I.
Der Mensch ist ein Wesen, das in sich selbst steht, niemals Mittel zum Zweck werden darf und darum die Würde einer menschlichen Person hat. Dennoch wissen wir, wie sehr er trotz dieser Gründung in der Personmitte ein Wesen ist, das immer auch über sich hinausreicht. Die moderne Anthropologie hat überzeugend dargetan, wie sehr der Mensch nicht durch seine Instinkte und die Vertrautheit mit seiner Umwelt fixiert ist, sondern durch Weltoffenheit bestimmt ist. Diese unterscheidet ihn in erheblichem Maß vom Tier. Man hat deswegen auch seine Stellung in der Welt durch die Kategorie der „exzentrischen Position“ (H. Plessner) umschrieben: Der Mensch ist immer schon über sich hinaus mit der Welt verbunden. Dabei wird vorausgesetzt, dass er über diese Welt und die Einfügung in sie durch die Vernunft eine Verfügungsgewalt behauptet. Sonst sinkt er schnell ab, und zwar unter sein Niveau. Diese Doppelstellung gehört zum Menschen. Diese zweifache Rolle kann der Mensch nicht überwinden. Man kann auch sagen: Ein Mensch ist immer zugleich Leib und hat diesen Leib als diesen Körper.
Darum sind die Sinne unseres Körpers von größter Bedeutung. Durch die Leiblichkeit verbinden sie fundamental den Menschen mit der Welt. Dazu gehören die Fähigkeiten, durch Gehör-, Geruchs-, Geschmacks-, Gesichts- und Tastsinn sowie mittels Gleichgewichts-, Schmerz- und Temperatursinn Reize aufzunehmen. Die Sinnesorgane vermitteln zwischen dem Selbst und der Welt. Manche Sinneswahrnehmungen sind uns ganz selbstverständlich, wie z.B. die Bedeutung der Haut. Sie zeigt besonders die Trennung und die Begegnungsmöglichkeit an zwischen dem Selbst und der Welt. Schließlich wird der Leib selber als Ausdrucksgestalt des ganzen Menschen verstanden. Er ist sichtbare Seele, Symbol, Ausdruck von Unsichtbarem.
Jeder Sinn hat seine eigene Bedeutung und lebt doch auch vom Zusammenspiel der Sinne untereinander. Es geht um die Augen und die Ohren, den Mund und die Nase, schließlich um die schon genannte Haut.
II.
Manchmal hat man eine Hierarchie der Sinnesorgane aufstellen wollen und an die erste Stelle das Sehen, das Auge, gesetzt, danach das Hören. Wir wollen diese Frage einmal beiseite lassen und uns in diesem Zusammenhang dem Hören und dem Zuhören zuwenden. Vom Zuhören, das ja unser eigentliches Thema ist, kann man aber nie reden, ohne zuerst vom Hören zu sprechen. Dieses ist immer auch schon eingebettet in einen größeren Zusammenhang mit der Rede, dem Wort und der Stimme. Denn das Hören vernimmt ja etwas, was zwar allgemein durch Reize überhaupt, beim Menschen aber besonders durch das Wort und durch eine konkrete Stimme vermittelt wird. Dabei darf man das Schweigen, aus dem das Wort kommt und wieder in es mündet, nicht vergessen.
Das Hören steht in engster Beziehung zum Ohr. Es ist das Organ des Hörens. Es zeigt uns sehr deutlich, dass wir im Hören etwas aufnehmen, empfangen, nicht einfach von uns aus produzieren. Das Ohr zeigt uns die Offenheit des menschlichen Daseins. Wir gehen immer gleichsam als Hörende hinaus in die Welt. Hören bedeutet auch immer, verstehendes Hören. Wir nehmen nie nur Geräusche oder Lautkomplexe wahr, sondern hören z.B. den knarrenden Wagen und das ratternde Motorrad. Es geht uns letzten Endes auch nicht um isolierte Empfindungen und Reize, sondern darin wollen wir immer etwas verstehen. Unsere Sprache hat dafür ein gutes und schönes Wort, wenn es vom Vernehmen spricht. Wenn wir hören, vernehmen wir etwas, nehmen das auf, was uns entgegenkommt, uns trifft und begegnet. Wir sind also von Hause aus empfängliche Wesen, die darum auch Laute und Töne aufnehmen. Der Mensch ist grundlegend ein Empfangender. Deswegen steht das Hören wie die Kunst, Dichtung und Denken oft für den empfangsbereiten Menschen, der sich etwas sagen lässt. Denken wir nur an die Bedeutung des Hörens, als Maria, die Mutter Jesu, durch das Wort des Engels ihren Sohn empfängt. Die Kunst hat dieses Hören Mariens außerordentlich vielfältig und doch zugleich eindeutig gestaltet: Die Mutter ist nur noch Ohr, das empfängt.
Wenn wir etwas empfangen, darf man dies aber nicht einfach mit bloßer Passivität verwechseln. Gewiss muss es eine Bereitschaft zum Empfangen und Vernehmen im Menschen geben. Wir wissen aber auch, dass dies uns zunächst einmal ganz unbetroffen angehen kann. Wir hören etwas gar nicht. Wir überhören etwas, was uns gesagt wird. Vielleicht absichtlich, weil wir es gar nicht hören wollen. Es gibt also im Hören eine tiefe Bereitschaft, es wirklich anzunehmen. Das Vernehmen hat ja auch in unserer Sprache einen eigentümlichen doppelten Sinn. Wir sprechen z.B. davon, dass ein Mensch vor Gericht vernommen wird. Vernehmen wie Verhören heißt so auch der Versuch, durch ein eindringliches Mahnen und Befragen zur vielleicht verborgenen oder versteckten Wahrheit zu kommen. Vernehmen hat also immer auch schon etwas mit der menschlichen Aktivität zu tun. Die Offenheit des Menschen ist nicht einfach eine geöffnete Blume, sondern im Vernehmen ist sie selber auch schon aktiv. Wir hören deshalb auch dasselbe manchmal recht unterschiedlich. Dies hängt sicher nicht nur von unseren guten oder schlechten Ohren, sondern auch von unserer Bereitschaft ab zu hören. Im Hören gibt es also durchaus auch schon ein gewisses Verstehen dessen, was auf uns zukommt. Darum sind wir nicht einfach passiv. Wir werden von der Sinneswahrnehmung berührt und zugleich zum Verständnis aufgefordert. Deshalb ist auch das Hören zutiefst schon ein wechselseitiges Beziehungsgeschehen. Es ist grundfalsch, im Hören die bloße Passivität und im Sagen die blanke Aktivität zu sehen.
III.
Wir verstehen dies besonders wiederum sehr gut von unserer Sprache her, die uns gerade unsere Sinneswahrnehmungen in ihrer Vielfalt gut erschließt. Wir können z.B. „weghören“: wir wollen etwas gar nicht zur Kenntnis nehmen. Wir „überhören“ etwas geflissentlich. Wir müssen schon eine Bereitschaft mitbringen für das Angerufenwerden. Am stärksten empfinden wir dies vielleicht im so genannten Ruf des Gewissens, wodurch wir aus der Verlorenheit in Gewohnheiten, in das „Man“ und in das Gerede herausgerufen werden.
Manchmal müssen wir die Bereitschaft zu hören erst aufbringen und uns ermahnen lassen, dass wir wirklich „hinhören“ oder auch jemanden ausdrücklich „anhören“. Dies zeigt, dass „Hören“ nicht einfach nur durch das Ohr von selbst geschieht. Wir hören, nicht das Ohr. Wir hören allerdings durch das Ohr. Nicht das Sinnesorgan vermittelt uns gleichsam automatisch das Gehörte. Deswegen ist es wahrscheinlich auch möglich, dass Menschen, die taub sind, durchaus noch hören, inwendig hören, wie man es von Beethoven immer wieder sagt. Wahrscheinlich hat jedes Sprechen so etwas wie ein Hören an seinem Grund. Wenn wir etwas zu sagen haben, muss sich zuvor in uns etwas bilden, was wert ist gesagt zu werden. In diesem Sinne schickt sich uns zuerst etwas zu, bevor wir den Mund auftun. Man könnte auch sagen, dass jedes Vernehmen in sich ein Entsprechen ist. Jedes gesprochene Wort ist eigentlich schon eine Antwort, dem ein Hören vorausgeht, ist „entgegenkommendes, hörendes Sagen“ (M. Heidegger). Dies ist auch der tiefste Grund, warum man das Sehen und das Hören nicht gegenseitig ausspielen darf. Hier spürt man auch, wie wichtig und tief für das richtige Sprechen und Sagen das Schweigen ist, das uns, wenn es wirklich beachtet wird, bereit macht für das Empfangen eines bisher Neuen, eines buchstäblich Unerhörten.
Von da aus kann man auch verstehen, warum man manchmal das Hören dem Sehen vorziehen möchte. Da der Mensch von sich aus ein Lebewesen ist, das auf die Mit- und Umwelt, überhaupt auf Welt angewiesen, „Geist in Welt“ (K. Rahner) ist, ist der Mensch geradezu dadurch bestimmbar, dass er im Grunde seines Wesens „Hörer des Wortes“ (K. Rahner) ist. Er ist angewiesen auf das, was ihm „von außen“ gesagt wird, dem er sich aber doch verstehend entgegenstreckt. Gerade die Bibel des Alten und Neuen Testaments sieht den Menschen sehr stark von diesem Hören her. Man hat sogar versucht, die Unterschiede zwischen den Konfessionen verschieden aufzuteilen und z.B. den Katholiken einen Vorrang des Sehens und Schauens, den Protestanten eine Dominanz des Hörens zuzuweisen. Aber dies ist letztlich abwegig. Nur zeigt es, wie sehr sich am Ende Sehen, das selbst wieder vielfältig ist, und Hören, das sich vielen Tönen stellen kann, wechselweise ergänzen.
In der Tat ist dieses Hören geradezu unheimlich in seiner Vielseitigkeit. Ich kann zufällig etwas aufschnappen. Ich kann von einem Gespräch anderer etwas mitkriegen. Ich kenne etwas nur vom Hörensagen. Wenn ich nur etwas unverstanden annehme, kann ich regelrecht hörig werden. Ich kann andächtig lauschen, wie auf einem einsamen Posten angestrengt in die Nacht oder das Unbekannte hinein horchen. Dabei muss man ganz Ohr sein und die Ohren spitzen. Aufmerksamkeit ist dabei ganz wichtig. Nicht zufällig gibt es in der gegenwärtigen Philosophie eine große und wichtige Reflexion auf die Aufmerksamkeit. Denn wir lassen ja vieles an uns vorbeirauschen oder wie wir sagen: in das eine Ohr hinein- und zum anderen Ohr wieder herausgelangen, ohne eben eine Achtsamkeit zu bekommen. Dies alles gibt es auch beim Sehen. Man kann weggucken, wie man weghört, übersehen, wie man überhört.
Aber vielleicht ist das Hören doch noch verletzlicher. Es ist vielleicht noch stärker als das Sehen auf das Unsichtbare verwiesen, auch wenn wir durchaus wissen, dass man nicht bloß mit den Augen des Leibes, sondern dass man auch mit den Augen des Herzens oder des Glaubens sehen kann. Das Hören ist darum auch sehr verführerisch. Es gibt Schalmeientöne, die uns in eine falsche Richtung orientieren, so wie es einen Sirenengesang gibt, der die Menschen ins Verderben führt.
IV.
Damit sind wir erst in der Lage, in der rechten Weise vom Zuhören zu sprechen. Zuhören ist mehr als Hinhören und Anhören. Dies kann eine relativ einseitige Bereitschaft zum Ausdruck bringen, etwas zur Kenntnis zu nehmen. Dies kann uns trotzdem gleichgültig lassen. Wir haben eben unsere Pflicht getan und jemanden angehört. Manchmal veranstaltet man auch so genannte „Hearings“, also öffentliche Anhörungen, z.B. die Befragung von Sachverständigen oder Betroffenen. In der Politik werden vor Gesetzesvorhaben immer wieder solche Hearings veranstaltet. Diese Hearings werden auch instrumentalisiert, um den Gegner mundtot zu machen oder die Medien zu beeinflussen. Man hört dann aber auch nicht wirklich zu. Man will ja auch nicht ernsthaft Einwände erheben.
Wahres Zuhören verlangt nämlich eine große Bereitschaft, nicht nur auf das Gehörte, sondern auf den Anderen einzugehen. Man muss sich auf ihn einlassen. Man muss ihm Zeit schenken. Man muss auch die Bereitschaft haben, sich ihm wirklich zu öffnen. Gleichgültigkeit ist ein Todfeind dieses Zuhörens, das in Wirklichkeit keines ist. Manchmal flüchten wir voreinander, lassen das Visier herab, wie wir sagen, und verschließen uns. Beim Zuhören müssen wir immer auch bereit sein, uns dem anderen auszusetzen. Wenn wir zu Beginn unserer Überlegung davon gesprochen haben, dass der Mensch nicht nur seinen Schwerpunkt in der eigenen Innerlichkeit hat, sondern exzentrisch immer schon auch sich verlassen muss um wirklich zu sich zu kommen, dann muss er sich gerade im Gespräch, wenn er wirklich zuhört, ein stückweit preisgeben. Er muss sich dann auch etwas sagen lassen. Dies kann zu Verwundungen führen, sodass wir abschalten und das Zuhören verweigern.
Das Zuhören ist also immer auch ein Wagnis. Wir sind wirklich nur offen füreinander, wenn wir gerade in schwierigen Situationen die Kraft haben zuzuhören. Zu diesem Zuhören gehört oft eine große Disziplin: man muss aushalten, wenn man z.B. angeklagt wird; man muss stillhalten, wenn einem die Maske vom Gesicht heruntergerissen wird; man muss geduldig bleiben, wenn man unwahre Vorwürfe entgegennehmen muss. Zuhören ist deshalb gar nicht selbstverständlich. Es hat immer auch etwas mit einer tiefen Bereitschaft zu tun, sich aufeinander einzulassen. Oft scheitern mündliche Beziehungen, weil wir uns nicht mehr die Zeit nehmen, echt aufeinander zuzu- und erst recht einzugehen, Zeit füreinander zu haben und darin zuzuhören. Wer zuhört, kann auch eine große Kraft erlangen, den Anderen und gerade auch den fremd gewordenen Partner zu verstehen. Durch Zuhören kann man sein Leben ändern, aber auch andere zum Umkehren, zu einem neuen Denken bewegen.
Dies gilt vor allem von Mensch zu Mensch. Aber eigentlich müssten wir in unseren größeren Lebenskreisen auch besser das Zuhören versuchen. In Freundeskreisen und bei Fachgesprächen mag dies noch funktionieren. Sobald aber ein öffentlicher Wettbewerb ins Spiel kommt, wenn man um Überlegenheit kämpft, wird das Zuhören im allgemeinen schnell ruiniert. Man hört dann nur zu, um den anderen bei einer fragwürdigen Aussage zu erwischen. Man hört dann vieles nicht mehr, hört auch nicht mehr genau hin, formt sich das Gehörte nach seinen Interessen und schlägt damit zu. Man kann dann die Meinung des Anderen ganz verfehlen. Je mehr es um ein Obsiegen um jeden Preis geht, umso mehr besteht die Gefahr, dass das Zuhören nur noch einen Zweck hat, nämlich den Anderen zu ertappen. Ich will hier nicht untersuchen, wie weit unser öffentliches Gespräch, heute vor allem vermittelt durch die Medien, in der allergrößten Gefahr steht, einander eben trotz des Anscheins, z.B. in den Talkrunden, nicht zuzuhören. Es wird dann ein falscher Anschein erweckt, als ob es um ein Gespräch gehe. In Wirklichkeit lassen wir uns wirklich auf den Anderen nicht ein, sondern trachten nur danach, unsere Meinung zu Gehör und zum Sieg zu bringen. Dann wird aus dem Gespräch, das eigentlich das wahre Hören voraussetzt, Gerede und Geschwätz.
V.
Wahres Zuhören ist etwas ganz anderes. Es ist zunächst einmal gar nicht leicht, jemanden zu finden, der Zeit hat zuzuhören. Es ist auch nicht leicht, jemanden zu finden, der nicht schon von vornherein weiß, was er will. Wer zuzuhören bereit ist, macht deutlich, dass er ganz offen ist, und dass er unvoreingenommen, also ohne Vorurteile den Anderen annimmt und mindestens seine eigenen Urteile vorläufig einmal einklammert.
Darum ist echtes Zuhören auch geradezu gefährlich. Ich weiß ja nicht, was aus dem Mund des Anderen kommt, wenn ich zuhöre. Ich weiß nicht, was er mir zu sagen hat. Man muss sensibel dafür werden, um zu merken, was man gar nicht hören will. Man braucht ein starkes Ohr zu hören, was der Andere einem wirklich sagen will. Manchmal braucht es lange Zeit, bis man merkt, dass das, was er einem in Worten sagt, vielleicht gar nicht so wichtig ist, sondern sich dahinter das wirklich zu Sagende verbirgt. Im Zuhören lasse ich mich hineinnehmen in die Welt des Anderen. Hören fordert uns heraus. Darum ist Zuhören gefährlich. Hören kann darum ungemütlich werden. Deshalb kann ich auch nur einem wirklich zuhören, wenn ich grundsätzlich bereit bin, mich verwandeln zu lassen. Wenn ich nicht selbst weiß, wo ich stehe und wohin ich gehöre, ist dies schwierig. Hören und erst recht Zuhören misslingt oft, weil man nur das hört, wie wir uns selbst unsere Welt ausmalen. Wir wollen den Ton angeben. Alles soll sich so gestalten, wie wir es uns vorgenommen haben. Wer aber wirklich zum Zuhören bereit ist, weiß um ein Abenteuer und um ein Wagnis, mich zu verwandeln in dem, was ich höre. Oft tun wir so, als ob wir uns etwas sagen ließen. In Wirklichkeit nehmen wir das Gesagte nur zur Kenntnis und gehen zur Tagesordnung über. Es gibt viele, sehr subtile und sehr verborgene Schliche für eine Verweigerung des Hörens.
Dies hat auch mit dem zu tun, was aus dem Zuhören folgen kann. Wir können uns verschließen und uns verweigern. Dann sind wir in des Wortes tiefster Bedeutung ungehorsam, wir folgen nicht dem, was uns anspricht und uns vielleicht auch verwandeln möchte. Wir verschließen uns dann in uns selbst. Dies ist der Ursprung aller Sünde und macht uns wirklich unfähig zur Umkehr. Umkehren ist immer erst möglich, wenn wir bereit sind, auf unser Gewissen oder einen anderen, der uns ins Gewissen redet, zu hören. Wenn wir nur das akzeptieren, was wir gerne hören und uns nur darin verbrüdern, verlieren wir rasch unsere Freiheit und werden, wie schon gesagt, hörig. Wenn wir uns aber verwandeln lassen, auch und gerade wenn es wehtut, dann sind wir im ursprünglichsten Sinn des Wortes gehorsam, d.h. wir hören auf etwas hin, was für uns gut ist und uns in die richtige Richtung führt.
Wir sagten früher, dass das wahre Zuhören gefährlich ist, weil wir uns bis auf Herz und Nieren Einwänden, Verlockungen, ja auch einem Geständnis und vielleicht sogar Schuld stellen müssen. Am Ende des Zuhörens kann sehr deutlich stehen: Du musst dein Leben ändern.
Es ist sehr verschieden, wem wir zuhören, obwohl dies nicht so entscheidend ist. Wir können einem geliebten Menschen in Ehe, Familie und Freundschaft zuhören und uns dabei etwas sagen lassen. Es gibt wohl keine tiefe Gemeinschaft ohne die Bereitschaft zum Zuhören, ja auch zum Geständnis des Versagens und die Möglichkeit der Umkehr. Dann kann das Zuhören wirklich zu einem Neuanfang in einer Beziehung führen. Es kann uns aber auch jemand zuhören, mit dem wir menschlich zunächst nicht tiefer verbunden sind. Es kann dies ein Arzt, ein Therapeut oder auch ein Seelsorger sein.
Dieses Zuhören ist wichtig für alle Menschen, die uns einen guten Rat geben und uns begleiten. Jede Beratung lebt von einem echten Zuhören. Freilich, wenn wir merken, dass der Ratgebende, der Berater uns nur über den Tisch ziehen will, uns nur für seine Auffassung gewinnen will, ist das Zuhören schnell zu Ende. Aber der wahre Ratgeber, muss immer auch mit sich selbst kämpfen. Er darf nicht den anderen übervorteilen, ihn bloß herumkriegen und ihn regelrecht manipulieren. Es ist eine große Kunst, sich im Ratgeben selbst zurückzunehmen. Wer zuhört und wer beim Zuhören auch noch Rat geben soll, muss immer wieder an sich arbeiten, damit er nicht dominant wird. Man muss auch die Fremdheit eines Anderen aushalten und annehmen, ihn das sein oder werden lassen, was er ist.
VI.
Wenn man so das Zuhören bedenkt, dann wird einem bewusst, auf was ein Mensch verzichten muss, wenn er schon aus physischen Gründen nicht hören kann. Wir wundern uns dann nicht mehr, dass ein Tauber und gar ein Taubstummer die ganze Offenheit zur Welt verloren hat, vielleicht nie gekannt hat. Wir verstehen dann auch, warum Menschen, die das Gehör verloren haben, oft auch im Blick auf die anderen Organe leiden, Schwierigkeiten haben beim Sprechen und beim rechten Umgang mit dem Wort. Nicht zufällig geht es bei den Heilungen Jesu oft darum, dass der Mensch physisch nicht zu hören versteht, aber auch manchmal geistig und spirituell taub ist, unempfänglich geworden ist für ein Wort, das ihm hilft.
Jedenfalls ist es ein Segen, wenn einem Menschen das Gehör wieder geschenkt wird. Es ist eine große Hilfe zur Menschlichkeit, wenn wir ihm das Hören wieder ermöglichen oder wenigstens verbessern helfen. Es ist wirklich ein Erweis von Humanität, wenn wir am schöpfungsmäßigen Wirken Gottes und am Heilen beteiligt werden und einem Menschen helfen, wieder seine Welt zu erschließen. Insofern leisten die Hörgeräteakustiker einen großen Dienst, der für viele Menschen ungemein befreiend, ja geradezu erlösend sein kann. Mit Hilfe der Technik können wir einem Menschen wieder die unverhoffte Chance geben, dass er sich wieder voll oder teilweise in das Gespräch der Menschen eingliedern kann. Wir dürfen dabei gewiss nicht hochmütig werden, wenn wir einem Menschen zu dieser Form der Gesundheit verhelfen können. Oft sind wir ja nur die Gehilfen der heilenden Natur, am meisten aber ahmen wir etwas nach, wofür die Natur schon Spuren gelegt hat. Aber es gibt auch sehr erfinderische Wege, die ganz erstaunliche Heilerfolge erzielen können. Immer aber – so scheint mir – sind wir auf ein Minimum an Hörenkönnen angewiesen, das ganz elementar zum Menschsein gehört. Ich möchte Ihnen allen, die Sie in diesem Bereich forschen und arbeiten, raten und helfen, ein herzliches Danke sagen.
Aber gerade wenn wir wissen, wie man die Bedingungen des Hörens technisch verbessern kann, so spüren wir auch um so tiefer, wie wenig wir das wahre Hören des Menschen ermöglichen können, wenn wir z.B. bewusst oder unbewusst aneinander vorbeireden, etwas überhören, weghören. Dann spüren wir auch wieder ganz elementar, was für ein Geschenk das Hören des Menschen überhaupt ist, wie tief menschlich das Zuhören werden kann und wie zerstörerisch die Verweigerung des Zuhörens ist.
Dann spüren wir auch sehr deutlich, warum besonders im Alten Testament, Israel immer wieder zuerst angeredet wird: „Höre, Israel“ (Dtn 6,4) Es ist das Grundgebet des gläubigen Juden. Man wird an Jesu Aufforderung erinnert: „Wer Ohren hat, der höre.“ (Mt 11,15) Ohren zu haben genügt noch nicht für ein gutes Hören.
So wissen wir auch, wie sehr wir uns alle, ob wir gut oder schlecht hören, vielleicht auch gar nicht zu hören fähig sind, verwandeln müssen, wenn wir wirklich zu hören und gar zuzuhören bereit sind oder sein wollen. Es ist eine wunderbare Hilfe, für dieses neue Hören dem Menschen bei einem ersten Schritt helfen zu dürfen, Technik so in den Dienst am Menschen nehmen zu dürfen und dadurch in unserer Gesellschaft auch mitzuhelfen, dass wir uns mehr verstehen, zu verständigen suchen und Verständigung erreichen.
Freilich – schlimm genug – nicht allen können wir helfen. Gott aber hat jetzt und jenseits unseres irdischen Lebens viele Wege, zu diesen Menschen zu kommen und auch zu Gehör zu gelangen. Es gibt dafür nicht nur die äußeren Sinne. Wir können auch gerade beim wahren Hören und echten Zuhören erkennen, was der heilige Paulus uns sagt über die Weisheit unter den Menschen, wenn er ein Wort des Alten Testamentes aufgreift und sagt: „Wir verkündigen ..., was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.“ (2 Kor 2,9; Jes 64,3) Gott kann allein das Unerhörte vollbringen und den Menschen erhören, wenn wir ihm bei all unserer Kunst nicht mehr helfen können. Gott ist größer als unser Herz und unsere Kunst, fordert uns aber heraus, zu suchen und zu finden, wie und wo wir Menschen mit einem beeinträchtigten Gehör nur helfen können, jeder auf seine Weise.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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