Zur Bedeutung des Protestantismus aus katholischer Sicht heute

Datum:
Freitag, 5. März 2004

Vortrag bei dem Symposion „Hörende Theologie. Zum 100. Geburtstag von Karl Rahner SJ“ der Katholischen Akademie in Bayern in Zusammenarbeit mit den Deutschen Jesuiten am 5./6. März 2004 in München

Hinweis: Dieser Text enthält keine Fußnoten. Im Original sind eine Vielzahl von Literaturangaben, Anmerkungen usw. vorhanden.

Als ich zum 80. Geburtstag Karl Rahners vor ziemlich genau 20 Jahren in Freiburg zum Thema „Karl Rahner und die Kirche“ sprach, musste ich noch feststellen, dass Karl Rahner sich in den Jahrzehnten seines Lehrens und Wirkens zwar überdurchschnittlich viel dem Thema „Kirche“ gestellt hatte, dass aber Karl Rahners Lehre von der Kirche – von wenigen Veröffentlichungen abgesehen – weithin noch ein „Stiefkind der Rahner-Forschung“ ist. Es ist ein Zeichen für eine lebendige Beschäftigung mit Rahners Theologie auch nach seinem Tod, dass diese damalige Feststellung sich gründlich geändert hat. Ich erwähne vor allem Studien aus dem Umkreis jüngerer Theologen, die zu einem guten Teil Karl Rahner gar nicht mehr persönlich kannten, aber mit großem Interesse neue Zugänge geschaffen und gewonnen haben.

Um so notwendiger wird es, nun einzelne Themen der Ekklesiologie Karl Rahners durchzubuchstabieren. Es gibt dabei viele Themen, die bis in die Praktische Theologie hineinreichen. Hier gibt es zweifellos unzählige Themen, besonders wenn man auch das Handbuch der Pastoraltheologie , die praktischen und spirituellen Schriften sowie die ökumenischen Veröffentlichungen heranzieht. Es scheint mir jedoch nicht minder wichtig zu sein, die theologischen Grundstrukturen in Karl Rahners Ekklesiologie zu verfolgen. Unter diesen gibt es evident wichtige Fragestellungen, wie z.B. die Kirche als Ur- oder Grundsakrament des Heils der Welt, aber auch eher etwas verborgene durchlaufende Perspektiven. In dieser Sicht habe ich mir das Thema „Karl Rahner als Interpret des Katholischen“ ausgewählt. Dabei soll gerade auch das bisher weniger Entdeckte und eher Verborgene entschlüsselt werden. Denn darin kann man unverkrampft auch sein Vermächtnis für morgen finden.

I. Der Ansatz zum Verständnis von Kirche

Zuerst muss freilich der Ansatz von Rahners Denken über die Kirche skizziert werden. Karl Rahner treibt keine in sich geschlossene oder introvertierte Ekklesiologie. Er geht weder soziologisch noch theologisch von einem selbstverständlichen Begriff von Kirche aus, wie sie uns als institutionelle Erscheinung gegeben ist. Kirche hat nicht nur etwas mit dem Problem der Organisation religiöser Bedürfnisse oder Individuen zu tun. „Die Kirchenfrage ist nicht bloß eine Frage der menschlichen Zweckmäßigkeit, sondern im eigentlichen Sinne auch eine Glaubensfrage. Kirche muss vom Wesen des Christentums aus so verstanden werden ... Kirche ist ein Stück Christentum als des Heilsereignisses selber.” Karl Rahner wäre kein Theologe, wenn er nicht zuerst alle menschlichen Phänomene, gerade auch die Kirche, überschreiten würde auf ihren Ursprung in Glaube, Hoffnung und Liebe, ja Gnade überhaupt. Jede Rede von Kirche muss bedenken, dass dieses Wort letztlich nur sinnvoll ist, wenn es vor den dreifaltigen Gott und hinaus in die ganze Menschheit führt. So kann Karl Rahner folgende Bestimmung geben: „Die Kirche ist die gesellschaftlich legitim verfasste Gemeinschaft, in der durch Glaube und Hoffnung und Liebe die eschatologisch vollendete Offenbarung Gottes (als dessen Selbstmitteilung) in Christus als Wirklichkeit und Wahrheit für die Welt präsent bleibt.” Der Sinn von Kirche muss von Anfang an mit dem umfassenden Heilswillen Gottes gegenüber der Welt zusammengesehen werden: Sie ist das geschichtliche Zeichen, das diese reale Heilsabsicht Gottes geschichtlich zur Erscheinung bringt und auch bewirkt.

Ich möchte auch in diesem Zusammenhang auf meinen schon im Jahr 1970 vorgetragenen und inzwischen vielfach bewährten Vorschlag zurückkommen, in der Erfahrung der Gnade das fundamentale Kristallisationszentrum Rahnerscher Theologie zu erblicken . Der Empfang und die Annahme der Offenbarung vollziehen sich notwendig in der Geschichte des Menschen und der Menschheit. Die Selbstmitteilung Gottes in Gnade kommt nur in Form einer heilsgeschichtlichen Vermittlung zum Menschen. So macht die Kirche das Offenbarungswort Gottes in der Zeit gegenwärtig. Sie ist beides in einem: die verkündende Trägerin des offenbarenden Wortes Gottes als der Heilszusage Gottes an die Welt und zugleich die hörend glaubende Adressatin, an die dieses Heilswort Gottes in Jesus Christus gerichtet ist. Sie ist „die verkündigend glaubende und (...) die glaubend verkündende (Kirche) in einem“ .

Kirche kann es nur im eschatologischen Stadium der göttlichen Offenbarung geben. Blicken wir wiederum auf das Offenbarungswort, von dem die Kirche lebt, und das sie zugleich mitteilt. Dieses Wort ist eschatologisch irreversibel und setzt sich wirksam durch. „Denn es ist das Wort, das nicht vorläufig und überholbar in irgendeinem Propheten ergangen ist, sondern das letzte und endgültige, das Gott in seinem eigenen Sohn als seine siegreiche Selbstzusage gesprochen hat.“ Spätestens an dieser Stelle wird erkennbar, wie für Karl Rahner die Offenbarung Gottes, seine Selbstmitteilung in Gnade und die Menschwerdung des Sohnes die zentralen und bleibenden Voraussetzungen des Ereignisses Kirche sind. Die Begriffe, die die Beziehung von Jesus Christus und Kirche angeben, zeigen das Gefälle auf: Kirche ist „Fortsetzung des Sakramentes, das Christus ist“, das „Gegenwärtigbleiben des menschgewordenen Wortes in Raum und Zeit, ... dass sie die Symbolfunktion des Logos in der Welt fortsetzt“ Kirche, Sakramente und Schrift partizipieren an der absoluten und unlöslichen Einheit zwischen Göttlichem und Menschlichem in Jesus Christus. Dabei ist die strenge Vorordnung der Christologie gegenüber der Kirche entweder vorausgesetzt oder ausdrücklich gemacht. So kann Karl Rahner auch die Kirche bezeichnen als die „eine und volle geschichtliche Präsenz des einen Gottmenschen in seiner Wahrheit und Gnade für grundsätzlich alle Menschen“ . Die Kirche ist die geschichtliche Greifbarkeit der Gnade, in der Gott sich selbst mitteilt.

Dieses Wort des Heiles im Mund der glaubend verkündigenden Kirche als eschatologisch siegreiches Wort ist in letzter Absicht nicht an die Kirche, sondern an die Welt gerichtet. Kirche muss immer überstiegen werden auf ihre Sendung um der Welt willen. Sie ist zwar eine Stätte, wo die Wahrheit und das Heil Gottes in Wort und Sakrament sowie in der liebenden Antwort des Menschen gegenwärtig werden. Die Kirche ist von Gott berufen und erwählt, aber nicht für sich allein, sondern zugunsten derer, die Gott und seine Gnade noch nicht gefunden haben. Eine solche Position der Kirche inmitten der Geschichte und der zerrisse-nen Welt macht nicht bloß stets ihren Auftrag sichtbar, sondern zeigt auch radikal ihren Dienstcharakter, ihre Hinordnung auf Gott und die Menschheit, ihr vorläufiges Dasein, die Notwendigkeit zur Erneuerung, ihren Pilgerstatus. In Beziehung zur Welt ist die Kirche so nicht die exklusive Gemeinschaft der Heilserben, die sich abschließen , sondern sie ist der auf das Heil aller angelegte, geschichtlich aber noch begrenzte „Vortrupp derer, die auf den Straßen der Geschichte in das Heil Gottes und in seine Ewigkeit hineinwandern. Die Kirche ist (ihm) gewissermaßen der uniformierte Teil der Streiter Gottes, jener Punkt, an dem das innere Wesen des menschlich­göttlichen Daseins der Welt auch geschichtlich und soziologisch in Erscheinung tritt (besser: am deutlichsten in Erscheinung tritt, weil für den erhellten Blick des Glaubens auch außerhalb der Kirche die Gnade Gottes nicht aller Leibhaftigkeit entbehrt). Der Christ weiß: Das Morgenlicht auf den Bergen ist der Anfang des Tages in den Tälern, nicht der Tag oben, der die Nacht unten richtet“. Damit kommt auch die missionarische Dimension der Kirche in ihrem Grundwesen zur Sprache: Der Christ wirkt nur sein Heil, indem er das Heil der Welt verkündigt.

Nur wenn man die Kirche in dieser konstitutiven Hinordnung zur Christologie und zur Welt sieht, ist die Rede von der Kirche als dem „Sakrament des Heils der Welt” nicht abstrakt oder absolut. „Sakrament” ist ein Beziehungsbegriff, der das Eingebundensein der Kirche in das Heilswerk Jesu Christi mit der Menschheit anzeigt. Nach anfänglicher Unklarheit wird der Begriff „Ursakrament” nicht mehr auf die Kirche, sondern nur noch auf Jesus Christus angewendet, die Kirche selbst wird mit ”Grundsakrament“ bezeichnet . Der Sakramentsbegriff fasst das Verhältnis zwischen der Kirche und der Menschheit so, dass die Kirche die geschichtlich greifbare Wirklichkeit ist, welche die in der Welt unsichtbar wirksame Gnade bezeichnet und bewirkt. Man kann m.E. belegen, dass Karl Rahner die Formel Kirche als Sakrament des Heils der Welt stärker als andere Theologen im Sinne einer Beziehungsgröße auslegt und so der problematischen Gefahr einer ungeschichtlichen und verabsolutierenden Sakramentalisierung der Kirche in hohem Maß entgeht.

Gerade nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wird diese Sicht vorherrschend. Sie scheint mir am besten greifbar in dem schon genannten Aufsatz „Das neue Bild der Kirche“ . In diesem Sinne hat Karl Rahner zweifellos auch die konziliaren Aussagen über die Kirche entscheidend mitgeprägt. In seiner berühmten Rede „Das Konzil ­ ein neuer Beginn“ nach Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils am 12. Dezember 1965 in München sprach Karl Rahner davon, die Ergebnisse dieser Kirchenversammlung seien ein „Anfang des Anfangs“. Hier heißt es in einem aufschlussreichen Text: „Anfang des Anfangs wozu? Natürlich zum Anfang, der immer schon gesetzt und immer schon gelebt wurde, zu Jesus Christus, gestern, heute und in Ewigkeit, zu seiner Gnade, die allein erlöst und den Zugang zum lebendigen Gott eröffnet. Aber Anfang des Anfangs so, dass Jesus Christus und seine Kirche dieser Zeit von heute und morgen wirklich begegnen. Also Anfang des Anfangs für eine Kirche der ungeschuldeten Gnade Gottes, für eine Kirche unseres Herrn und Heilandes, für eine Kirche des Wortes Gottes, der Brüderlichkeit, der Hoffnung, der demütigen Liebe und des Dienstes, der Freude im Heiligen Geist, einer Liebe, die alle bloße Gesetzlichkeit überwindet, für eine Kirche, die sich ihr eigenes tiefstes Wesen und ihren Auftrag aus der geheimen Sehnsucht und der Not der Zeit heraus begegnen lässt, die darum lernt, indem sie lehrt, empfängt, indem sie gibt, herrscht, indem sie nur dient, also Anfang des Anfangs einer Kirche, die schon war, aber immer nur wird, was sie ist, indem sie selbst immer aufs Neue sich hinwendet zu ihrem einzigen Ursprung, der auch der Anfang und Herr der Weltgeschichte ist, in deren dunkle Zukunft die Kirche sich von eben diesem einen Herrn beider führen lässt” .

II. Theologische Wurzeln der Katholizität

Vor diesem Hintergrund muss man sich der Bestimmung des Katholischen bei Karl Rahner annähern. Es gibt bei Karl Rahner freilich unter diesem Stichwort des Katholischen kaum viele „Wesensaussagen“. Karl Rahner behandelt unter dem Stichwort des Katholischen eher die Katholizität als ein Kennzeichen (nota) der Kirche, und zwar innerhalb der traditionellen Elemente Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität der Kirche. Sehr oft verwendet Rahner das Begriffsfeld „katholisch“, um eine konfessionelle Ausformung des Christlichen zu beschreiben, also z.B. das katholische Kreuzzeichen, eine Maiandacht der Katholiken usw.

Aber wenn Karl Rahner z.B. im Kleinen Theologischen Wörterbuch das Stichwort „Katholizität“ umschreibt , dann sieht man über die traditionelle Behandlung der vier Kennzeichen der Kirche, die ja zu jedem christlichen Glaubensbekenntnis gehören, hinaus, wie Karl Rahner in der theologischen Reflexion Katholizität ansetzt. Er beginnt nämlich nach einem knappen einleitenden Satz, in dem er die Katholizität von Anfang an mit dem universalen Heilswillen Gottes zusammenbringt: Katholizität „bedeutet, a) dass die Kirche, kraft des allgemeinen Heilswillens Gottes, wegen der grundsätzlich allen Menschen erwirkten Erlösung in Jesus Christus und des Wirkens des Heiligen Geistes, in räumlicher und zeitlicher Unbegrenztheit bis zum Ende der Geschichte allen Menschen offen steht und offen stehen muss (und objektiv für alle verpflichtend ist), sodass sie den gottgewollten innergeschichtlichen Pluralismus der mannigfaltigen privaten und öffentlichen Bereiche zu jeder Zeit bejahen muss, und ihre Verkündigung und kirchlichen Lebensformen nie auf einen bestimmten Kulturkreis, eine bestimmte Rasse usw. unter Ablehnung anderer eingeschränkt sein können; b) dass die Kirche Jesu im Besitz der Fülle der Offenbarung Gottes in Christus ist. Diese Katholizität oder Universalität ist in jenen Schriften des AT und des Spätjudentums angebahnt, in denen explizit vom Heilswillen Gottes für alle Völker gesprochen wird; sie setzt sich durch in der Berufung des Paulus zum Apostel auch der Heiden (grundsätzlich: Eph 2,11 – 3,11). Die Katholizität ist ein Bekenntnis des christlichen Glaubensbekenntnisses (Ende 2. Jh.) und bezeichnet in der Väterzeit („katholisch“ als Bezeichnung der Kirche erstmals bei Ignatius von Antiochien, Smyrn. 8,2) wie auch heute eher den inneren, qualitativen Aspekt, während sie in der Blütezeit der Apologetik eher die äußere, faktische Universalität der Kirche meinte.“

Man darf aber nun nicht meinen, diese Orientierung des Begriffs der Katholizität vorwiegend am „inneren, qualitativen Aspekt“ würde eine Rücknahme oder Relativierung der institutionellen oder besser: der raumzeitlichen Merkmale von Kirche bedeuten. Dies wird überaus deutlich im zwar relativ knappen, aber doch sehr dichten Abschnitt über die Kirche im „Grundkurs des Glaubens“. Mit aller Deutlichkeit verteidigt Rahner, dass die Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit selbst zur Vermittlung des Heiles gehören. „Die Epoche, in der ein Mensch glauben konnte, das Eigentliche seines Daseins, das Humane, das eigentlich Persönliche könne in einer Intimität leben und sich vollziehen, die mit dem harten Alltag der Menschen, der Gesellschaft der Menschen, ihrer konkreten Interkommunikation, mit weitreichender Vergesellschaftung nichts zu tun habe, ist vorbei... (Aber) die Entwicklung, auf die wir hingehen, zeigt eben doch, dass zwischen der Gesellschaftigkeit des Menschen und dem Menschlichen am Menschen, auch seiner weltanschaulichen Interpretation des Daseins, so enge Beziehungen und Zusammenhänge herrschen, dass diese beiden Größen nicht einfach in einer weltanschaulich neutralen Gesellschaft getrennt werden können. So zeigt sich dann, dass der Mensch auch in seiner Weltanschauung der Gesellschaftliche ist. Wenn so das Christentum umgekehrt sagt, der Mensch sei auch als Christ in seinem letzten Verhältnis zu Gott der Kirchliche, so ist das dann nicht eine alte, längst überholte Meinung, sondern etwas, was auch epochal dem Menschen der nächsten Zeiten sehr deutlich werden wird.“

Rahner vergisst aber nicht, zugleich anzumerken, dass damit die Selbstverständlichkeit nicht verdunkelt werden darf, „dass die freie Annahme der Kirche und ihre Autorität selbst noch einmal ein Akt der Freiheit und Entscheidung ist, den jeder Christ – auch der katholische – in der Einsamkeit seines eigenen Gewissens verantworten muss, ohne sich an diesem Punkt seiner Freiheitsgeschichte schon auf die Autorität der Kirche als solcher stützen zu können.“ Dies hat zur Konsequenz, dass bei Karl Rahner unbeschadet der angeführten Aussagen der Begriff der Katholizität bzw. des Katholischen im klassischen Sinne zwar präsent ist, aber in gewisser Weise auch wieder etwas zurücktritt hinter den systematischen Ansatz, der stärker auf die Herkunft dieser Universalität, auf den allgemeinen, wirksamen Heilswillen Gottes abhebt, wie oben dargestellt worden ist.

So ist es auch trotz Rahners Argumentation verständlich, warum er schon zu Beginn seiner Grundkursabhandlung zur Kirche die Überschrift wählt „Christentum als Kirche“ und bald erklärt, dass die Lehre von der Kirche auch bei der gesellschaftlich-sozialen Anlage des Menschen „nicht der Kern der letzten Wahrheit des Christentums ist“ . Immer wieder wehrt er sich, wenn man in militanter Weise eine eng geführte und isolierte „Kirchlichkeit“ zum Eigentlichsten und Zentralsten des Christentums macht. Im Anschluss an das Ökumenismus-Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils weist er in diesem Zusammenhang immer wieder auf das Ordnungsgefüge der „Rangordnung der Wahrheiten“ in der katholischen Lehre hin. „Wenn wir dies bedenken, dann sind die Ekklesiologie und das Kirchenbewusstsein auch des orthodoxen, eindeutig katholischen Christen, nicht der tragende Grund und das Fundament des Christentums. Jesus Christus, der Glaube, die Liebe, das Sich-Anvertrauen an die Finsternis des Daseins in die Unbegreiflichkeit Gottes hinein im Vertrauen und im Blick auf Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen – das sind die zentralen Wirklichkeiten eines Christen.“

Aber auch hier muss nochmals betont werden, dass Karl Rahner damit nicht einer Abwertung des Kirchlichen, auch im institutionellen Sinne Vorschub leistet: „Das Christentum ist die Religion des fordernden, meine Subjektivität gleichsam aus sich herausrufenden Gottes erst dann, wenn es in einer Kirchlichkeit autoritativer Art mir entgegentritt.“ Ja, Rahner geht soweit, dass er über das Heil sagen kann, es sei „eben nicht nur durch eine subjektive Innerlichkeit gegeben und getragen (sein), dann muss diese Konkretheit Jesu Christi als die mich anfordernde mir in dem entgegentreten, was wir die Kirche nennen, die Kirche, die nicht erst ich bilde, die nicht erst durch meine Wünsche und religiösen Bedürfnisse konstituiert wird, sondern die in einer Sendung, einem Auftrag, einer Proklamation, die mir wirklich die Heilswirklichkeit präsent macht, entgegentritt.“

Man muss sehr sorgfältig beide Aspekte in der Verbindung dessen, was Karl Rahner das transzendentale und das kategoriale Moment nennt, in ihrer innersten Zusammengehörigkeit vor Augen haben. Es ist deshalb nicht zufällig, dass Karl Rahner dem Christlichen im umfassenden Sinn des Wortes einen Vorrang einräumt, ohne deshalb die Kirchlichkeit zu entwerten. Man kann dies durch alle Äußerungen Karl Rahners zu Glaube und Kirche weiterverfolgen. Es zeigt sich einerseits auch darin, dass die zentralen Aussagen Rahners zu diesem Bereich sich eher in den Passagen und Artikeln zum Christentum finden . Von da aus ist es wohl auch nicht zufällig, dass Rahner in beiden großen Werken nicht den Artikel „Kirche“ verfasst hat, den man freilich in den großen Artikel „Katholische Kirche“ aus dem Jahr 1959 im „Staatslexikon“, herausgegeben von der Görres-Gesellschaft, findet und den man nicht übersehen darf, da er „eine wertvolle Übersicht über Rahners Ekklesiologie in jenen Jahren darstellt.“ Wahrscheinlich empfindet Karl Rahner gerade deswegen auch die Notwendigkeit noch stärker, bei dieser inneren theologischen Ordnung nun eigens und intensiv eine „Legitimation der katholischen Kirche als der Kirche Christi“ aufzuzeigen. Vielleicht hat man bisher diese „indirekte Methode“ zu dieser Legitimation zu sehr übersehen. Dies gilt auch für ihr inneres Verhältnis zu Rahners ökumenischen Ausführungen, nicht zuletzt im Blick auf das Verhältnis zu den reformatorischen Kirchen.

III. Hinweise auf eine Lehrentwicklung in der Gnadentheologie

So ist nach der Markierung des Grundansatzes nochmals auf sein Bedeutung und auf seine Folgen zurückzukommen. Wir haben gesehen, dass Karl Rahner das Katholische sehr eng mit einer theologischen Entfaltung des allgemeinen, wirksamen Heilswillens Gottes verbindet. Dies mag im ersten Augenblick befremdlich erscheinen, hat aber durchaus miteinander etwas zu tun. Schon in der Väterzeit entsteht ja die Frage, ob „katholisch“ mehr „allgemein“ heißt im Blick auf die geographische Ausdehnung oder ob „katholisch“ eher mit Bezug auf die Rechtgläubigkeit der Kirche gemeint ist. In dieser Linie hält sich die Grundbedeutung im Sinne der Fülle und Universalität zwar durch, erfährt aber auch bald Weiterentwicklungen. „Katholisch“ wird zum Synonym für „wahr, echt, rechtgläubig“. Im frühen dritten Jahrhundert taucht das Wort in den Glaubensbekenntnissen auf. Später tritt das Element der geographischen Universalität stärker in den Vordergrund. Rahner sieht nun ohne exklusive Bindungen an den geographischen Aspekt allein die Universalität und konzentriert ihre Weite und Fülle auf den schon genannten „inneren qualitativen Aspekt“.

Dieser Aspekt deckt sich, wie schon aufgezeigt, mit einer Stärkung der theologischen Lehre vom allgemeinen Heilswillen Gottes. Dies ist von Anfang an eine besondere theologische Grundstruktur im Denken Karl Rahners und zeigt sich bereits in der ersten Vorlesung, die Karl Rahner im Wintersemester 1937/38 und im Sommersemester 1938 halten konnte. Am 1.7.1937 wurde Karl Rahner von der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck habilitiert. Im Juli 1938 wurde jedoch die dortige Theologische Fakultät von den Nationalsozialisten aufgehoben. Rahner las über zwei Semester vierstündig Gnadenlehre. Da die Umstände für ein ruhigeres Arbeiten für Rahner in Innsbruck damals ungünstig waren, wie K. H. Neufeld eingehender darstellt, hat Karl Rahner für seine Vorlesung vieles dem klassischen Lehrbuch „De gratia“ seines Lehrers P. Hermann Lange SJ entnommen. Man darf nicht unterschätzen, wie viel Karl Rahner dem Werk Langes und auch P. Lerchers entnommen hat. Hier müsste ein präziser Vergleich durchgeführt werden. Die markanten Unterschiede, die Karl Rahner später in der Gnadenlehre im Verhältnis zu Hermann Lange setzte, lassen leicht die Gemeinsamkeit übersehen.

Karl Rahner gab jedoch dieser ersten Vorlesung bereits ein eigenes Gepräge, was sich schon im ersten Text der Vorlesung „De Gratia Christi“ dokumentiert. Bei aller traditionellen Grundorientierung zeigen sich jedoch einige bemerkenswerte Akzente. Ich darf hier auf eine besonders wichtige und höchst verdienstvolle Arbeit zweier Autoren in dem schon genannten Werk „Der Denkweg Karl Rahners“ verweisen, in der diese erste Gnadenvorlesung näher analysiert wird. P. Rulands kann bei einem ersten Vergleich bereits formulieren: „Beim Blick auf Struktur und Aufbau der jeweiligen Traktate von Rahner, Lange und Lercher fällt sogleich – quasi als programmatische Setzung – die exponierte Stellung des universalen Heilswillens Gottes im ersten Kapitel (caput I) von Rahners Gnadenvorlesung auf.“ Während in den Gnadentraktaten dieser Zeit die Lehre vom Heilswillen Gottes eher ein nachträgliches kleines Kapitel darstellt, ist Rahners Ansatz bei aller Kontinuität mit seinen Vorgängern wirklich eine neue theologische Option.

Es ist erstaunlich, dass Karl Rahner bereits in dieser ersten Vorlesung und unter diesen schwierigen Umständen einen so grundlegenden neuen Schritt vollzieht, der auch später sein ganzes Denken kennzeichnen wird. W. Schmolly hat aufgezeigt, dass Karl Rahner dafür wichtige Vorarbeiten mitbenutzen konnte. Besonders wichtig ist dabei, dass nach Karl Rahner dieser allgemeine Heilswille Gottes in Jesus Christus und durch die Kirche die Menschen „berührt“, wobei leicht auch die mystische Sprache, derer sich Rahner hier bedient, erkennbar wird. Man darf auf die Edition des ja in mehreren Redaktionsstufen vorliegenden Gnadentraktates durch R. Siebenrock im Rahmen der „Sämtlichen Werke“ gespannt sein.

Karl Rahner hat besonders in der späteren Zeit, also in den 60er Jahren, diese Überlegungen noch vertieft und den allgemeinen wirksamen Heilswillen Gottes immer deutlicher als Grund einer universalen Heilshoffnung herausgearbeitet. Ein wichtiges Zeugnis für diese vertiefende Ergänzung ist der 1968 in überarbeiteter Form erschienene Artikel „Heilswille Gottes, allgemeiner“ in „Sacramentum mundi“. Der Fortschritt wird besonders erkennbar, wenn man diesen Artikel genauer mit der früheren Fassung im „Lexikon für Theologie und Kirche“ vergleicht. So heißt es z.B. in der Fassung von 1968: „Gott hat uns (in Jesus Christus und seiner erfahrenen Gnade) ermächtigt und verpflichtet, für alle Menschen, die wir lieben müssen ... und so für uns selbst das endgültige Heil zu hoffen. Damit ist der Heilswille Gottes zu bejahen, der und wie er in diesem Akt der Hoffnung gegeben ist.“

Man darf sicher davon ausgehen, dass Karl Rahner einerseits, wie die früheren Arbeiten erweisen, bereits vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Lehre von der Universalität des Heilswillens Gottes in dieser Richtung akzentuiert hat, dass aber auch die Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils selbst durch Karl Rahner direkt und indirekt einen starken Nachdruck erhalten haben, wie die schon zitierten Arbeiten von G. Wassilowsky eindeutig belegen. Offenbar hat aber dann das Konzil selbst mit seinen Aussagen vor allem über die Heilsmöglichkeiten auch der Nichtglaubenden Karl Rahner weiter in diese Richtung angespornt. Es handelt sich dabei besonders um die Aussagen in LG 16, GS 11-22, AG 2-9. Karl Rahner hat auch immer wieder auf diese Texte aufmerksam gemacht und sie eingehend interpretiert.

IV. Exemplarische Konsequenzen

Karl Rahner hat selbst diese universale Heilshoffnung zum Ausdruck gebracht mit dem Theologumenon vom „anonymen Christen“. Der Zusammenhang ist deutlich, wenn freilich auch das gewiss mehrdeutige Wort, das auch in einer zum guten Teil oberflächlichen Rezeption verschlissen worden ist, mehrere Missverständnisse ausgelöst hat. Ich brauche die wirkliche Deutung Karl Rahners an dieser Stelle nicht zu wiederholen. Das Werk von N. Schwerdtfeger, Gnade und Welt aus dem Jahr 1982, tut hier auch heute noch beste Dienste. Entscheidend ist die Einsicht, dass es nach Rahners Überzeugung eine Einladung Gottes zum Heil für alle Menschen gibt. Dies unterscheidet sich aber grundlegend von der Annahme einer „Allversöhnung“ durch die notwendige Entscheidungssituation, ob denn der Einzelne diese Einladung auch wirklich akzeptiert und realisiert. Karl Rahner hat sich zwar – vielleicht etwas zu spät im Blick auf die schon ergangenen Interpretationen – immer wieder um eine Korrektur missverständlicher Deutungen der „anonymen Christen“ bemüht, wie N. Schwerdtfeger überzeugend gezeigt hat, doch sind längst nicht alle, die sich auf ihn berufen haben, ihm in dieser differenzierten Deutung gefolgt.

Damit ist auch deutlich gemacht worden, dass die Lehre von der Universalität der Einladung Gottes zur Teilhabe am Heil den Auftrag zur Mission gerade nicht schwächt, sondern, wenn man die Struktur dieser Hoffnung recht versteht, eher stärkt. Dies müsste an den immer zahlreicher werdenden Aussagen Karl Rahners zur Notwendigkeit der Mission und eines stärkeren missionarischen Dienstes der Kirche von heute nachgewiesen werden, was in diesem Zusammenhang nicht möglich ist. Dies gilt auch für die innere Verbindung zwischen Mission und Katholizität im Sinne Karl Rahners. Von da aus wäre es nun möglich, alle Konsequenzen sichtbar zu machen, die Karl Rahner auch in den praktischen kirchlichen Fragen für heute zieht. Ich denke dabei besonders an die vielfältigen Ausführungen in der Praktischen Theologie, die sich in „Sendung und Gnade“, vor allem aber in den zum Teil soeben genannten Beiträgen zum „Handbuch der Pastoraltheologie“ (1964-1969) niedergeschlagen haben. Dies gilt nicht zuletzt auch schon für frühe Beiträge, in denen Rahner, letztlich von seiner Gnadentheologie her, immer wieder ein von der Kirche aus entstehendes Zugehen auf die Menschen fordert. Dies ist jedoch im Rahmen dieses Beitrags nicht mehr möglich. Ich verweise dabei auf die Texte Karl Rahners selbst und auf manche Interpretationen dazu.

Eine weitere Dimension von K. Rahners Denken über die Katholizitiät findet sich in der ökumenischen Reflexion. Im Zusammenhang des „Grundkurses“ ist früher schon kurz gesprochen worden. Es verwundert nicht, dass sich dazu nicht viele Texte finden, da Katholizität zunächst im Kontext des ekklesiologischen Kennzeichens (nota) und der Entfaltung des allgemeinen Heilswillens Gottes steht. Karl Rahner hat sich schon früh mit protestantischen Deutungen des „Katholizismus“ beschäftigt, allerdings ohne nennenswerte Ergebnisse zu unserem Thema. Einige wenige Hinweise finden sich in den Thesen zur „Einigung der Kirchen – reale Möglichkeit“, z.B. in der Überzeugung, dass die Trennung der Kirchen die Katholizität beeinträchtige, der wirksam werdende brüderliche Austausch jedoch ein „Ausdruck der größeren und intensiveren Katholizität“ sei. „Das Christliche und Katholische lebt nicht davon, dass das andere klein oder schlecht oder verächtlich gemacht wird, es hat vielmehr die Kraft einer universalen Anerkennung; es ist groß, indem es auch das andere groß zu sehen vermag.“ Es würde sich lohnen, diese Gedanken in Richtung von Rahners Überlegungen zum Verhältnis zwischen Religion, Kirchen und Kirche weiter zu verfolgen.

Auch wenn Karl Rahner sich nicht so intensiv wie andere Autoren einer unmittelbaren Neuinterpretation des klassischen ekklesiologischen Kennzeichens „katholisch“ gewidmet hat, so gibt es doch viele übereinstimmende Elemente mit anderen Entwürfen, die von H. de Lubac über Y. Congar bis zu H. U. von Balthasar reichen. Darum ist für alle evident, dass Einheit kein monolithischer Block ist, sondern eine Einheit, deren Ausdruck, nicht deren Gegensatz die lebendige Vielfalt ist.

Dies ist wiederum nur ein kleiner, unvollkommener und unvollständiger Ausschnitt aus Rahners reicher Gedankenwelt. Gerade an einem Lehrstück, das selbst weniger im Zentrum steht, sieht man die Fruchtbarkeit dieses Denkens. Das 100-jährige Jubiläum seiner Geburt und das Gedenken an seinen Tod vor 20 Jahren lehren uns, dass wir keinen Toten, sondern einen im Geist Lebendigen vor uns haben, der darum auch Zukunft hat.

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz