Redemanuskript
Gerne denke ich mit Ihnen nach über den Zusammenhang von Werten und Grundhaltungen mit der Aufgabe der Erziehung. Dazu müssen wir etwas ausholen.
I.
Einen deutlichen Akzent in der Bildungsdebatte hat die Deutsche Bischofskonferenz gemeinsam mit der EKD bereits auf ihrem Berliner Bildungskongress „tempi - Bildung im Zeitalter der Beschleunigung" im November 2000 gesetzt. Leo O'Donovan SJ, der Präsident der Georgetown-University in Washington D.C., hat in einem vielbeachteten Vortrag darauf aufmerksam gemacht, dass die neuere Bildungsdiskussion funktionalistisch eng geführt wird. Bildung werde oftmals als Zurüstung zum Arbeitsmarkt verstanden und manche Reformvorschläge zielten darauf ab, die Schule möglichst optimal den neuen Bedürfnissen des Beschäftigungssystems anzupassen. Leo O'Donovan hat damals im Gegenzug ein überzeugendes Plädoyer für jene Bildungsziele und Bildungsinhalte gehalten, die auf den ersten Blick als wirtschaftlich unnütz gelten, aber für das gute Leben unverzichtbar sind, also etwa die „weichen" Fächer wie Kunst, Musik, Literatur und nicht zuletzt auch der Religionsunterricht. Diese Einsichten sind inzwischen auch auf einer Bundesfachtagung für das katholische Schulwesen konkretisiert worden. Ich habe sie selbst schon vor vielen Jahren formuliert, als ich zur von vielen zitierten Bildungsrede von Roman Herzog Stellung nahm.
Wie wichtig diese Problemanzeige war, zeigte dann die gegenwärtige Diskussion um den Ausbau der Ganztagsschulen und der Ganztagsbetreuung. In der Präambel zum Entwurf des Investitionsprogramms „Zukunft Bildung und Betreuung" - also der Rahmenvereinbarung des Bundes mit den Ländern über die Vergabe der finanziellen Mittel bis zum Jahre 2007 - heißt es wörtlich: „Durch eine frühzeitige und individuelle Förderung aller Potenziale in der Schule wird ein entscheidender Beitrag für eine gute Qualifizierung für die zukünftige Erwerbsarbeit geleistet. Dadurch kann der steigende Bedarf an qualifizierten Erwerbspersonen besser gedeckt, zugleich kann das vorhandene Potenzial an gut ausgebildeten Arbeitskräften besser ausgeschöpft werden und es können neue zukunftssichere Arbeitsplätze entstehen." Damit ist sicher Richtiges gesagt. Nur werden hier die Aufgaben der Schule einseitig von den Erfordernissen des Arbeitsmarkes her bestimmt.
Wir müssen uns sicher vor der falschen Antithese hüten: Bildung versus Ausbildung und Leistung. Zur schulischen Bildung gehören auch Forderungen, die zum Vertrautwerden mit der Arbeitswelt gehören, und Tugenden wie Verlässlichkeit, Disziplin und Pünktlichkeit. Aber sie beschränkt sich nicht darauf. So wenig der Mensch sich in bestimmten Weisen und Vollzugsformen von Arbeit erschöpft, kann Bildung gleichsam nur eine nützliche Vorstufe für eine bestimmte Ausbildung sein. Weitsichtige Vertreter der Wirtschaft wissen, dass wir in Zeiten eines beschleunigten technischen und ökonomischen Wandels Menschen brauchen, die ihr Handeln über den Tag hinaus an grundlegenden Werten orientieren. Wenn der Einzelne immer wieder Neues lernen und sich auf unbekannte Situationen einstellen muss, dann braucht er für seine eigene Lebensorientierung, aber auch für sein grundlegendes Berufsethos verlässliche Leitplanken, die nicht ständig wieder ausgewechselt werden müssen. Ethische Grundorientierungen sind gerade in einer solchen Situation unverzichtbar. In diesem Sinne ist es schlechthin unverständlich, warum wir gerade in der beruflichen Bildung einen so hohen Ausfall von Religionsunterricht in Kauf nehmen, wie es tatsächlich in vielen Bundesländern immer noch und immer wieder der Fall ist. Dabei wäre der Ausfall noch größer, wenn die Kirchen nicht auch finanziell versuchen würden, die Lücke zu stopfen.
II.
Für den klassischen europäischen Bildungsbegriff, der freilich gar nicht so alt ist, ist es ganz unnötig, dass man seine Wertorientierung überhaupt betonen muss. Bildung ist so eng mit - wie immer näher zu verstehender - konkreter Humanität verbunden. Das Wahre, Gute und Schöne sind Maßstäbe, die man von Bildung nicht ablösen kann. Bildung und Kultur waren engstens mit einem Menschenbild verbunden, das für lange Zeit die Tugenden der Gerechtigkeit und der Tapferkeit, des Maßes und der Klugheit einschloss, manchmal auch Glaube, Hoffnung und Liebe. Aber auch später zehrte der Begriff beim Bildungsbürgertum stark von diesem Erbe, selbst wenn es verwandelt und ergänzt wurde.
Die Rede von den Werten hat in den letzten Jahrzehnten - gerade auch im Zuge der Grundwerte-Debatten - inflationär zugenommen. Der öffentliche Sprachgebrauch verdeckt jedoch, wie umstritten der Wertbegriff in der Philosophie und Theologie, in den Rechts- und Sozialwissenschaften ist. Viele lehnen diesen Begriff rundweg ab, da er ein nichts sagender Restbegriff einer verblichenen und unkenntlich gewordenen Metaphysik, folglich auch ungenau und wolkig sei. Die Philosophen haben spätestens seit Martin Heidegger, viele Juristen - auch wenn sie sonst nicht mit ihm einverstanden sind - seit Carl Schmitt Schwierigkeiten mit diesem Begriff; im Anschluss daran lehnen vor allem auch viele Theologen besonders evangelischer Herkunft diesen Begriff radikal ab, z.B. E. Jüngel. Allerdings gibt es gerade in der modernen Sozialphilosophie auch ein erneutes Nachdenken über Werte, ihre Entstehung und Vermittlung. Ich denke hier etwa an die Entwürfe von Charles Taylor oder Hans Joas .
Für Bildung und Erziehung ist der Wertbegriff bei allen Vorbehalten unverzichtbar. Denn jeder Fächerkanon, jeder Stunden- und Lehrplan beruht auf Entscheidungen darüber, welche Inhalte und Gegenstände es wert sind, unterrichtet zu werden. Bildungsdiskussionen sind Diskussionen darüber, welches Wissen und welche Verhaltensweisen wir für so wertvoll halten, dass wir sie der nachwachsenden Generation vermitteln wollen. Schüler werden nur dann erfolgreich lernen können, wenn sie davon überzeugt sind oder werden, dass das, was sie lernen sollen, auch tatsächlich wert ist, gelernt zu werden. Die eher durchschnittlichen Ergebnisse der deutschen Schüler weisen ja nicht nur auf Defizite in der Wissensvermittlung hin, sondern auch darauf, dass vielen Schülern der „Wert" dessen, was sie in diesen Bereichen lernen sollen, nicht recht einleuchtet. Kognitives Lernen und Werteerziehung sind offenkundig nicht voneinander zu trennen.
Wertebezogene Bildung enthält ein unverzichtbares personales Element. Der Einzelne bringt durch seine Teilhabe am Gespräch der Gesellschaft und durch seine persönliche Prägung seine Beziehungen zur Welt überhaupt einmal zur Sprache und zum Bewusstsein. Personalität, Bewusstseinserhellung und soziale Verantwortung gehören zusammen. Bildung darf nicht nur privat gedacht werden, sondern hat auch eine soziale Verpflichtung. Diese Einsicht ist grundlegend für das Erziehungskonzept der katholischen Schule. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, eigenständige, sozial verantwortungsbewusste und urteilsfähige Persönlichkeiten heranzubilden und ist deshalb einem ganzheitlichen Bildungsverständnis verpflichtet, das neben funktionalen vor allem personale Aspekte umfasst. Bildung erschöpft sich in der katholischen Schule nicht in der Vermittlung von Wissen oder im Erwerb einzelner Qualifikationen und Kompetenzen. Bildung meint vielmehr auch die personale Integration von Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen und das Bewusstsein der eigenen Identität. Darum erstreckt sich Bildung auch auf Geist, Gemüt und Leib. Sie sieht nicht nur auf den Kopf des Menschen, hat immer auch etwas mit „Herzensbildung" zu tun. Darum gehört zu einem umfassenden Bildungsideal neben der intellektuellen Ausbildung eben auch die Förderung des Ethischen, des Kreativen, des Musischen und Emotionalen. Dies verwirklicht sich in besonderer Weise im Religiösen.
Bildung muss auch außerhalb von ihr selbst liegende Ziele zu verwirklichen suchen. Sie hat mit Werten und Zielen zu tun, die keiner weiteren Zwecksetzung unterliegen, in diesem Sinne unbedingt sind. Sie haben Rang und Bedeutung aus sich heraus. Dies gilt im Grunde für alle Maßstäbe, Normen und Ideale. Es gilt im Kern auch für jede Kunst, weil diese letztlich bei allen funktionalen Aspekten aus sich selbst heraus überzeugen muss. Es gilt für alle „Theorie", die nicht von Anfang an schon zweckgebunden und bloß praxisorientiert sein kann . Es gibt eine Suche nach Erkenntnis, die nur deshalb einmal fruchtbar wird, weil sie nicht von vornherein domestiziert ist. Ohne diese unverzweckte, freie Theorie, die wir von den Griechen gelernt haben, gibt es letztlich kein verlässliches Wissen und am Ende auch keine Wissenschaft, die dieses Namens würdig ist. Bildung kann heute gewiss an gesellschaftlichen Bedürfnissen nicht ganz vorbei gehen, aber sie verliert sich selbst, wenn sie gegenüber den gesellschaftlichen Tendenzen nicht unabhängig bleibt. Deshalb muss jede Erziehung zur Bildung auch Distanz und Freiheit zu allem, was ist, schaffen. Dies geschieht nicht nur im Sinne eines billigen „Hinterfragens" von allem und jedem, sondern im Befragen und Belagern dessen, was zuerst fremd anmutet, sich jedoch oft als überraschende Wahrheit zu erkennen gibt. Eine solche Erkenntnis braucht die Geduld des Suchens und eine hohe Freiheit von Vorurteilen. Sonst entdeckt man nichts Neues. Ich habe oft den Eindruck, dass unser Bildungsbetrieb weit entfernt ist von einer solchen Kultur der Selbstständigkeit und der Verantwortung des Einzelnen. Da gibt es zu viele Etiketten und Schablonen, zu enge Programme und Lehrpläne.
III.
Wer von wertbezogener und personal orientierter Erziehung und Bildung spricht, muss die Fragen beantworten, an welchen Werten sich Erziehung und Bildung orientieren sollen und wie diese Werte vermittelt werden können. Auch wenn man nicht in das kulturkritische Lamento über den Verlust der Tugend oder den Verfall der Werte einstimmt, so muss man doch nüchtern feststellen, dass Werteerziehung in einer pluralistischen Gesellschaft vor neuen Herausforderungen steht. Das Nebeneinander gegensätzlicher Wertüberzeugungen erschwert die Konsensbildung über pädagogische Leitideen in der Schule und fördert eine hochgradige Individualisierung, die gewiss viele Freiheiten ermöglicht, aber faktisch auch die Solidarität in unserer Gesellschaft mindert. Im Streit der Wertüberzeugungen sind dann viele geneigt, sich auf einen Minimalstandard zurückzuziehen, der jene Werte umfasst, die vor allem für das wirtschaftliche Wohlergehen unserer Gesellschaft notwendig sind. Es scheint jedenfalls einen Zusammenhang zwischen der Ökonomisierung vieler Lebensbereiche einerseits und der Pluralisierung und Individualisierung von Wertüberzeugungen anderseits zu geben.
Einigkeit dürfte unter Pädagogen darüber herrschen, dass Werte nicht rein kognitiv vermittelt werden können wie etwa mathematische Formeln. Realistischerweise wird man auch davon ausgehen müssen, dass Wertevermittlung nur bedingt intentional steuerbar ist. Werte werden vielmehr über Erfahrungen vermittelt. Wertbindung entsteht, wenn wir von Werten „ergriffen" werden. Die grundlegenden wertkonstitutiven Erfahrungen werden zweifelsohne in der Familie gemacht. Hier erfahren Kinder noch vor jeder ausdrücklichen Thematisierung von Werten, woran sich das tägliche Miteinander orientiert, was für die Eltern und Geschwister wertvoll und was eher wertlos ist. Hier lernen sie elementare soziale Umgangsformen, Rücksichtnahme auf andere und Respekt vor ihnen, den fairen Umgang mit unterschiedlichen Interessen und die Lösung von Konflikten. In der Familie lernen Kinder auch, welchen Wert Eltern und Geschwister Schule und Bildung beimessen. Die Wertentscheidungen der Familie bestimmen dann meist auch ihr Verhalten in der Schule und zur Schule. Dasselbe ließe sich auch für die Einstellung zu Kirche und Glaube sagen.
Die Erziehung in der Familie ist so entscheidend, dass sie durch andere Institutionen nicht oder nur unzureichend ersetzt werden kann. Diese Einsicht wird in der gegenwärtigen Diskussion um den Ausbau der Ganztagsschulen bzw. der Ganztagsbetreuung zu wenig berücksichtigt. Ganztagsschulen können ein Beitrag zur besseren Vereinbarung von Kindererziehung und Berufstätigkeit sein. Aber auch sie bleiben auf die Erziehungstätigkeit der Eltern oder der allein erziehenden Mütter und Väter angewiesen. Der Ausbau von Ganztagsschulen entbindet deshalb nicht von der Verpflichtung, Familien bei der Kindererziehung zu unterstützen. Hier sind nicht nur Staat und Schule in der Pflicht, sondern auch Betriebe und Unternehmen. Die Kirche leistet gerade in diesem Feld bereits einen großen Beitrag. Ich habe den Eindruck, dass die notwendige Diskussion zur demografischen Lage bei manchen eine verhängnisvolle Schlussfolgerung auslöst, nämlich das die Kinder grundsätzlich zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr in entsprechende Kindertagesstätten aufgenommen werden sollten, weil die Familien die Erziehungsaufgaben aus vielen Gründen nicht mehr leisten könnten. Dieser Entwicklung muss bei aller Unterstützung von Kindertagesstätten und einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie für die Frauen dann entgegengetreten werden, wenn es sich um eine prinzipielle Äußerung handelt.
Werteerziehung in der Schule heißt, Schule als einen Ort zu verstehen, an dem wertkonstitutive Erfahrungen gemacht und reflektiert werden können. Wertevermittlung geschieht - auch in der Schule - personal. Beispiele, Vorbilder und ihr reales Verhalten zählen mehr als verbale Bekundungen und Informationen. In der Begegnung mit Menschen und ihrem Handeln werden Werte und Wertüberzeugungen konkret erfahrbar. Ohne personale Bindung können Werte keine motivierende Kraft entfalten. Werte bedürfen der Repräsentation; sie erfordern, um es in kirchlicher Sprache auszudrücken, das Zeugnis des Lebens.
Sodann geschieht Wertevermittlung durch den institutionellen Charakter der Bildungseinrichtung selbst. Dieser Aspekt wird in der deutschen Diskussion oft sträflich vernachlässigt. Dabei sagt etwa die Gestaltung des Schulgebäudes und der Schulräume weit mehr über die Werte, die an einer Schule kommuniziert werden, als jeder Lehrplan. Schule ist auch eine Lebensform und ein Lebensraum. Diese Einsicht gehört zu den Wesenselementen der Katholischen Schule. „Schule als Erziehungsgemeinschaft" legt den Akzent auf den sozialen und kommunitären Charakter von Schule, auf das Miteinander aller am Schulleben Beteiligten, Lehrern, Schülern, Eltern und Schulträger. Unter dem Aspekt der Wertevermittlung ist die Erziehungsgemeinschaft unverzichtbar. Denn jede Wertekommunikation braucht eine konkrete Gemeinschaft, die Werte bezeugt und lebt.
Zur schulischen Wertevermittlung gehört schließlich die Artikulation und Reflexion von Werten, Wertentscheidungen und Wertkonflikten. Schule muss Freiräume eröffnen, an denen Schüler Erfahrungen, die sie innerhalb und außerhalb von Schule gemacht haben, thematisieren und reflektieren können. Ein solcher Freiraum ist sicher der schulische Religionsunterricht. Die Beschäftigung mit normativen Fragen darf aber nicht einfach an ein Fach delegiert werden. Auch in den anderen wissensvermittelnden Fächer wie Deutsch, Geschichte oder Biologie stellen sich normative Fragen, denen der Deutsch-, Geschichts- oder Biologielehrer nicht einfach ausweichen darf.
So wichtig und unverzichtbar der Diskurs für die Bildung z.B. sittlicher Urteile ist, Wertevermittlung erschöpft sich nicht in bloßer rationaler Argumentation. Darüber ist ja viel gearbeitet worden, wenn ich nur an die Bildung des Gewissens und die verschiedenen Lebensalter denke. Wenn Wertevermittlung vor allem auch z.B. über Erfahrung geschieht, dann hat sie u.a. einen wesentlich narrativen Zug. Erfahrungen werden in Erzählungen und Geschichten kommuniziert. Das gilt übrigens auch für die Kirche. Sie versteht sich auch als Erzählgemeinschaft. Nicht zufällig hat ihr zentraler und identitätsstiftender Vollzug, die Feier der Eucharistie, auch eine narrative Struktur. Erzählung und Gemeinschaft gehören zusammen. Gemeinschaften definieren sich auch über gemeinsame Geschichten. Damit stellt sich natürlich die Frage, welche „Geschichten" für uns bedeutsam und orientierend sind. In der Katholischen Schule sind das natürlich zunächst die Geschichten der Bibel, allen voran die Geschichte von Jesus Christus, sodann aber auch die Lebensgeschichten großer Christen, der kanonisierten und (noch) nicht kanonisierten Heiligen. An ihnen wird deutlich, dass das christliche Ethos keine ferne Utopie ist, sondern im Hier und Jetzt entschieden und glaubwürdig gelebt werden kann.
Eine erfolgreiche Wertevermittlung wird sich immer wieder die Frage nach der zeitgemäßen Artikulation christlicher Werte wie Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Uneigennützigkeit, Verlässlichkeit oder Treue stellen müssen. Sie sind weniger veraltet, als wir manchmal meinen. Sie bedürfen jedoch einer Vermittlung, die den veränderten Lebensbedingungen und Erfahrungen heutiger Schüler gerecht wird. Eine realistische Wertekommunikation wird auch Erfahrungen des Scheiterns, des Versagens und des Sichversündigens nicht ausblenden dürfen. Zum christlichen Ethos gehört notwendig die Einsicht, dass wir in unserem Leben immer hinter dem zurückbleiben, zu dem wir uns bekennen. Dies gilt für das individuelle und das gesellschaftliche Leben. Deshalb werden auch viele klassische ethische Themen, die lange Zeit für überholt erschienen, neu entdeckt, wie z.B. die Rehabilitation der Tugenden zeigen kann. Man denke aber auch an das Subsidiaritätsprinzip.
IV.
Das Nachdenken über Wertevermittlung in der Schule führt zu der Erkenntnis, dass diese nur dann erfolgreich sein wird, wenn Schule sich als Lebensform und als Gemeinschaft versteht. Diese Erkenntnis prägt das Selbstverständnis der Katholischen Schulen. Unter dem Begriff der „Erziehungsgemeinschaft" (communauté éducative) wird an ihnen seit langem praktiziert, was neuerdings und anderenorts auch unter dem Begriff „Schulkultur" firmiert. Es geht dabei um die - leider nicht selbstverständliche - Einsicht, dass Schule kein mehr oder minder zufälliges Zusammentreffen von unterschiedlichen Klassen, Fachkonferenzen, inner- oder außerschulischen Aktivitäten ist, die von der Schulleitung unter administrativen und funktionalen Gesichtspunkten organisiert werden. Schule ist vielmehr eine Lebensform, in der Leben und Lernen, das Handeln der beteiligten Personen und Gruppen sich an gemeinsam geteilten Werten und wegweisenden Geschichten orientieren. Diese Werte prägen - ob man sich dessen bewusst ist oder nicht - das alltägliche Miteinander ebenso wie die Gestaltung des Schultages und des Schuljahres, des Schulgebäudes und des Schulgeländes und, im Rahmen der staatlichen Vorgaben, auch die Art und Weise zu lernen und zu lehren. Katholische Schulen gelten meist zu Recht als besonders leistungsstark. Dies liegt nicht nur an der Effektivität des Unterrichts, sondern auch daran, dass hier Schülern der Wert dessen, was sie lernen, und der Zweck, wozu sie es lernen sollen, verständlicher gemacht wird. Es ist gerade die Verbindung von Wissensvermittlung und Wertekommunikation, die auch das Profil katholischer Schulen prägt. Dass dieses Profil viele Eltern in unserem Land überzeugt, belegen die Anmeldezahlen, die seit Jahren die Kapazitäten der Katholischen Schulen deutlich übersteigen und in diesem Schuljahr einen neuen Höchststand erreicht haben.
Zum Konzept der Erziehungsgemeinschaft gehört, dass Lehrer, Eltern und Schüler jeweils zu ihrem Teil gemeinsam für ihre Schule verantwortlich sind. Dabei kommt der Mitarbeit und Mitbestimmung der Eltern eine besondere Bedeutung zu. Schule und Elternhaus sollen im Sinne einer Erziehungspartnerschaft zusammenwirken, sich gegenseitig unterstützen und ergänzen. Wie wichtig das Miteinander von Schule und Eltern ist, zeigt sich immer dann, wenn Jugendliche schwierige Entwicklungsphasen durchleben oder schwere Herausforderungen wie etwa den Tod eines geliebten Menschen, eine Krankheit oder die Trennung der Eltern zu bewältigen haben. In diesen Situationen hat sich die Erziehungsgemeinschaft der Schule zu be-währen.
Zum Konzept der Erziehungsgemeinschaft gehört schließlich auch die Erziehung der Schüler zu Mitbestimmung und Mitverantwortung. Jeder Einzelne soll sich als Glied der Gemeinschaft verstehen, die von Achtung voreinander, Verantwortung füreinander und gegenseitiger Hilfsbereitschaft geprägt ist. Die Katholische Schule bildet so eine eigene Schulkultur aus, die immer auch ein Stück Gegenkultur zu kurzatmigen Trends und schnell wechselnden Moden bildet. Sie fördert die Eigeninitiative und Eigenverantwortung der Schüler über den Unterricht hinaus und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung: sie wird zur Lernstätte der Demokratie.
Die gemeinsame Orientierung am Evangelium und an der katholischen Glaubenstradition erleichtert die Bildung einer Erziehungsgemeinschaft. Der konfessionelle Charakter der Katholischen Schulen darf allerdings nicht mit geistiger Enge und Abgrenzung verwechselt werden. Das christliche Ethos ist kein Gruppenethos für einen beschränkten Adressatenkreis. Das Kennzeichen einer christlichen Ethik ist nicht ihre Exklusivität, sondern ihre Kommunikabilität. Zum Katholischen gehört immer eine grundlegende Offenheit für Andere, die Bereitschaft zu Begegnung und Dialog. In einer pluralistischen Gesellschaft kann die Vermittlung der eigenen Werte gar nicht ohne Bezug auf die Werte und Werterfahrungen der anderen gelingen. In der Begegnung mit den anderen teilen wir unsere Werte mit und werden zur Modifizierung und zur Erneuerung des Eigenen angeregt.
Diese grundlegende Offenheit des Katholischen, sein wahrhaft universaler Zug sind wohl auch der Grund dafür, dass von Katholischen Schulen immer wieder wichtige Impulse für die Reform auch der staatlichen Schulen ausgehen. Vieles, was in den letzten Jahren im staatlichen Schulwesen unter den Begriffen „Schulkultur", „Schulprogramm" und „Selbstständige Schule" diskutiert wurde, greift - ob bewusst oder unbewusst - Elemente des katholischen Verständnisses von Schule als Erziehungsgemeinschaft auf.
Katholische Schulen verstehen sich auch als Experimentierfeld, auf dem Neues erprobt werden kann, das, wenn es erfolgreich ist, von anderen Schulen gerne übernommen wird. Deshalb müssen Katholische Schulen ihr Schulleben aber auch selbstständig gestalten können und dürfen ihnen weder von staatlicher Seite noch vonseiten der kirchlichen Träger unnötige Auflagen gemacht werden. Es muss auch einmal in Kauf genommen werden, dass nicht jede Reformidee sich als realisierbar erweist und nicht jedes Projekt auf Anhieb ein Erfolg wird. Langfristig werden Staat und kirchliche Träger für das Vertrauen, das sie in die Eigenverantwortung einer Schulgemeinschaft gesetzt haben, mit einem lebendigen und innovationsfähigen Schulwesen belohnt.
Der Trägerpluralismus, den das Grundgesetz ausdrücklich vorsieht (vgl. Art. 7 Abs. 4 GG), garantiert ein vielfältiges Bildungsangebot, das den unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen von Eltern, Schülern und Lehrern sicher besser gerecht wird als eine Einheitsschule. Ein plurales Schulwesen ist Innovationen besonders aufgeschlossen. Dies sollte den Bundesländern auch Geld wert sein. Gerade in einer Zeit, die vom Schwund des gesellschaftlichen Wertekonsens geprägt ist, gewinnt die Schule eine neue Funktion. Ergänzend zum Elternhaus geht es darum, nicht nur äußere Bildung, sondern vor allem innere Werte zu vermitteln.
Wir haben den Kreuzschwestern Bingen in diesem Sinn für 90 Jahre Kinder- und Jugendhilfe St. Hildegard zu danken. Sie haben, verehrte Schwestern, mit Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Vorbildliches geleistet und haben wirklich in diesem Bereich hervorragende Pionierarbeit geleistet. Ich sage Ihnen dafür im Namen des Bistums, aller Betroffenen und persönlich ein herzliches Vergelt's Gott und erbitte für Sie, alle in Ihrem Haus und für alle, die Ihnen anvertraut sind, Gottes reichen Segen.
Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz