„Wer an die Ränder geht, wird sich verändern."

Pfingst-Predigt von Kardinal Lehmann im Mainzer Dom

Datum:
Sonntag, 24. Mai 2015

Pfingst-Predigt von Kardinal Lehmann im Mainzer Dom

Die diesjährige Pfingstaktion von Renovabis hat sich hauptsächlich den Menschen am Rand der Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa zugewandt. Es sind vor allem Angehörige von Minderheiten, Flüchtlinge, Asylbewerber, Behinderte, psychisch Kranke, Opfer des Menschenhandels und chronisch Kranke sehr verschiedener Art. Diese Menschen haben in ihren Ländern bei aller Sorge um sie ein schweres Leben. In diesem Zusammenhang müssen auch die Probleme der Verteilung der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, gesehen werden. Wir reden manchmal schnell von einer Verteilung der Flüchtlinge, die gewiss nach den verschiedenen Leistungsmöglichkeiten der einzelnen Länder erfolgen soll, in Wirklichkeit ist es jedoch viel schwieriger, für einen Großteil der Länder in Mittel- und Osteuropa die Voraussetzungen für eine größere Zahl von Flüchtlingen zu schaffen.

Renovabis hat für diese 23. Aktion seit 1993 das Leitwort herausgegeben „An die Ränder gehen! Solidarisch mit ausgegrenzten Menschen im Osten Europas". Es ist unschwer, dahinter auch viele Worte und Aufrufe von Papst Franziskus zu sehen, der ja immer wieder mahnt, an die Ränder der Gesellschaft, ja in der ganzen Welt, zu gehen. Dies war schon Programm für ihn vor der Wahl 2013 zum Papst. Mit der Pfingstaktion wollen wir das Bewusstsein stärken, mit der jeweiligen Kirche vor Ort diesen Menschen am Rande zur Seite zu stehen. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gehört noch viel wichtiger als früher zu den normalen Bedingungen gelingenden menschlichen Lebens. In den letzten vier Wochen sind seit der Eröffnung der diesjährigen Aktion bundesweit viele Veranstaltungen gewesen und werden bis heute fortgeführt, besonders auch in den katholischen Schulen.

Ich möchte jedoch die Gelegenheit ergreifen und nochmals auf den tiefen Sinn dieser Aktion und der damit verbundenen Kollekte hinweisen. Es kann ja manchmal so aussehen, als ob eine solche Kollekte eben zu den üblichen Nebensächlichkeiten unserer großen Gottesdienste gehört. Der „Klingelbeutel" gehört zum Fest. In Wirklichkeit aber hat die Kollekte auch des heutigen Tages eine viel größere Tiefe. Zu dieser müssen wir vorstoßen, wenn wir die Aktion Renovabis auf die Dauer erhalten wollen. Dies gilt im Grunde auch für die anderen Bischöflichen Hilfswerke in unserem Land: Misereor, Adveniat und auch andere kontinuierliche Kollekten, auch wenn sie nicht im strengen und rechtlichen Sinne „Hilfswerke" sind, z.B. Caritas, Missio, Kollekten für das Heilige Land, auch die Sternsinger kann man in diesem Horizont sehen.

Die Arbeit hat sich gewiss geändert. Wenn auch heute noch Kirchen gebaut und saniert werden, so stehen diese Maßnahmen nicht mehr allein im Vordergrund. Oft müssen wir entdecken, dass wir die Lebenssituation unserer Schwestern und Brüder in diesen Ländern nicht kennen oder vergessen haben. Die Situation der Menschen in Mittel- und Osteuropa ist auch in unseren Medien nicht, jedenfalls nicht genügend, präsent. Viele Menschen, besonders auch junge, verlassen ihr Vaterland für immer, weil trotz guter Ausbildungsabschlüsse keine Arbeit zu finden ist. Es ist schlimm, was uns Bischof Gherghel aus Iasi in Rumänien sagen musste, wenn er die Lage vieler Menschen mit dem Wort charakterisiert: „Ohne Mut und schrecklich verarmt". Die Menschen leben wirklich am Rande. Der Weg nach Europa ist noch lang. Es gibt aber auch einzelne positive Nachrichten: Aus Albanien, das ein wirklich gottloser Staat unter den Kommunisten werden sollte und zum Teil auch war, wird große Vitalität auch in der Kirche berichtet. Vieles ist im Aufbau begriffen. Dies gilt besonders auch für junge Menschen. Papst Franziskus hat uns bei seinem Besuch im Herbst 2014 darauf aufmerksam gemacht.

Als ich die Berichte hörte, ergaben sich zwei verschiedene Eindrücke, die doch zusammengehören: Auf der einen Seite ist uns die Situation der Menschen in diesen Ländern fremd, jedenfalls im Vergleich zu uns selbst, wenn wir an die tägliche Not vieler denken. Selbst Brennholz fehlt. Auch in Europa gibt es Wassermangel, so z.B. in einigen Gegenden der Ostukraine. Deswegen brauchen wir Erinnerung und Geistesgegenwart. Auf der anderen Seite merken wir, wie wir auch selbst unheilvolle Situationen mitproduzieren. Dies gilt z.B. für den Menschenhandel. Frauen werden in unsere besser situierten Länder gelockt, ihnen wird eine Arbeitsstelle versprochen. Und hier werden sie dann nicht selten verkauft und als Sexsklavinnen gehalten, eingesperrt und brutal vergewaltigt. Dies geschieht in fast allen mitteleuropäischen Ländern, auch bei uns, ebenso wie in England und Frankreich, Österreich und der Schweiz, auch in Polen und in den skandinavischen Ländern. Plötzlich ist es keine fremde Not mehr, weit weg von uns, sondern unter unseren Augen, die wir freilich oft zudrücken, geschehen diese ungeheuerlichen Dinge. Dann spüren wir, wie nahe wir einander sind. Wenn wir die Augen aufmachen, dann nehmen wir wahr, welche neuen Nöte gemeinsam zu bewältigen sind. Wir sind auch viel näher bei den Verursachern.

Europa ist heute in einer großen Bedrängnis und sucht nach den Wurzeln einer neuen Identität. So wichtig wirtschaftliche Grundlagen sind, daraus entsteht noch keine wirkliche Gemeinsamkeit. Eine mörderische wirtschaftliche Konkurrenz kann uns ja noch mehr spalten. In den Ländern hat auch eine egoistische Haltung zugenommen, wenn man auch z.B. an die gemeinsame Verantwortung für die Flüchtlinge denkt. Der alte Nationalismus kommt uns in neuem Gewand wieder beträchtlich nahe.

Umso wichtiger ist es, dass wir eine gesamteuropäische Solidarität finden. Dabei hilft uns in ganz besonderer Weise das Leitwort der diesjährigen Pfingstaktion „An die Ränder gehen! - Solidarisch mit ausgegrenzten Menschen im Osten Europas". Bischof Avgustini aus Sape in Albanien hat es bei unserer Pressekonferenz am Freitag überzeugend formuliert: „Wer an die Ränder geht, wird sich verändern."

So haben wir auch immer besser verstanden, wie notwendig und segensreich es ist, dass wir aus den unterschiedlichen Lebensgeschichten des Glaubens einander begegnen. Man sprach schon früh vom „Austausch der Gaben", auch wenn der Weg dazu noch länger war. Es war deutlich, dass man andere Wege beschreiten musste als bei den übrigen Hilfswerken. Es ging ja nicht um die missionarische Verkündigung an solche, die das Evangelium nicht kannten. Es waren vielmehr reiche und hohe Kulturen, die ein großes Spektrum religiöser und künstlerischer Ausdrucksgestalten des Glaubens geschaffen hatten. Es war klar, dass „Hilfe" keine Einbahnstraße sein durfte, die von einer Seite gesteuert werden sollte.

Das Hilfswerk, das geschaffen werden sollte, musste also von Anfang an auf einen inhaltlichen Austausch hin orientiert sein. Es ging nicht nur darum, den Empfänger der Hilfe nicht zu entmündigen, vielmehr zu respektieren, sondern uneingeschränkt einen wahrhaft wechselseitigen Dialog zu beginnen. Deshalb musste auch noch ein anderes Element hinzukommen bzw. verändert werden: In der kommunistischen Zeit war es notwendig, die Hilfeleistungen möglichst diskret und bei einem sehr eingeschränkten Wissen nur weniger Leute zu vermitteln. Nun kommt es gerade darauf an, dass die „Hilfe" nicht nur auf einer Schiene allein, besonders des verantwortlichen Amtes in der Kirche, zu den Schwesterkirchen kommt. Darum war es auch von Anfang an eine gute Fügung, dass vor allem Laien, besonders aus dem Bereich des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, die Vorschläge für die Schaffung eines ganz neuen Werkes einbrachten. Es war eine gute Idee, Partnerschaften, kleine und große Kreise konkreter Versöhnung zu schaffen, die zugleich einen lebendigen Kontakt von Gesprächsgruppen gewährleisten. So ist der Untertitel des neuen Werkes sehr präzis und sehr bezeichnend: Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa.

Diese neue Form der Hilfe entspringt gewiss heutigen Bedürfnissen und trägt in den Strukturen auch dem partnerschaftlichen Verhältnis der Kirchen untereinander Rechnung. Aber wir dürfen auch einen Blick auf die Hl. Schrift zurücklenken.

Zwar ist die Hilfe von Mensch zu Mensch in der Bibel stark an die Gebebereitschaft und die Zuwendungsfähigkeit des einzelnen Glaubenden gebunden. Es kommt darauf an, ob jeder das Leid des anderen wahrnimmt und bereit wird zu einem helfenden Eingriff des Mitleids und der Barmherzigkeit, ohne gönnerisch oder gar herablassend auf den Bedürftigen von oben herunterzuschauen. Dies ist und bleibt gerade gegenüber dem Nächsten eine auch heute entscheidende Form der Hilfe. Einer meiner Verwandten, der aus wirtschaftlichen und geschäftlichen Gründen schon vor der „Wende" 1989/90 mit dem Auto in viele Länder Mittel- und Osteuropas kam, hatte meist seine gesamte Wäsche mit allen Hemden, Anzügen und Schuhen unterwegs verschenkt, als er wieder nach Hause kam. Die unmittelbare Not der Menschen hatte ihn angerührt.

Aber es lässt sich nicht übersehen, dass das Neue Testament schon in einem frühen Stadium auch eine institutionelle zwischenkirchliche Hilfe kennt, nämlich die Kollekte für die Jerusalemer Urgemeinde (vgl. Gal 2,10; 2 Kor 8-9). Paulus kam es dabei auf eine freiwillige Hilfe der Gemeinden an. Die eigene Armut und Bedürftigkeit hat dies nicht verhindert, im Gegenteil: „Während sie [die Griechen] durch große Not geprüft wurden, verwandelten sich ihre übergroße Freude und ihre tiefe Armut in den Reichtum ihres selbstlosen Gebens." (2 Kor 8,2)

Paulus zieht jedoch diese kleine theologische Skizze mit wenigen Strichen aus und vertieft die Kollekte durch eine christologische Überlegung. „Denn ihr wisst, was Jesus Christus, unser Herr, in seiner Liebe getan hat: Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch mit seiner Armut reich zu machen." (2 Kor 8,9) Diese Hingabe und dieser Austausch zwischen Reichtum und Armut bringen eine ganz neue Form der Kommunikation und des Umgangs miteinander. Hier fällt auch das wichtige Wort vom „Ausgleich". „Wenn nämlich der gute Wille da ist, dann ist jeder willkommen mit dem, was er hat, und man fragt nicht nach dem, was er nicht hat. Denn es geht nicht darum, dass ihr in Not geratet, indem ihr anderen helft; es geht um einen Ausgleich. Im Augenblick soll euer Überfluss ihrem Mangel abhelfen, damit auch ihr Überfluss einmal eurem Mangel abhilft. So soll ein Ausgleich entstehen wie es in der Schrift heißt: Wer viel gesammelt hatte, hatte nicht zu viel, und wer wenig hatte, hatte nicht zu wenig." (2 Kor 8,14f) Dies ist Pfingstgeist im besten Sinne.

Renovabis wird auf die Dauer nicht lebensfähig sein, wenn wir die Kollekte nicht in einer solchen Tiefe verwurzeln. Diesen geistgewirkten Ausgleich, den niemand erzwingen kann, gewinnt man nur aus dem Lebensgeheimnis und der Lebenshingabe Jesu für alle. Darum wurzelt auch der neue Geist, den uns Renovabis schenken soll und den er zugleich dringend braucht, im Geheimnis der Eucharistie. Sie führt uns am meisten zusammen und lässt uns nicht mehr auseinandergehen. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

Es gilt das gesprochene Wort 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz