In diesen Tagen haben wir wieder erfahren, wie schnell latente Konflikte sich zu regelrechten kriegerischen Auseinandersetzungen hochschaukeln. Dann rufen alle nach "Eingreifen". Diplomaten aus aller Welt reisen durch die Konfliktregion. Ihr Schweigen spricht Bände.
Es fehlt uns schon seit einiger Zeit ein friedensethisches Konzept für solche Situationen. Natürlich gibt es im wissenschaftlichen Bereich der Friedensforschung und anderer Disziplinen schon lange Modelle der Konfliktbewältigung. Kleinere Verbände und Gruppen haben auch exemplarisch Anwendungen versucht. Aber in der Breite politischer Initiativen gibt es wenig nachhaltige Bemühungen, wobei ich die Entwicklung im Völkerrecht und in den großen übernationalen Organisationen nicht verkennen möchte. Aber die Theorie und Praxis z.B. des gewaltlosen Widerstandes ist doch weithin im Abseits geblieben.
Nachdem die Friedensethik nicht mehr primär von den Problemen atomarer Auseinandersetzungen bestimmt wird, ist es ohnehin an der Zeit, sich wieder stärker friedensethischen Fragen im Kontext konventioneller Kriege zuzuwenden. Die Ereignisse auf dem Balkan haben uns gelehrt, dass wir auch in Europa vor der Wiederkehr solcher Konflikte nicht sicher sein können.
Weltweit spielen freilich diese kriegerischen Auseinandersetzungen nicht nur im zwischenstaatlichen Bereich, sondern immer mehr auch innerhalb einzelner Staaten eine große Rolle. Die herkömmlichen sicherheitspolitischen Instrumentarien erfassen nur bedingt diese gewalttätig ausgetragenen Konflikte, die nicht zuletzt durch die verschiedenen Spielarten des Nationalismus und "Ethnozentrismus" bestimmt werden.
Man darf sich der Friedensfrage nicht erst stellen, wenn Auseinandersetzungen bereits mit Waffengewalt geführt werden. Es gilt vielmehr, frühzeitig alles zu tun, um Gewaltsituationen möglichst erst gar nicht entstehen zu lassen. Es geht also sehr wesentlich um "Vorbeugung". Dies mag zuerst harmlos klingen. Wer jedoch die Gewaltprävention wirklich ernst nimmt, wird bald spüren, in welch hohen Maß die Bereitschaft zu Veränderung, ja Umkehr verlangt wird. Gewaltprävention setzt jedoch viel weiter und viel früher an als nur im Bereich der Militär- und Sicherheitspolitik: Verbesserung der sozialen Lage, Armutsbekämpfung, Ausrottung von Vorurteilen, menschliche Solidarität, Anhebung der Bildungssituation. Die Verbesserung dieser Faktoren des individuellen und gesellschaftlichen Lebens muss gerade auch der beachten, der in politischer und ethischer Verantwortung Gegengewalt anordnen oder ausüben muss. Dies ist kein Widerspruch. Es darf kein Freibrief für einen hemmungslosen Interventionismus werden. Es muss – dies hat der Kosovo-Konflikt wohl gezeigt – rechtliche und institutionelle Voraussetzungen geben, die es der internationalen Staatengemeinschaft ermöglichen, schneller und wirksamer zu handeln, im Fall der Prävention ebenso wie der Reaktion.
Dies können nur einige Hinweise sein für eine intensivere Beschäftigung mit der Sache. Die Deutsche Bischofskonferenz hat am vergangenen Dienstag ein umfangreiches Dokument zu diesem Thema unter dem Titel "Gerechter Friede" veröffentlicht.
Natürlich ist dieses Dokument seit Jahren vorbereitet worden. Es ist keine modische Eintagsfliege. Gerade darum kann diese umfangreiche Erklärung aber auch in den heutigen Situation hilfreich sein, nicht zuletzt im Nahen Osten, aber auch bei der Gewaltanwendung rechtsradikaler Kreise in unserem Land. Ein Allheilmittel hat niemand, aber es gibt viele einzelne Wege und Pfade zu mehr Frieden und zu weniger Gewalt. Wir müssen alle nützen.
Weitere Informationen auf den Seiten der DBK
(c) Bischof Karl Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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