Die beiden großen kirchlichen Zusammenschlüsse auf europäischer Ebene, die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), die die reformatorischen und die orthodoxen Kirchen vertritt, und der Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) auf katholischer Seite, haben nach mühseliger Arbeit unter dem Titel "Charta Oecumenica" Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa unterzeichnet.
Dieser Text ist ein nüchternes, freilich auch programmatisches Arbeitsdokument, das den Stand der ökumenischen Kooperation im ganzen treffend wiedergibt und im Sinne von Selbstverpflichtungen künftige Aufgaben beschreibt. Er wollte und konnte kein Lehrtext oder eine kirchenrechtliche Vereinbarung sein. Solche Texte werden anderswo und mit anderen Methoden erarbeitet.
Der Straßburger Text mit zehn Druckseiten erfüllt aber eine wichtige Aufgabe. Indem er für die europäische Ebene die mittlere Richtgeschwindigkeit der intensiver werdenden ökumenischen Zusammenarbeit zu umschreiben versucht, hilft er eine dichtere kirchliche Gemeinschaft zu schaffen. Dabei geht es um viele grundsätzliche Aufgaben im Verhältnis untereinander, aber auch um ein besseres Sichkennenlernen und z.B. gemeinsame europapolitische Initiativen, um einen neuen Lebensstil nicht zuletzt im Zusammenhang eines ökumenisch vernetzten Umweltschutzes. Gegenüber vielen neuen nationalistischen Versuchungen wird zwar durchaus der Eigenwert des Nationalen betont, aber auch jede überzogene Akzentuierung kritisch verfolgt.
Ich halte es für verfehlt, eine solche Erklärung unter das Verdikt "Kein Fortschritt" zu stellen. Man sollte z.B. die intensiven Konsensbemühungen allein unter den ca. 130 reformatorischen, anglikanischen und orthodoxen Glaubensgemeinschaften in ihrer Bedeutung nicht verkennen. Trotz nicht weniger Schwierigkeiten läuft man nicht einfach auseinander, sondern ringt um einen gemeinsamen Weg.
Bei anderer Gelegenheit habe ich schon aufmerksam gemacht, dass ganz gewiss jede Kirche, auch wenn sie sich ökumenisch ganz vorne wähnt, aus den Überlegungen der "Charta" immer noch einiges lernen kann. Es scheint mir jedoch gefährlich zu sein, alles nur an den großen (Fern)-zielen der Ökumene zu messen und dass jeweils in kleinen Schritten Erreichte herabzusetzen, wenn es eben nicht der große Wurf ist. Man kann wirklich auch nur zusammenwachsen, wenn man die Integration auf vielen Feldern des kirchlichen Lebens vorantreibt. Die Folgen eines besseren Verständnisses müssen in viele Verästelungen hinein vorangetrieben werden. Wenn man dies nicht beachtet, kommt es zu ständigen Rückschritten und Behinderungen.
Wer alles nur an der Abendmahlsgemeinschaft misst und daran, wie weit der geplante Ökumenische Kirchentag 2003 diesem Ziel näher kommt, muss aufpassen, dass er am Ende nicht hochmütig wird und nur mit den berühmten Siebenmeilenstiefeln die großen Erfolge der Ökumene erstürmen will. Auch im Leben der Ökumene kommt es darauf an, dass wir die manchmal etwas großen Geldscheine umtauschen in kleine Münzen. Man braucht sich dessen nicht zu schämen. Wir könnten vieles, was wir immer noch unzulänglich tun, längst besser machen: gemeinsame Gespräche über den Glauben, gemeinsame Auslegung der Schrift, Deutung unseres heutigen Lebens im Licht der Bibel, gemeinsamer Einsatz für die Benachteiligten in Nah und Fern, gemeinsamer missionarischer Aufbruch in unserem Land. Wenn diese Dinge gelingen, dann bauen wir mindestens indirekt auch an den großen Zielen, die uns aufgegeben sind.
Der ökumenische Fortschritt läuft nicht nach den Gesetzen technischer Machbarkeit, er folgt auch nicht den hastigen Erwartungen der öffentlichen Meinung, die nicht selten nur auf sensationelle Meldungen abfährt oder nach einer bestimmten Effizienz schielt. Die Flügel und der Flügelschlag der Ökumene werden nicht lahmer, wenn wir uns intensiv und gediegen nach vorn bewegen, sondern erhalten dadurch stetigen Auftrieb und ermutigende Verlässlichkeit. Wenn dies unsere Richtgeschwindigkeit bestimmt, dann muss man auch nicht bei jeder Panne grundsätzlich um die Ökumene bangen. Es gibt dann genügend nachhaltige Kräfte um sie zu verarbeiten und zu überwinden.
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz
(aus: Bistumszeitung Glaube und Leben, Mai 2001)
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz