am 21. Januar 2010 in der Ludwig-Maximilians-Universität in München
Ich danke herzlich für die Begrüßung und noch mehr dafür, dass ich die Ehre habe, in Erinnerung an die Weiße Rose an dieser Stelle die Gedächtnisvorlesung dieses Jahres übernehmen zu dürfen. Es ist ein hoch anzuerkennender Brauch, dass die Ludwig-Maximilians-Universität in München jährlich, nicht zuletzt auch für die verschiedenen Generationen von Studenten, das Gedächtnis an die Weiße Rose lebendig hält
I.
Im Jahr 1942 hat eine kleine Gruppe Münchner Studenten „Die Weiße Rose" Flugblätter gegen Hitler und den Nationalsozialismus verbreitet. Die Medizinstudenten Alexander Schmorell und Hans Scholl bildeten den Kern dieser Gruppe, Christoph Probst, Sophie Scholl, Willi Graf und Prof. Kurt Huber beteiligten sich nach und nach auf verschiedene Art und Weise aktiv an den Aktionen. Dazu gehörten auch noch weitere Mitglieder des Freundeskreises, die nicht aktiv, aber durch Mitwisserschaft beteiligt waren.
Auch wenn es eine kleine Gruppe war, so hat die Weiße Rose neben den Männern des 20. Juli 1944 den deutschen Widerstand auch im Ausland bekannt gemacht. Thomas Mann hat die mutigen Taten im Juli 1943 in der BBC gewürdigt. Die Engländer warfen einige tausend Flugblätter über Deutschland ab. Der Aufruf des fünften Flugblattes „Unterstützt die Widerstandsbewegung, verbreitet die Flugblätter" blieb so nicht ungehört. Von Anfang an ist der Mut bewundernswert. So heißt es „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique regieren zu lassen.... Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, werden die Boten der rächenden Nemesis unaufhaltsam näher und näher rücken, dann wird auch das letzte Opfer sinnlos in den Rachen des unersättlichen Dämons geworfen sein. Daher muss jeder Einzelne seiner Verantwortung als Mitglied der christlichen und abendländischen Kultur bewusst in dieser letzten Stunde sich wehren, soviel er kann, arbeiten wider die Geisel der Menschheit, wider den Faschismus und jedes ihm ähnliche System des absoluten Staates. Leistet passiven Widerstand - Widerstand -, wo immer ihr auch seid. Verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine, ehe es zu spät ist, ehe die letzten Städte ein Trümmerhaufen sind, gleich Köln, und ehe die letzte Jugend des Volkes irgendwo für die Hybris eines Untermenschen verblutet ist. Vergesst nicht, daß ein jedes Volk diejenige Regierung verdient, die es erträgt."[1] Unter den Widerstandskämpfern gibt es kaum ein so deutliches Wort zur Judenverfolgung, ja Hannah Arendt wies darauf hin, dass einzig die Weiße Rose die systematische Ermordung der Juden öffentlich in aller Deutlichkeit benannt und verurteilt hat: „Nicht über die Judenfrage wollen wir in diesem Blatt schreiben, keine Verteidigungsrede verfassen - nein, nur als Beispiel wollen wir die Tatsache kurz ausführen, die Tatsache, dass seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialische Art ermordet worden sind. Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschheitsgeschichte an die Seite stellen kann."[2]
Bekanntlich werden die Flugblätter der „Weißen Rose" im Lauf der Zeit eindringlicher und politischer: „Viele, vielleicht die meisten Leser dieser Blätter, sind sich darüber nicht klar, wie sie einen Widerstand ausüben sollen. Sie sehen keine Möglichkeiten. Wir wollen versuchen, ihnen zu zeigen, dass ein jeder in der Lage ist, etwas beizutragen zum Sturz dieses Systems. Nicht durch individualistische Gegnerschaft, in der Art verbitterter Einsiedler, wird es möglich werden, den Boden für einen Sturz dieser Regierung reif zu machen oder gar den Umsturz möglichst bald herbeizuführen, sondern nur durch die Zusammenarbeit vieler überzeugter, tatkräftiger Menschen, Menschen, die sich einig sind, mit welchen Mitteln sie ihr Ziel erreichen können. Wir haben keine reiche Auswahl zu solchen Mitteln, nur ein einziges stets uns zur Verfügung - der passive Widerstand."[3]
Es ist gut, wenn wir uns die Stimme der „Weißen Rose" neu vergegenwärtigen, aber es ist auch notwendig, zu überlegen, wie wir heute und in unserer Situation den Geist dieser Widerstandsgruppe lebendig machen und in gewandelten Verhältnissen zu verwirklichen suchen.
II.
Nach Durchsicht der bisherigen Gedächtnisvorlesungen und ihrer Themen sowie einigen persönlichen Überlegungen habe ich als eine solche Konkretisierung die Zivilcourage ausgewählt. Das Wort erschien vor wenigen Jahren noch vielen als relativ fremd. So hat z.B. Hilde Domin ihren Essay zum Thema aus dem Jahr 1985 überschrieben „Zivilcourage - ein Fremdwort".[4] Im Französischen gibt es „Courage civil", womit man den Mut des Einzelnen zum eigenen Urteil meint. Es gibt in der französischen Sprache aber auch den Ausdruck „Courage civique", womit man den rein staatsbürgerlichen Mut betont. Beide Arten von Mut sind in unserem deutschen Wort Zivilcourage vereint. Bisher lauten die Auskünfte, dass das Wort zum ersten Mal im Jahr 1835 in der sechsten Auflage des berühmten Wörterbuches der französischen Akademie vorkommt, während es in der fünften Auflage von 1813 noch fehlt.[5] Der erste Deutsche, der nach den bisherigen Untersuchungen erstmals das Wort Zivilcourage gebraucht hat, ist offenbar der junge Bismarck im Jahr 1847. Als er in einer Debatte des preußischen Landtags ausgepfiffen und verlacht wurde, stritt er mit einem älteren Verwandten beim Mittagessen über die Frage, ob er seine Meinung im Parlament so deutlich und drastisch äußern musste. „‚Eigentlich hast du ja ganz recht. Nur sagt man so etwas nicht.' Darauf antwortete Otto von Bismarck: ‚Mut auf dem Schlachtfeld ist bei uns Gemeingut; aber sie werden nicht selten finden, dass es ganz achtbaren Leuten an Zivilcourage fehlt.'"[6]
Damit ist auch schon ein wichtiger Hinweis gegeben, warum es diesen Begriff gibt, und warum er auch durchaus an eine große europäische Tradition anknüpfen kann. Denn seit langem steht für den größeren Bedeutungszusammenhang das Wort Tapferkeit. Es ist jedoch unverkennbar, dass man sich mindestens im 20. Jahrhundert mehr und mehr scheut, das Wort Zivilcourage zu sehr dem Begriff der Tapferkeit anzunähern. Dies hat viele Gründe. Man sieht den Begriff der Tapferkeit zu sehr auf den militärischen Bereich eingeschränkt. In der Tat ist Tapferkeit in der neueren Geschichte sehr oft als militärische Tugend ausgezeichnet worden. Manchmal hat man auch den Begriff der Tapferkeit als Tollkühnheit oder auch direkt als Bereitschaft zum Tod interpretiert. Von da aus ist es verständlich, dass neuere Versuche, das Wort Zivilcourage näher zu bestimmen, oft dadurch erfolgen, dass man es zuerst von diesem herkömmlichen Begriff der Tapferkeit abhebt. Verständlicherweise geschieht dies um so stärker, je mehr die Autoren dem unleugbaren Missbrauch von „Tapferkeit" vor allem im Zweiten Weltkrieg zeitlich noch näher stehen.[7]
Nicht selten wird deshalb auch das Wort Tapferkeit eher ganz vermieden und z.B. dafür eher das Wort „Mut" verwendet.[8] So schnell sollte man aber mit diesem Wort trotz manchen Missbrauchs nicht einfach fertig sein. Es kommt schon in der vorchristlichen griechischen Ethik vor, besonders bei Platon und Aristoteles (griech.: „andreia politike", lat.: „fortitudo civilis"). Die Tapferkeit steht schon früh in der Gefahr, vor allem bloß als eine Tugend des Soldaten verstanden zu werden. Da diese jedoch nicht selten missbraucht worden ist, und Männer oft auch mit dem Hinweis auf ihre notwendige Tapferkeit in einen sinnlosen Tod geschickt worden sind, stieß das Wort „Tapferkeit" besonders auch in moderner Zeit an Bedenken und Grenzen.
In diesem Zusammenhang darf man freilich nicht vergessen, dass die Tapferkeit im erwähnten Sinn schon von der Antike her zu den Kardinaltugenden zählt. Die Aufzählung beginnt fast immer mit der Klugheit, eng verbunden mit der Tapferkeit.[9] Schon bei Platon gehört die Tapferkeit zu den vier Kardinaltugenden.[10] Das Handeln des Tapferen zielt auf eine Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit.[11] Hier ist die Beziehung auf die Furcht besonders wichtig. Manchmal muss man Furcht haben, z.B. Schändliches zu tun, manches muss man auch gar nicht fürchten. Tapfer ist man vor allem beim „edlen Tod im Krieg". Aristoteles ist schließlich ziemlich präzise: „Wer also aushält und fürchtet, was man soll und weswegen man es soll und wie und wann, und wer in derselben Weise Zuversicht hat, ist tapfer."[12] So sagt schon Aristoteles, dass die Fälle, in denen von Tapferkeit gesprochen wird, kritisch bewertet werden müssten.[13] Auch ein Staat muss im Übrigen tapfer sein, nämlich als Voraussetzung für Frieden und Muße. „Wer aber nicht tapfer Gefahren überstehen kann, ist Sklave dessen, der ihn angreift."[14]
Die klassische europäische Tradition, die sich besonders auch bei Thomas von Aquin verdichtet, hat dies in großer Breite aufgenommen. Ich führe einige Sätze an aus den Schriften des Aquinaten, der vor allem durch Josef Pieper bis heute eindrucksvoll interpretiert worden ist: „Das Lob der Tapferkeit hängt im bestimmten Sinn von der Gerechtigkeit ab. Daher sagt Ambrosius: ‚Tapferkeit ohne Gerechtigkeit ist ein Hebel des Bösen.'" „Nicht in Wahrheit tapfer sind jene, die um der Ehre willen Tapferes vollbringen." „Tapferkeit wirkt auf zweifache Weise: im Angriff und im Standhalten." „Das vornehmlichere Werk der Tapferkeit, vornehmlicher denn Angreifen, ist Standhalten, das ist: unbeweglich feststehen in der Gefahr." „Standhalten ist schwerer als Angreifen." „Wer tapfer ist, der ist auch geduldig." „Geduld ist in der Tapferkeit eingeschlossen. Denn was dem Geduldigen eigen ist, nicht verwirrt zu werden durch drohende Übel, das besitzt auch der Tapfere." „Er aber fügt noch ein Weiteres hinzu, dass er nämlich, wenn es sein muss, dem drohenden Übel zu Leibe geht."[15] Allein diese wenigen Texte zeigen schon, dass der umfassende Sinn des klassischen Wortes von der Tapferkeit nicht auf das soldatische Verhalten eingegrenzt werden darf. Tapferkeit bewährt sich sowohl in geduldiger Hinnahme von Unveränderlichem sowie auch im aktiven Einsatz für sittliche Ziele jeglicher Art. Dabei wird nicht selten die Tapferkeit auch und gerade im Umgang mit dem Leid und dem Leiden verwirklicht.
An dieser Stelle muss freilich nun, wie oben schon eingeführt, das Wort Zivilcourage noch weiter entfaltet werden. Gegenüber einer oft allzu steilen Überhöhung des Wortes Tapferkeit entfernt sich „Zivilcourage" ganz bewusst von allem heroischen Todesmut und wird mit erheblich geringerem Pathos für den Einsatz mit einer eigenen Meinung und einem nicht selbstverständlichen Verhalten in der gesellschaftlichen Alltagspraxis verwendet. Dazu gehört freilich auch, dass Zivilcourage in diesem Sinne durchaus damit verbunden sein kann, dass man für die Vertretung des richtig Erkannten z.B. wirtschaftliche und soziale Nachteile riskiert.
Das aus dem französischen Sprachgebrauch stammende Lehnwort Zivilcourage ist in der deutschen Sprache nicht sofort heimisch geworden. In der Literatur noch der 70er und frühen 80er Jahre empfinden es manche, wie z.B. die schon genannte H. Domin, als ein Fremdwort. In der Zwischenzeit hat sich dies gründlich verändert. Dies sieht man besonders auch an der geradezu überbordenden und inflationären Zitation des Begriffs in ganz verschiedenen Arten von Veröffentlichungen, vom Feuilleton bis zur Wissenschaft. Damit ist aber noch nicht belegt, dass das Wort einen größeren und tieferen Bedeutungsgehalt angenommen hat und wirklich zu einer anerkannten modernen Tugend geworden ist.
Nach 1968 ist das Stichwort „Ziviler Ungehorsam" vielfach benutzt worden und hat einzelne Bedeutungselemente von Tapferkeit geradezu aufgesogen und dieses Wort noch stärker verdrängt.[16] „Es handelt sich um die Frage, ob in bestimmten Fällen statt der dem Staatsbürger gebotenen Rechtsbefolgung ein bürgerlicher Ungehorsam gerechtfertigt oder gar geboten sein kann. Ziviler Ungehorsam ist eine Nichtbefolgung staatlicher Gesetze oder Anordnungen, die im Rahmen einer relativ gerechten Ordnung um moralischer Motive willen erfolgt, Akte zivilen Ungehorsams sind von symbolischer Natur, tragen gewaltfreien Charakter und werden öffentlich vollzogen; wer sie als Handlungen des zivilen Ungehorsams vollzieht, ist bereit, ihre rechtlichen Folgen auf sich zu nehmen."[17] Ich brauche hier nicht auf die Stufen zivilen Ungehorsams sowie auf die Kriterien, die Einwände und eine Beurteilung einzugehen.[18] Es ist jedoch unübersehbar, dass der Begriff des Zivilen Ungehorsams seine Unschuld, als ob er Ausdruck eines geprüften Gewissens und einer reifen Demokratie sei, vor allem nicht gegen den Rechtstaat verstoße, verloren hat und deshalb auch heute viel spärlicher gebraucht wird. In dieser Ernüchterung hat der Begriff Zivilcourage zweifellos eine größere, umfassendere Bedeutung erlangt.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegssituation haben hier gewiss in der Besinnung auf das, was besonders seit 1933 geschehen war, dem Begriff Zivilcourage Auftrieb gegeben und ihn befördert. Dies sieht man besonders an einigen wichtigen Zeugnissen. So hat z.B. D. Bonhoeffer in „Widerstand und Ergebung"[19] noch gemeint, dass das Wort in Deutschland kaum gebraucht werde. „Was steckt eigentlich hinter der Klage über die mangelnde Civilcourage? Wir haben in diesen Jahren viel Tapferkeit und Aufopferung, aber fast nirgends Civilcourage gefunden, auch bei uns selbst nicht ... Wir Deutschen haben in einer langen Geschichte die Notwendigkeit und die Kraft des Gehorsams lernen müssen ... Unsere Blicke waren nach oben gerichtet."[20] Dem Deutschen fehle die Grunderkenntnis von der „Notwendigkeit der freien, verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag. An ihre Stelle trat einerseits verantwortungslose Skrupellosigkeit, andererseits selbstquälerische Skrupelhaftigkeit, die nie zur Tat führte. Civilcourage aber kann nur aus der freien Verantwortlichkeit des freien Mannes erwachsen."[21] In einem ähnlichen Sinne äußerte sich der Philosoph K. Löwith, der der Ansicht war, dass es im Hitler-Deutschland gar keine Zivilcourage gegeben habe.[22] Ich lasse dahingestellt, ob dieses Wort vielen mutigen Menschen gerecht wird, verstehe aber die große Enttäuschung dessen, der seine Heimat verlassen musste.
Darum wohl wird nach 1945 intensiv Zivilcourage angemahnt und verlangt. So entsteht eine Fülle von Titeln und Bemerkungen, die Zivilcourage oft zur zentralen bürgerlichen Qualifikation machen. Der Jesuit M. Pribilla meint im Jahr 1957: „Es muss die militärische Tapferkeit zurücktreten vor der so genannten Zivilcourage, nämlich dem charakteristischen Mut, die Wahrheit und das Recht auch nach oben oder gegen eine irre geleitete Menge mit Einsatz der eigenen Person geltend zu machen und zu verteidigen."[23] Man entdeckt einen engen Zusammenhang zwischen Zivilcourage und Demokratie.[24] R. Schröder[25] kritisiert die spätere Verengung auf den Zivilen Ungehorsam und sieht darin eher einen Verfall echter Zivilcourage als einen „Aufstand der Aussteiger" und als „krampfhafte Suche nach dem letzten Tabu, das man noch brechen kann".[26] Von da aus muss auch der Begriff der Zivilcourage wieder auf die ursprüngliche Bedeutung zurückgeführt werden. So schreibt O. Marquard: „Dabei ist nicht jede x-beliebige Aufmüpfigkeit Zivilcourage. Man braucht sie überhaupt nicht nur für das Nein, sondern auch und gerade für das Ja. Ich meine: Zivilcourage ist vor allem der Mut, zivil - also ein civis, ein polites, ein Bürger - zu sein; oder kurz gesagt: Zivilcourage ist der Mut zur Bürgerlichkeit."[27]
Diese Kritik von O. Marquard aus dem Jahr 1993 ist ziemlich scharf. Er sieht in diesem nachträglichen Ungehorsam den Versuch einer Entlastung: „als die große Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein". Man braucht das schlechte Gewissen nicht mehr selber zu haben, man wird zum schlechten Gewissen für andere, „sodass man immer weniger von sich selber, dafür aber immer mehr von den anderen verlangt, dieses schlechte Gewissen zu haben. Das ist das Entlastungsarrangement, das ich hier meine: die Flucht aus dem Gewissen, das man selber hat, in das Gewissen, das man für andere ist und nicht mehr selber hat. Man entkommt dem Tribunal, indem man es wird; und man wird das Tribunal, indem man - unter Beanspruchung des Kritikmonopols - alle bestehenden Verhältnisse - gerade die nächsten: also vor allem auch die Bundesrepublik - in Frage stellt durch Verweigerung ihrer Bürgerlichkeit."[28]
Gewiss hängt Zivilcourage schon vom Wort her mit dem Bürger und der Bürgergesellschaft zusammen.[29] Damit ist gewiss der freie, selbstverantwortliche Bürger gemeint. Aber lassen wir einmal vorläufig die Frage nach der „Bürgerlichkeit der Zivilcourage" beiseite, die wohl schon von der vorchristlichen Antike her gut begründet werden kann.[30] Für uns heute hat der Begriff des Bürgertums auch seine Grenzen. Zivilcourage jedenfalls meint die Entschlossenheit, als einzelne Person oder in der Ausübung eines Amtes abweichende Ansichten offen zu vertreten und dafür Konflikte oder sogar Nachteile zu riskieren - und dies gegenüber Vorgesetzten, Mächtigen, eingefahrenen Vorurteilen oder aktuell modischen Sichtweisen und auch angesichts der öffentlichen Meinung. Zivilcourage ist das Gegenteil von Bequemlichkeit, Servilität, Konformismus, Opportunismus und Heuchelei. Zivilcourage kann deshalb auch einen sehr verschiedenen Ausdruck finden, angefangen von einem bloßen Widerspruch gegen eine andere Meinung, über die Infragestellung eines Anspruchs und die Provokation bis zu den verschiedenen Formen des Widerstands.[31]
Zweifellos gibt es in der Neuzeit einen engen Zusammenhang zwischen Zivilcourage und Bürgerlichkeit. Denn erst wenn ein unmündiger Untertan sich in einen informierten Bürger verwandelt, der Grundrechte auch einklagen kann, bekommt der Begriff seine Konturen. Es ist eine echte Wächterfunktion gegenüber Übergriffen der Macht. Die dazu erforderliche Selbstständigkeit im Urteilen und die Kraft zur Selbstbehauptung lassen sich durch Achtung auf das Gewissen des anderen, Zulassung von Kritik, Ermutigung zur Selbstverantwortung, Förderung von Bildung und Information sowie einen offenen kommunikativen Austausch stärken. Dies scheint mit ein Grund zu sein, warum Zivilcourage vor allem als eine Auszeichnung der intellektuellen Eliten verstanden wird, was ich jedoch für fragwürdig halte, denn wahre Tapferkeit hängt nicht einfach vom Stand der Information und Bildung allein ab. Es gibt viele einfache Menschen, die mehr Zivilcourage und Tapferkeit aufbringen als die so genannten Intellektuellen.
Vor diesem Hintergrund ist es mehr als verständlich, dass die Rehabilitierung der klassischen Tugendlehre im heutigen Denken immer wieder auch auf die Tugend der Tapferkeit oder eben der recht verstandenen Zivilcourage zurückkommt. In diesem Sinne wird die Tapferkeit auch zu einer Grundtugend des Staatsbürgers und des Lebens in einer Zivilgesellschaft. Besonders der amerikanische Kommunitarismus hat dies in den letzten Jahren eindrucksvoll herausgestellt.[32] Ich verzichte hier auf die Diskussion zur Legitimation des gewaltlosen Widerstandes bzw. des bürgerlichen Ungehorsams, wie ich es oben schon kurz angesprochen habe. Es gibt noch andere Formen der Tapferkeit, z.B. die Treue zu einem Freund. In anderer Weise hat uns Bertolt Brecht in seinem Stück „Mutter Courage" auf diese Zusammenhänge aufmerksam gemacht. Bei Brecht wird die Courage einer trommelnden Taubstummen besungen, die eine Stadt unter Lebensgefahr zum Widerstand weckt. Dieses Nicht-anders-Können, als sich mit allen Kräften einzusetzen, ist hier gemeint.[33]
III.
Ich möchte mir nun erlauben, einen Ausblick zu tun auf die biblische Begründung für das, was wir Zivilcourage nennen. Die Mitglieder der Weißen Rose haben sich ja, wie aus den einleitenden Zeugnissen hervorgeht, deutlich zu ihrer Herkunft aus dem christlichen Glauben und ihrer kirchlichen Sozialisation bekannt. Darin war auch die Verantwortung in ihrem Gewissen tief verwurzelt, wobei ich jetzt nicht den verschiedenen kirchlichen Traditionen nachgehe und gewiss auch nicht Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedern[34] verkenne, besonders auch im Blick auf die geistige Gestalt von Herrn Prof. Dr. Kurt Huber.[35]
Ich brauche hier nicht ausführlicher darzulegen, wie sehr die dargestellte klassische Sicht auch vielen Aussagen der Bibel entspricht, und zwar sowohl des Alten wie des Neuen Testaments. Schließlich wird vom Glaubenden gerade auch Unerschrockenheit und Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Bösen verlangt. Er soll sich nicht anpassen an das, was ist. Nichts anderes sagen die Worte vom „Salz der Erde" und vom „Licht der Welt".[36] In aller Klarheit wird auch bei aller Loyalität zu einem gerechten Staat vom Christen verlangt: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen."[37] Deswegen muss man auch freimütig sein in der Öffentlichkeit, die Gerechtigkeit Gottes zu verkünden und das freie Wort zu riskieren („parrhesia").[38] Dabei wird immer vorausgesetzt, dass die Unerschrockenheit des entsprechenden Mutes in dieser Welt immer das ursprüngliche Hören, den Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes zur Voraussetzung hat. Deshalb wird auch diese Bereitschaft anerkannt und gelobt, z.B.: „Wahrhaftig, Gehorsam ist besser als Opfer, Hinhören besser als das Fett von Widdern" (1 Sam 15,22).
Ich will aber nicht hier die zerstreuten Zeugnisse in der Bibel des Alten und Neuen Testaments sammeln, die auf die Zivilcourage hindeuten. Sonst müsste besonders ausführlich von der langen Geschichte um das Widerstandsrecht die Rede sein.[39] Ich möchte jedoch im Sinne einer biblischen Begründung eine gewichtige, aber insgesamt viel zu wenig beachtete Wortgruppe wählen.
„Parrhesia" ist ein Wort, das sich über 30 mal im Neuen Testament findet, häufiger in den johanneischen Schriften, in der Apostelgeschichte, im Hebräerbrief und an wenigen Stellen bei Paulus. Wir übersetzen es gewöhnlich mit Offenheit, Freimut/Freimütigkeit, Zuversicht, gelegentlich auch Öffentlichkeit. Aber keines dieser Worte kann eigentlich wirklich überzeugen, am ehesten noch Freimut. Das Wort kommt von „pan" und „resis", hat also wörtlich die Bedeutung: alles sagen, alles sagen können. Dazu gehört Mut, Courage, deswegen wird auch das Verbum gerne übersetzt: offen/frei heraus reden, Mut gewinnen.
Im griechischen Bereich findet sich die Wortgruppe vor allem bei den politischen Autoren. Damit wird die „(Rede-)Freiheit" der freien Bürger in der attischen Demokratie bezeichnet. Freilich ist es weithin ein aristokratisches Ideal, weil diese Freiheit nur zwischen Gleichen gilt und z.B. von Sklaven und Zugereisten nicht in Anspruch genommen werden kann (vgl. auch Apg 4,29). Wenn jemand sich ein solches Recht gegen diese Norm nimmt, wird es als „Unverschämtheit" und „Dreistigkeit" verstanden. So wird daraus auch ein moralischer Begriff: „parrhesia ist zusammen mit eleutheria das höchste Gut des Denkenden und moralisch Gefestigten, der in voller ‚Offenheit' gegenüber Mitbürgern, Freunden und Feinden lebt, diese lobt, aber auch hart tadelt."[40] Die parrhesia ist - schlicht, aber wörtlich formuliert - das Recht, alles zu sagen. Der Sklave ist vom „Freien" gerade dadurch unterschieden, dass ihm die parrhesia, der Freimut fehlt. Sie wendet sich gegen jeden Tyrannen, auch gegen das Volk (Demos), wenn es tyrannisch wird. Da die parrhesia sehr stark am Wort und an der konkreten Rede haftet, ist ihre Beziehung zur Wahrheit wichtig. Freimut (parrhesia), Freiheit (eleutheria) und Wahrheit (aletheia) gehören zusammen und werden in ihrer Verbindung immer wieder sichtbar. Für die Griechen ist mit dem Freimut immer auch das Recht (exousia) des Auftretens verbunden. Freimut gibt es nicht nur bei öffentlichen Herausforderungen, sondern auch unter Freunden, sofern sie wirklich Freie sind. Wo keine parrhesia herrscht, beruht dies auf einer falschen Erziehung. In der griechischen Philosophie wird dann die parrhesia immer stärker moralisch qualifiziert und abgehoben von der Aristokratie. Dabei ist es aufschlussreich, dass die parrhesia bei ganz verschiedenen philosophischen Schulen als etwas Erstrebenswertes gilt, so z.B. auch in der epikuräischen und in der kynischen Richtung.
Es ist erstaunlich, dass bei der Übertragung der parrhesia von der politischen in die moralische Sphäre der Charakter der Öffentlichkeit nicht verloren gegangen ist. „Mit dem Begriff der parrhesia verbindet sich für den Griechen stets die Vorstellung des Öffentlichen und einer öffentlichen Lebensführung."[41] Auch ein Bezug zur Freiheit bleibt in der moralischen Bedeutung erhalten: Nur der kann in der moralischen Welt parrhesia haben, der nicht von sklavischen Leidenschaften beherrscht wird, sondern wirklich frei ist. Darum muss man auch um den Freimut immer kämpfen. „Wenn alle Menschen parrhesia haben, hebt sich der Begriff der parrhesia auf."[42]
Es ist sehr aufschlussreich, dass diese parrhesia sich auch in der jüdisch-hellenistischen Literatur findet. Fast alle Strukturelemente, die wir genannt haben, sind auch hier gegenwärtig, nicht zuletzt die Verbindung von Freimut, Freiheit, Wahrheit und Recht. Dies gilt auch für die Septuaginta, also die griechische Übersetzung des Alten Testaments. Es wird aber auch ein neuer Sprachgebrauch erkennbar. „Wir finden hier das Wort parrhesia gegenüber Gott gebraucht. Das ist im Vergleich mit dem älteren griechischen Sprachgebrauch etwas Neues."[43] Es fällt auf, dass in diesem neuen Sprachgebrauch unter Umständen auch ein Sklave das Recht auf den Freimut hat. Auf jeden Fall hat ein Sklave Gottes ein Recht auf parrhesia, wenn er sich von Sünden und Verfehlungen befreit hat. Philo ist überzeugt, dass der Sklave nur schlechter wird, wenn ihm der Herr nicht Freimut einräumt. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der parrhesia mit dem Gedanken der „syneidesis" verknüpft, also mit dem Gewissen und der Gewissensprüfung. Dies wird bei Josephus und bei Philo deutlich.[44] Dabei findet sich der Gedanke, dass der Sklave Gottes ein Recht zur parrhesia hat, bisher nicht in der hellenistischen Literatur, sondern in der jüdisch-griechischen Auslegung der Bibel. Diese parrhesia gegenüber Gott, das Recht, Gott „alles zu sagen", äußert sich im Gebet. Dies wird vor allem an Abraham und an Mose anschaulich gemacht. „Nicht jeder hat eben parrhesia gegenüber Gott, sondern nur die ausgezeichneten Gestalten der jüdischen Geschichte haben parrhesia, sie, die sich aus der großen Menge der Menschen herausheben ... und die für das Bewusstsein des gläubigen Juden als ‚Beter' eine vorbildliche Bedeutung haben."[45] Der Beter hat als ein „Freund" Gottes - hier schlägt wieder das ganze Gewicht der Lehre von der Freundschaft durch - allein das Recht, Gott alles zu sagen.
Es ist ein Zeichen für die tiefe Bedeutungsgeschichte des Wortes parrhesia, dass der neutestamentliche Sprachgebrauch vom Hellenismus und vom griechisch sprechenden Judentum her zu verstehen ist. Ein Beispiel dafür entstammt dem Brief des Paulus an Philemon: „Obwohl ich in Christus volle Freiheit (parrhesia) habe, dir zu befehlen, was du tun sollst, ziehe ich es um der Liebe willen vor, dich zu bitten." schreibt der alte Paulus in Ketten an Philemon und tritt für dessen Sklaven Onesimus ein (8). Auch der Zusammenhang von Öffentlichkeit und Freimut ist offenkundig, wie aus den johanneischen Schriften hervorgeht, vgl. z.B. Joh 7,4. Manchmal steht auch Öffentlichkeit dem göttlichen Geheimnis gegenüber (vgl. Eph 6,19; 3,12). „In Christo haben wir das Recht, Gott alles zu sagen, und den Zutritt.[46] Ursprünglich ist Gott der souveräne Herr des Gerichts, dem man sich eigentlich nicht nähern kann. Aber in Jesus Christus können und dürfen wir den Mut haben, uns ihm zu nähern (vgl. 1 Joh 2,28; 4,17; 3,21; 5,14). Alles was wir erbitten, wird von Gott auf seine Weise erhört. Den Freunden, die das Recht auf freie Rede haben, schlägt Gott nichts ab. „Daran werden wir erkennen, dass wir aus der Wahrheit sind, und werden unser Herz in seiner Gegenwart beruhigen. Denn wenn das Herz uns auch verurteilt - Gott ist größer als unser Herz, und er weiß alles. Liebe Brüder, wenn das Herz uns aber nicht verurteilt, haben wir gegenüber Gott Zuversicht (parrhesia); alles, was wir erbitten, empfangen wir von ihm, weil wir seine Gebote halten und tun, was ihm gefällt." (1 Joh 3,19ff.) Auch hier zeigt sich wieder die vorher aufgezeigte Struktur: nur wenn wir den Weisungen und Geboten Gottes folgen, erlangen wir alles, worum wir bitten, und zwar aufgrund der parrhesia.
Es ist nicht zufällig, dass dabei der Blick vor allem auf den Glaubenden fällt, der in Treue an Gott festhält und sein Leben dafür verliert. „Wenn wir die Zeugnisse der alten Kirche überblicken, so sehen wir, daß in erster Linie der Märtyrer als im Besitz der parrhesia befindlich gedacht wurde. Der Märtyrer hat eine zwiefache parrhesia: eine auf Erden und eine im Himmel. Auf Erden beweist er seine parrhesia gegen die dem Glauben feindliche Obrigkeit. Nach seinem Tod aber hat er parrhesia bei Gott, denn er weilt schon im Paradiese und kann nun als ‚Freund Gottes' ihn um alles bitten. Das tut der Märtyrer auch; er bittet für die Lebenden und so wird denn das Wort parrhesia in der griechischen Kirche zu einem zentralen Begriff in der Lehre und der Fürbitte der Märtyrer, und danach der Heiligen überhaupt."[47] Erik Peterson und Heinrich Schlier bringen viele Zeugnisse aus der alten Kirche, die das intensive Fortleben dieser Überzeugungen belegen. Die parrhesia ist nötig, um die Anrufung des Märtyrers als berechtigt zu erweisen. Darin ist auch und ganz besonders die Fürbitte der Märtyrer und der Heiligen begründet.
Die parrhesia gibt dem Märtyrer und dem Heiligen das Recht, Gott zugunsten der Sünder alles zu sagen und ihn um alles zu bitten. Parrhesia kann man aber nur haben, wenn die Seele gereinigt ist und vor Gott bestehen kann. Das ganze Problem wird im übrigen besonders beim Beten des Vaterunsers akut. Die parrhesia ist deshalb nötig, weil wir Gott in diesem Gebet „Vater" nennen. Dies ist ein „Wagnis" (tolman). „Wenn schon jedes Gebet parrhesia verlangt, so dass in der Jakobusliturgie der Priester beim Offertoriumgebet Gott um parrhesia bittet ... um wie viel mehr das Gebet des Vaterunsers und so ist aus diesen selben Voraussetzungen denn auch der das Vaterunser in der Römischen Messe einleitende Satz zu verstehen: Praeceptis salutaribus moniti, et divina institutione formati, audemus dicere: Pater noster usw. Das audemus dicere ... ist Ausdruck der parrhesia der Gläubigen."[48] Dies gewinnt noch eine zusätzliche Nähe durch das Vaterunser in der Eucharistiefeier, worauf hier nicht näher einzugehen ist.[49] Dass wir gerade beim Gebet diese Erlaubnis und die entsprechende parrhesia brauchen, um Gott „alles sagen" zu können, haben wir weitgehend vergessen, bleibt aber auch für heute eine wertvolle Einsicht.[50] Nicht mehr ausführlicher verfolgen kann ich hier, dass die lateinische Übersetzung von parrhesia „fiducia" viele Motive und Elemente des ursprünglichen Gedankens der parrhesia verbirgt und verschiebt, so dass der entscheidende Gehalt der klassischen parrhesia-Idee nur bedingt das spätere europäische kulturelle Erbe erreichen konnte.[51]
Es ist erstaunlich, wie in diesem Gedanken des Freimutes griechisches Gedankengut und der Geist des griechisch sprechenden Judentums, aber auch des Neuen Testaments und der frühen Kirche vereinigt sind und eine geradezu nahtlose Einheit bilden. Dies zeigt aber auch, in welcher Tiefe dieser Freimut kulturell, ethisch und religiös verankert ist. Dieser Gedanke passt in geradezu vollendeter Form auf die Mitglieder der Weißen Rose, die man wirklich auch in diesem Zusammenhang und im selben Sinn als Märtyrer bezeichnen darf.[52] Wenn man ihre Flugblätter und Zeugnisse liest, findet man - auch im Sinn der eingangs zitierten Texte - viele Anklänge an die aufgezeigten Zusammenhänge. Damit kommt auch der Gedanke der Zivilcourage auf einen Höhepunkt.
Dies sind keine nur historisch interessanten, aber irgendwo für heute verblichenen und unbrauchbar gewordenen Überlegungen. Dies will ich kurz aufzeigen. Es gibt dafür nämlich eine erstaunliche Parallele, die in diesem Zusammenhang noch dargestellt werden muss. Der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault (1926-1984), Inhaber des Lehrstuhls für die Geschichte der Denksysteme am Collège de France in Paris, hat seine letzten großen Vorlesungen der parrhesia gewidmet: der freimütigen, öffentlichen, gelegentlich auch aufbegehrenden Rede. Dieses Stichwort ist zum großen Thema seines späteren Werkes geworden. Der Mut zur Wahrheit ist das zentrale Thema. Es hat einen besonderen Höhepunkt erlangt in dem Buch „Die Regierung des Selbst und der anderen"[53] Dieses große Werk, das in den zehn Vorlesungen ganz vom Gedanken der parrhesia geführt wird, erschließt das weithin vergessene ethische Fundament dieser alten und zugleich modernen Tugend. Zugleich formuliert Foucault damit auch sein philosophisches Testament. Freilich bleibt Foucault, auch wenn er z. B. H. Schliers Beitrag kennt, weitgehend bei den antiken Texten. M. Foucault weist auf zwei Dimensionen dieses „komplexen Begriffes" hin, wenn er zu Beginn der neunten Vorlesung sagt: „einerseits (nämlich) auf das Prinzip des freien Zugangs aller zur Rede; und andererseits auf das Prinzip der Freimütigkeit, mit der man alles sagt. Bestünde dann die parrhesia alles in allem nicht darin, dass alle alles sagen können? Das wird in gewissem Sinne von dem Wort selbst nahe gelegt. Tatsächlich haben wir aber gesehen, ... dass die Dinge etwas komplizierter lagen. Zunächst weil die parrhesia nicht identisch mit der Redefreiheit ist, der Redefreiheit, die jedermann eingeräumt werden mag. Tatsächlich erscheint die parrhesia als eine, wenn schon nicht gesetzlich gesicherte, so doch zumindest gewohnheitsmäßige Einrichtung, die an Privilegien des Rederechts gebunden ist. Zweitens stellt es sich heraus, dass die parrhesia auch nicht nur die Freiheit ist, alles zu sagen, sondern einerseits eine Verpflichtung, die Wahrheit zu sagen, und andererseits eine Verpflichtung, die von der Gefahr begleitet wird, die das Wahrsprechen mit sich bringt."[54]
Wenn man die Gedanken von Michel Foucault weiterentfalten würde, könnte man noch besser erkennen, wie sehr die parrhesia zur Theorie und Praxis auch der modernen Demokratie gehört und wie sehr der Gedanke der Zivilcourage diesem Wort eng verwandt ist. Damit offenbart sich über alle historischen Bedingtheiten hinaus ein grundlegender Strang des europäischen politischen, ethischen und religiösen Denkens, das sich ganz besonders im vorbildlichen Leben, Wirken und Sterben der Mitglieder der Weißen Rose vollendet. Wir denken aber auch an mutige Männer und Frauen der Zivilcourage in unseren Tagen, hier in München besonders an Dominik Brunner, der am 12. September 2009 am S-Bahnhof in Solln seinen Einsatz für Kinder und Jugendliche mit dem Leben bezahlte. Ihre Lebenshingabe darf nicht umsonst sein.
[1] I. Scholl, Die Weiße Rose. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt 1977 u.ö., 97 (1. Flugblatt, vgl. dazu auch 47f.).
[2] Ebd., 102 (2. Flugblatt). Vgl. dazu auch R. Herder, Wege in den Widerstand gegen Hitler, Freiburg i. Br. 2009, 53f.; dazu auch H. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Neuausgabe, München 1986, 138.
[3] Ebd., 107f. (3. Flugblatt).
[4] Der Essay aus dem Jahr 1985 ist aufgenommen in: Hilde Domin, Gesammelte Essays. Heimat in der Sprache, München 1992, 255-261 (vgl. auch 409).
[5] Ebd., 234.
[6] R. von Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846 bis 1872, Berlin-Stuttgart 1901, 8; vgl. auch O. Marquard, Zivilcourage, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2004, 1362-1365, Zitat: 1363; vom selben Autor: Zivilcourage. In memoriam Erwin Stein, in: Ders., Skepsis und Zustimmung, Stuttgart 1994 (Reclam-Universal-Bibliothek 9334), 123-131.
[7] Außer dem schon genannten Essay von Hilde Domin vgl. bes. z.B. I. Fetscher, Ermutigung zur Zivilcourage. Plädoyer für eine zu wenig beachtende Tugend, in: K. Rahner/B. Welte (Hg.), Mut zur Tugend. Über die Fähigkeit menschlicher zu leben, Freiburg i. Br. 1979, 94-103; vgl. auch zur Sache O. Marquard, Zivilcourage, in: Ders., Skepsis und Zustimmung. Philosophische Studien, Stuttgart 1994, 123-131 (ursprünglich 1993).
[8] So z.B. R. Guardini, Tugenden, Mainz 1987, 92-102. Ich verzichte hier auf weitere ähnliche Zeugnisse.
[9] Zu dieser klassischen Tugendlehre vgl. O. F. Bollnow, Wesen und Wandel der Tugenden, Frankfurt 1958 u.ö., 77-89; R. Guardini, Tugenden: Meditation über Gestalten sittlichen Lebens, 4. Aufl., Mainz 1992, 92-102; J. Pieper, Schriften zur Philosophischen Anthropologie und Ethik: Das Menschenbild der Tugendlehre, hrsg. von B. Wald, Hamburg 1996, 113-136 (die Abhandlung zur Tapferkeit erschien in vielen Auflagen, z.B. auch J. Pieper, Das Viergespann, München 1964, 163-198). Eine kurze Darstellung findet sich auch bei J. Pieper, Über das christliche Menschenbild, München 1950 u.ö., 37-46. Bemerkenswert ist dort die Nähe zum Thema „Furcht des Herrn" (40ff.), ein Thema, das eine enge Verwandtschaft hat mit Gedanken von Hans Jonas. Vgl. auch M. Brumlik, Bildung und Glück. Versuch einer Theorie der Tugenden, Berlin 2002, 156ff.; F. Ricken, Gemeinschaft, Tugend, Glück. Platon und Aristoteles über das gute Leben, Stuttgart 2004; O. Höffe, Lebenskunst und Moral oder Macht Tugend glücklich, München 2007 (vgl. Reg.: 388).
[10] Vgl. Republica IV, 427ff.
[11] Vgl. die Originalstellen in der Nikomachischen Ethik, vor allem III, 4,9,10; eine Zusammenstellung der wichtigsten Aussagen findet sich bei O. Höffe, Aristoteles-Lexikon = Kröners Taschenausgabe 459, Stuttgart 2005, 44-45 (Ph. Brüllmann).
[12] Nikomachische Ethik III, 10, 1115b 17-19.
[13] Ebd., III, 11.
[14] Ebd., VII, 15, 1334a 21f.
[15] Vgl. die Originaltexte und die Fundorte, in: Thomas-Brevier, zusammengestellt, verdeutscht und eingeleitet von J. Pieper, München 1956, Erster Teil: Nr. 366-379, S. 158-162; J. Pieper, Lesebuch, München 1981, 21, 39, 83ff.
[16] Vgl. dazu W. Huber, Ziviler Ungehorsam, in: Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgart 2001, 1842-1846 (Lit.).
[17] Ebd., 1843. - Als Beispiel für die theoretische Entfaltung vgl. J. Habermas, Ziviler Ungehorsam - Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, in: Ders., Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt 1985, 79-99 (ursprünglich 1983); zur amerikanischen Variante des Zivilen Ungehorsams vgl. bes. H. Arendt, Ziviler Ungehorsam, in: Dies., Zur Zeit. Politische Essays, Hamburg 1986/1999, 129-159 (entstanden 1970).
[18] Dazu W. Huber, ebd., 1843-1846 (Lit.).
[19] Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hrsg. von Chr. Gremmels u.a. = Dietrich Bonhoeffer Werke VIII, Gütersloh 1998, 23f.
[20] Ebd., 23f.
[21] Ebd., 24.
[22] Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, neu herausgegeben von F.-R. Hausmann, Stuttgart 1986/2007, 74.
[23] Mut und Zivilcourage der Christen, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1957, 57.
[24] Vgl. z.B. I. Fetscher, Ermutigung zur Zivilcourage, in: K. Rahner/B. Welte (Hg.), Mut zur Tugend, Freiburg i. Br. 1979, 94-103; H.-R. Laurien, Tapferkeit, in: N. Kutschki (Hg.), Kardinaltugenden. Alte Lebensmaximen neu gesehen, Würzburg 1993, 31-40.
[25] Vgl. R. Schröder, Zivilcourage, in: K. Fincke/J. Zehne (Hg.), Zutrauen zur Theologie. Akademische Theologie und die Erneuerung der Kirche, Berlin 2000, 474-487, bes. 478f.; zum Thema vgl. auch W. Huber, Ziviler Ungehorsam, 1842-1846; vgl. auch den Artikel Zivilcourage von A. Herrmann/G. Meyer, in: ebd., 1838-1842.
[26] Ebd., 486.
[27] Skepsis und Zustimmung, 123; vgl. auch Ders., Zukunft braucht Herkunft, Stuttgart 2003, 247-260.
[28] Skepsis und Zustimmung, 130.
[29] Zum Begriff der Bürgergesellschaft vgl. P. Nolte, Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat?, Berlin 2009, 7ff., 57ff., 66ff., 107ff.
[30] Vgl. dazu Chr. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt 1980, 40f., 139f., 214ff., 289f.
[31] Zu diesen Formen des Widerstands auch im Nationalsozialismus vgl. exemplarisch die Untersuchung von H. Hürten, Verfolgung, Widerstand und Zeugnis. Kirche im Nationalsozialismus. Fragen eines Historikers, Mainz 1987. Vgl. auch vom selben Autor den Art. „Widerstand?", in: Ders., Deutsche Katholiken 1918-1945, Paderborn 1992, 523-541, bes. die Zusammenfassung 541.
[32] Ich erwähne statt vieler nur A. MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt 1987, 165ff., 207f., 223f., 256ff., 265ff.; V. Weber, Tugendethik und Kommunitarismus, Würzburg 2002; A. Honneth (Hg.), Kommunitarismus, Frankfurt 1993.
[33] Vgl. dazu auch D. Mieth, Die neuen Tugenden. Ein ethischer Entwurf, Düsseldorf 1984, 90f.; A. W. Müller, Was taugt die Tugend? Elemente einer Ethik des guten Lebens, Stuttgart 1998; O. Höffe, Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, München 2004, 82ff. u.ö. Wichtige Elemente enthalten auch die Abhandlungen von J. Messner, Ethik und Gesellschaft. Aufsätze 1965-1974, Köln 1975, bes. 13ff., 31ff., 139ff. u.ö.; R. Schröder, Über den Bürgermut, in: Internationale theologische Zeitschrift „Communio" 27 (1998), 411-420. Hier heißt es: Zivilcourage „ist der Mut, seine Überzeugung gegen zu erwartenden Widerspruch, diesmal der Mehrheit, zu vertreten. Es ist das Gegenteil des leisetreterischen oder anpassungsbereiten Opportunismus." (411); vgl. auch H. Küng, Ermutigung zur Zivilcourage, in: A. Raffelt unter Mitwirkung von B. Nichtweiß (Hg.), Weg und Weite. Festschrift für K. Lehmann, Freiburg i. Br. 2001, 705-710.
[34] Vgl. dazu in Kürze Lexikon des deutschen Widerstandes, hrsg. von W. Benz und W. H. Pehle, Frankfurt 1994; K.-J. Hummel/Chr. Strohm (Hg.), Zeugen einer besseren Welt. Christliche Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2000; J. Mehlhausen (Hg.), Zeugen des Widerstands, Tübingen 1996; R. Herder, Wege in den Widerstand gegen Hitler, Freiburg i. Br. 2009; vgl. zusammenfassend A. Doering-Manteuffel/J. Mehlhausen (Hg.), Christliches Ethos und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Europa = Konfession und Gesellschaft 9, Stuttgart 1995 (Lit.), darin bes. auch J. Gauck, „Wahrnehmen - Aushalten - Widerstehen". Zivilcourage. Erwägungen zu einem schwierigen Begriff in einem schwierigen Jahrhundert, 155-164.
[35] Vgl. dazu auch den Artikel von J. Knab, Wie sich Gewissen bildet. Der Widerstand der Weißen Rose gegen den Nationalsozialismus war ein Aufstand des Gewissens. Wie kam es dazu?, in: Christ in der Gegenwart, Nr. 37 (2009), 613f.
[36] Vgl. Mt 5,13.
[37] Vgl. Apg 5,29.
[38] Vgl. Apg 4,14; 14,3; 26,26; 28,31; 2 Kor 3,12; Eph 6,19.
[39] Vgl. dazu in aller Kürze O. Höffe, Widerstandsrecht, in: Ders., Lexikon der Ethik, 7. Aufl., München 2008, 345f. (Lit.); ders., Gibt es in der Demokratie ein Widerstandsrecht?, in: Sittlich-politische Diskurse, Frankfurt 1981 u.ö., 160-170.
[40] H. Balz, Art. Parrhesia, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hrsg. von H. Balz und G. Schneider, Bd. III, Stuttgart 1983 u.ö., 105-112, Zitat: 106; zum Phänomen vgl. besonders die beiden auch heute noch unersetzlichen Beiträge von E. Peterson, Zur Bedeutungsgeschichte von Parrhesia, in: W. Koepp (Hg.), Reinhold Seeberg-Festschrift, Bd. 1. Zur Theorie des Christentums, Leipzig 1929, 283-297; und von H. Schlier, Art. parrhesia, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hrsg. von G. Friedrich, Bd. V, Stuttgart 1954, 869-884.
[41] E. Peterson, a.a.O., 288.
[42] Ebd., 289.
[43] Ebd., 289, vgl. auch H. Schlier, ebd., 872ff.
[44] Vgl. E. Peterson, ebd., 289ff.; H. Schlier, ebd., 873ff.
[45] E. Peterson, ebd., 290f.
[46] Ebd., 292.
[47] Ebd., 293.
[48] Ebd., 296f.
[49] Vgl. ebd., 297; H. Schlier, ebd., 883f.
[50] Dazu finden sich nützliche Gedanken, vor allem im Anschluss an Erik Peterson, bei Thomas Michels, Die Gabe des Freimutes im geistlichen Leben nach Zeugnissen der Liturgie, in: Ders., Sarmenta, Münster, 1972, 147-152, bes. 149f.
[51] Vgl. dazu E. Peterson, Fiducia in den altrömischen Sakramentaren, in: Liturgisches Leben 1 (1934), 224-231; dazu auch L.J. Engels, Art. Fiducia, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. VII, Stuttgart 1969, 839-877.
[52] Vgl. bes. E. Peterson, Theologische Traktate, 53-129, dazu die Darstellung von A. Robben, Märtyrer. Theologie des Martyriums bei Erik Peterson = Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 45, Würzburg 2007, sowie dazu die Rezension von B. Nichtweiß, in: Theologie und Philosophie 83 (2008) 152-154. Zum altkirchlichen Märtyrer vgl. vor allem Th. Baumeister, Die Anfänge der Theologie des Martyriums = Münstersche Beiträge zur Theologie 45, Münster 1980; ders. Martyrium, Hagiographie und Heiligenverehrung im christlichen Altertum = Römische Quartalschrift für Christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, 61. Supplementband, Rom 2009 (weitere Angaben in der Bibliographie Th. Baumeisters, 327-342). Auf die Auffassung der evangelischen Theologie und Kirche, zu der einige Mitglieder der Weißen Rose gehörten, im Blick auf die Beurteilung des Martyriums kann ich hier nicht eingehen, doch hat die Wertung durch die Gestalt D. Bonhoeffers eine sehr viel positivere Qualität erhalten.
[53] Diese Vorlesung aus dem Jahr 1982/83 ist im Jahr 2008 in Paris und 2009 in Frankfurt erschienen. Vgl. dazu auch die Situierung der Vorlesungen durch F. Gros, 471-490. Zu Michel Foucault vgl. H.-H.-Kögler, Michel Foucault, 2. Auflage, Stuttgart, 2004 und bes. zu unserem Thema S. Krasmann/M. Volkmer (Hg.), Michel Foucaults „Geschichte der Gouvernementalität" in den Sozialwissenschaften. Internationale Beiträge, Bielefeld 2007; E. Erdmann/R. Forst/A. Honneth (Hg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt 1990. Vgl. auch von M. Foucault das zentrale Werk: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt, 2004 (auch Taschenbuchausgabe, Frankfurt 2009), dazu auch die Einführung zur Vorlesung von F. Gros: 616-668, vgl. auch Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt 2003.
[54] Die Regierung des Selbst und der anderen, 375.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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