Zum Schweigen von Papst Pius XII.

von Bischof Karl Lehmann, Mainz

Datum:
Sonntag, 2. April 2000

von Bischof Karl Lehmann, Mainz

Papst Johannes Paul II. hat für seine Reise nach Jordanien und vor allem Israel in der internationalen Presse und Politik höchste Anerkennung gefunden. Er hat wirklich alle anstehenden Probleme angesprochen und ist ihnen nicht ausgewichen.

Aber an einer Stelle regt sich immer noch Enttäuschung, die eng mit einem Vorwurf verbunden ist. Der Papst habe zwar in einmaliger Weise Gott und die Menschen um Vergebung für das dem jüdischen Volk geschehene Unrecht gebeten, er habe aber nichts über das Schweigen von Papst Pius XII. zur Judenvernichtung in der NS-Zeit gesagt. Bei aller Anerkennung der Verdienste der Reise ist dieser Einwand fast gebetsmühlenartig von vielen wiederholt worden.

 

Nun ist dies ein altes Thema, das spätestens seit R. Hochhuts Theaterstück "Der Stellvertreter" (1963) immer wieder erhoben und von neuem angeheizt wird. In der Tat hat der Papst dazu keine unmittelbare Aussage gemacht.

 

Die Frage ist oft schon dadurch belastet, dass man von einem "totalen Schweigen" ausgeht und zugleich den Eindruck erweckt, ein öffentlicher Aufschrei des Papstes, der weltweit von der Kirche aufgenommen worden wäre, hätte die Judenvernichtung auf einen Schlag gestoppt. Beides ist in dieser Form falsch oder mindestens unbeweisbar.

 

Spätestens im Sommer/Herbst 1942 hatte man im Vatikan (aber auch anderswo!) wohl verlässliche Informationen über die Vernichtungsaktionen gegen die Juden. Es fehlte nicht an Initiativen vor allem durch die vatikanische Diplomatie. In der Weihnachtsbotschaft vom 24. Dezember 1942 und in der Ansprache an die Kardinäle vom 2. Juni 1943 nahm Pius XII. auch gegen die Judenverfolgung Stellung. Der Papst hat nicht einfach geschwiegen. Das mutige öffentliche Eintreten der holländischen Bischöfe für die Juden hatte im Übrigen schlimmste Folgen (Edith Stein befand sich unter den Opfern). Aus solchen Erfahrungen rieten die deutschen Bischöfe dem Papst von öffentlichen Protesten ab.

 

Es ist schwer zu sagen, ob der Papst andere als diplomatische Mittel mit einiger Aussicht auf Erfolg hätte einsetzen können und sollen. Man hatte im Vatikan diplomatisch und auf dem Weg anderer Einwirkungsversuche ohnehin wenig Erfolg. Man muss vor allem auch von der Situation damals ausgehen und nicht von verständlichen Überlegungen heute.

 

Der Papst hatte wohl Texte für einen öffentlichen Einspruch aufgesetzt, sie aber wieder verworfen. Das wirkliche Gewicht solcher öffentlicher Proteste war nicht leicht abzuwägen. Als Bischof Graf Galen aus Münster nach dem 9. November 1938 auf Bitten der Juden bereit war, öffentlich Stellung zu beziehen, haben die Juden ihre Bitte wieder zurückgezogen, nachdem Galen sie auf mögliche Gefahren und Konsequenzen in Richtung eines erneuten Pogroms hingewiesen hatte. Ähnlich war das Schweigen des Papstes zum Judenpogrom Ergebnis einer Güterabwägung, die auf ihre Weise ethisch durchaus verständlich gemacht werden kann, auch wenn man sie nicht teilt. Der Papst hat es vorgezogen, in vielen einzelnen Schritten und Initiativen konkrete Hilfe und Rettung zu leisten. Die Zahlen schwanken außerordentlich. Diese diskreten Aktionen konnten wohl nur im Klima einer gewissen öffentlichen Zurückhaltung erfolgen, um größere Übel zu vermeiden. Man sollte jedenfalls das Dilemma wahrnehmen und anerkennen, selbst wenn man die Entscheidung von heute aus anders beurteilt als der Papst selbst. Es ist leicht, heute sich auf das hohe Ross der Empörung zu setzen.

 

Es ist heute schwer, eine gültige Antwort auf die Frage nach dem besseren Weg von damals zu geben. Wir haben ohnehin in vieler Hinsicht keine eindeutigen Quellenbelege, sondern können nur manches hypothetisch oder durch Interpretation erschließen. Man kann deshalb nur wünschen, dass möglichst bald alle verfügbaren Quellen in den Archiven zugänglich gemacht werden, sofern sie überhaupt noch vorhanden sind.

 

In jedem Fall ist Mäßigung angeraten. Es war jedenfalls kein feiges und feines Schweigen. Auch wir setzen uns heute über manches Unrecht weg oder wollen es nicht wahrhaben. Hier hat der Papst schon in seiner Vergebungsbitte vom 19. März wichtige Akzente gesetzt, die uns alle angehen. Er war gut beraten, zu dem sogenannten Schweigen seines Vorgängers zu schweigen. Deswegen ist die Akte nicht geschlossen. Die Shoah ist und bleibt ein "untilgbarer Schandfleck" in unserer Geschichte.

 

Copyright: Karl Lehmann, Mainz
(aus: Bistumszeitung Glaube und Leben Nr. 13, 2. April 2000)

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz