Seit Jahren gibt es in unserem Land eine Wertedebatte. Sie hat vor allem zwei Stränge. Zum einen gibt es die Grundsatzdebatte über die Notwendigkeit von Werten für das Gelingen des Zusammenlebens in einer Gesellschaft überhaupt. Hier ist oft die Rede von den „Grundwerten“. Leider ist diese zuweilen öffentlich geführte Debatte immer wieder bald zusammengebrochen und versandet. Schließlich gibt es die konkrete Auseinandersetzung über die Verwirklichung von Werten, die sich in bestimmten Gesetzesvorhaben zur Geltung bringen müssten, z.B. ein Miteinander von Eigenverantwortung und Solidarität in den sozialen Sicherungssystemen.
Wir erleben seit vielen Jahren vielleicht stärker als früher einen Wertewandel. Er gibt leicht Anlass zur Klage über einen Zerfall der Werte. So etwas gibt es gewiss. So wurden Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre die so genannten „Sekundärtugenden“ (Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit usw.) diffamiert. Aber es ist freilich nicht so, dass der Wertewandel nur eine Verfallsbahn wäre. Es gibt z.B. im Blick auf den Einsatz für die Armen in der Welt (Fernethik) und die Bewahrung der Schöpfung auch einen Zugewinn an Wertbewusstsein. Man muss beides, Gewinn und Verlust, miteinander zusammensehen.
Es gibt zweifellos aber auch eine schleichende Erosion von Werten. Je selbstverständlicher sie bisher aufrechterhalten und anerkannt waren, desto verborgener bleibt für einige Zeit ihr Schwächerwerden. Eines Tages spürt man jedoch, dass irgendetwas nicht mehr „funktioniert“. Das Kind ist aber schon lange in den Brunnen gefallen. Man hat es nur nicht bemerkt. Gelebte Werte sind meist unauffällig. Wenn ihr eklatanter Verfall öffentlich festgestellt wird, ist es meist schon ziemlich spät.
Ein Beispiel dafür scheint mir die derzeitige öffentliche Debatte über „verdorbenes Fleisch“ zu sein. Fleisch, dessen Verfallsdatum abgelaufen ist, wird den Leuten wie frisches Fleisch angeboten. Manchmal sind nur die Etiketten mit den Angaben überklebt. Anfangs konnte man den Eindruck gewinnen, es würde sich nur um einzelne schwarze Schafe handeln. In der Zwischenzeit gibt es kaum einen Tag, an dem nicht neue Vergehen dieser Art aufgedeckt und gemeldet werden. Manchmal hat man den Eindruck, die Spitze eines Eisberges wäre aufgetaucht.
Nun soll wahrhaftig nicht das ganze Gewerbe an den Pranger gestellt werden. Nur wer wirklich Dreck am Stecken hat, ist hier gemeint. Aber es ist schon ein übles Phänomen, mit welcher Verantwortungslosigkeit hier mit der Gesundheit von Mitmenschen umgegangen wird. Dies ist gemeint, wenn wir eingangs vom schleichenden Verfall beinahe selbstverständlicher Werte sprachen. Es ist und bleibt erschreckend, wie wenig Rücksicht genommen wird auf die physische Unversehrtheit der Mitmenschen. Von Mafia sollte man jedoch erst reden, wenn man unter den verantwortlichen Firmen ein wechselseitiges Wissen über den Missbrauch oder gar regelrechte Absprachen finden würde. Beklemmend ist die immer größer werdende Zahl dieser Fälle.
Es genügt jedoch nicht, mit dem Finger auf die Bösewichte zu zeigen. Es ist nicht zufällig, dass solche Dinge geschehen. Wenn das Verantwortungsbewusstsein schwach geworden ist, muss die Aufsicht verstärkt werden. Sie allein macht aber noch keine bessere Moral. Auch die Konsumenten, die eben billiges Fleisch haben wollen, treiben den Wettbewerb in eine falsche Richtung. Es bleibt auch wichtig zu wissen, woher das Fleisch kommt, das man kauft. Wir spüren, wie wichtig das Vertrauen in die Geschäfte ist. Kleinere Geschäfte haben es immer schwerer. Wir brauchen auch die Medien zum Aufdecken. Der Verbraucherschutz ist nötiger denn je. Jeder kann mithelfen, damit solche Schurkereien ein Ende haben. Werte müssen an allen Fronten unseres Lebens verteidigt werden.
© Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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