Gastkommentar für die Mainzer Allgemeine Zeitung am 4. August 2001
Es darf von vornherein kein Zweifel bestehen, dass Gewaltanwendung kein Mittel sein darf, um auf ungelöste Probleme aufmerksam zu machen. Dies müsste eine Lehre der vergangenen Jahrzehnte sein, die im neuen Jahrtausend nichts an Dringlichkeit und Aktualität eingebüßt hat. Auch feinsinnige Unterscheidungen dürfen dies nicht verunklaren.
Dies muss auch Folgen haben für unsere Diskussion über diese Ereignisse von Genua. Es darf auch kein Zweifel bestehen, dass die italienischen Polizeikräfte sich fragen lassen müssen, wo das Gewaltmonopol des Staates unter falschen Voraussetzungen und unverhältnismäßig eingesetzt worden ist, wie es offensichtlich in diesen Tagen in Rom auch geschieht. Nur darf dies alles nicht dazu führen, dass wir – auf welche Weise immer – auf die Ausübung von Gewalt, die gewiss völlig unterschiedlich legitimiert ist, fixiert bleiben. Die öffentliche Berichterstattung ist bei allem Recht und bei aller Notwendigkeit der Information sonst in Gefahr, dass die wahren Probleme im Hintergrund bleiben und zu wenig Aufmerksamkeit erfahren.
Gewiss ist beim Treffen der Regierungschefs der acht wichtigsten Wirtschaftsnationen auch über die Nöte in unserer Welt und die Mittel und Wege zu ihrer Bewältigung gesprochen worden. Die Gewalt der Globalisierungsgegner und die weitgehend dadurch bestimmte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit haben dies bis zu einem gewissen Grad verwischt. So drangen auch die Sachthemen der vielen Demonstranten, die grundsätzlich auf Gewalt verzichtet hatten, kaum durch. So wenig eine Verteufelung der Globalisierung Sinn macht, so wenig darf sie einfach unbesehen als das Heilmittel schlechthin für die Missstände in unserer Welt gelten. Es gibt nicht nur die dunkle Nacht- und Rückseite zumeist ungewollter schädlicher Nebenfolgen, wie sie gerade auch der Globalisierung eigen ist, sondern es gibt nach wie vor hinter den schönen Fassaden die elementarsten Herausforderungen von viel Elend in unserer Welt: Kinderarbeit, Umweltschutz, Überschuldung vieler Entwicklungsländer, Verzerrungen in der Weltwirtschaftsordnung, Folterungen, Ungerechtigkeit im Justizwesen, Migrationsprobleme und vieles mehr. Diese elementaren Herausforderungen unserer Welt blieben auch in der öffentlichen Begleitung und Kommentierung von Genua 2001 weitgehend auf der Strecke. Wo ist sie denn geblieben, die neue Solidarität der einen Welt, gerade in Richtung der ärmsten Staaten und der unterentwickelten Länder?
Vielleicht sind die in Jahrzehnten entwickelten Ideen und Vorschläge zu diesen Themen, an denen viele Menschen in den Wissenschaften, den Nicht-Regierungs-Organisationen und den Kirchen beteiligt sind, manchmal noch zu vage, aber man muss sie nicht neu erfinden. Viele Anregungen und Forderungen liegen längst auf dem Tisch. Wie kann man eine große und weltweite Öffentlichkeit für ihre Dringlichkeit zurückgewinnen? Es darf nicht sein, dass Menschen zur Überzeugung kommen, Gewalt müsse sein, weil erst Gewalt aufweckt. Deshalb brauchen wir dringend nicht nur eine vertiefte öffentliche Diskussion, sondern auch spürbare, reale Zeichen einer gerade unter den Bedingungen der Globalisierung noch notwendiger gewordenen neuen Solidarität und Solidarisierung mit den armen Völkern und Menschen dieser Erde. Globalisierung kann auch hier gewiss ein mächtiger Motor der Hilfe werden, aber nicht automatisch, d.h. ohne Korrektur der Mängel, die bei ihren Fortschritten anfallen und für die wir nicht minder Verantwortung tragen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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