfen uns nicht untergründig oder manchmal beinahe unbewusst diesem Papst-Mythos verschreiben. Wir dürfen Papst Franziskus nicht allein lassen. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

Es gilt das gesprochene Wort.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz