Weihnachten ist das Fest der Liebe. Sie scheint jedoch eher in den Binnenraum diskreter menschlicher Beziehungen zu gehören. Die Nächstenliebe im Sinne der Bibel hat jedoch zweifellos eine soziale und öffentliche Dimension. Ist unsere Welt jedoch nicht anders geworden? Sind die Beziehungen nicht allgemeiner und weniger verbindlich geworden? Sollte man sich nicht mit der Forderung nach Solidarität begnügen?
Aber über diesen Begriff streitet man sich heute nicht zufällig. Die einen erklären, die Tendenz zur Individualisierung erzeuge aus den Menschen Egoisten. Dieser Prozess, besonders im wirtschaftlichen Bereich, mache die Menschen unfähig zur Solidarität. Nicht zuletzt darum verbreite sich soziale Kälte. Andere behaupten, dass dieser Prozess der Individualisierung überhaupt erst die Voraussetzungen schaffe für eine Solidarität, die wirklich eine echte Bindung ermögliche. Die Menschen hätten viel Nachholbedarf im Blick auf ihre individuelle Selbstverwirklichung. Sei diese einigermaßen gesättigt, so ergebe sich auch eine neue Qualität der Bindungskräfte in unserer Gesellschaft.
Gewiss steckt die Solidarität in einer Krise. In der Tat wird vielerorts Solidarität aufgekündigt: der Stärkere setzt sich einfach durch, manche haben vor Schädigungen der Allgemeinheit keine Hemmung, Aggressivität und Gewaltbereitschaft nehmen vielerorts zu, Betrügereien und Korruption werden nicht gescheut, menschliche Bindungen zerbrechen rasch. Auch Geschäftsleute klagen zunehmend, wie ruppig die Kunden oft in ihren Forderungen und in ihrer Ungeduld mit den Mitarbeitern umgehen. Dabei ist Gewalt gegen Schwächere besonders auffällig und ärgerlich.
Früher gab es die berühmte "Arbeitersolidarität". Sie war stark, man konnte auf sie zählen. Auch dies hat sich geändert. Die Unterschiede liegen auf der Hand. Daran wird aber auch erkennbar, dass die klassische Solidarität sich vorwiegend an der Beziehung zwischen Gleichen orientierte. Gefordert ist heute ja ganz besonders die Solidarität mit denen, die nicht zur selben Gemeinschaft oder Gruppe gehören. Eben darum ist die Solidarität so schwach im Blick auf Junge und Alte, Kranke und Behinderte sowie auch Frauen. Ein Prüfstein aber für jede Solidarität ist das Verhältnis zu den Fremden. Sie brauchen am meisten unsere Solidarität.
Hier können wir von Jesus und dem wahren Geist des Christentums lernen. Gott selbst verbindet sich in ihm mit ausnahmslos allen Menschen. Keiner ist grundsätzlich ausgeschlossen. Dies bezeugt er, indem er das Leben mit den Menschen teilt und sich besonders für die gesellschaftlich Ausgestoßenen einsetzt. Dies bewährt er bis in den Tod. Auch hier nimmt er noch solidarisch nun die Ungerechtigkeit und Sünde der Welt an das Kreuz. Einer wird solidarisch mit allen und für alle, die Weihnachtsgeschichte lehrt uns dies am Beispiel einfacher Menschen, z.B. der Hirten. So könnte Weihnachten auch heute eine Quelle sein für mehr Rücksicht und Gerechtigkeit untereinander.
(c) Bischof Karl Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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