Zur Reform des Gesetzes über die Organspende

Gastkommentar des Bischof von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, in der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 3. Juni 2012

Datum:
Sonntag, 3. Juni 2012

Gastkommentar des Bischof von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, in der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 3. Juni 2012

Seit langer Zeit wird von verschiedenen Stellen aus, besonders auch von Politikern, um eine größere Bereitschaft zur Organspende geworben. Der Hintergrund ist offenkundig: Rund drei Viertel der Deutschen würden nach ihrem Tod ihre Organe zur Entnahme und Transplantation freigeben, doch nur 25 Prozent der Bundesbürger besitzen einen entsprechenden Ausweis. 12.000 Menschen warten auf ein Organ, meist eine Niere. Täglich sterben drei Patienten, die auf der Warteliste stehen.

Die politischen Parteien in Berlin haben sich über lange Zeit um ein gemeinsames Vorgehen bemüht. Es ist hoch anzuerkennen, dass man in einer so sensiblen Sache nicht Parteimeinungen gegeneinander aufbaute und auch keinen Fraktionszwang bei der Abstimmung verordnete. Um so dankbarer darf man sein, dass die Reform der Organspende mit einer so hohen Einmütigkeit beschlossen werden konnte. Die breite Zustimmung ist ein wichtiges Signal.

Dabei ist der deutsche Gesetzgeber im Vergleich zu anderen Ländern einen eigenen Weg gegangen. Künftig sollen alle Bürger ab 16 Jahren regelmäßig von den Krankenkassen die Aufforderung erhalten, sich mit der Frage nach ihrer Bereitschaft zur Organspende auseinanderzusetzen. Auch die Behörden sollen bei der Ausgabe neuer Pässe, Personalausweise und Führerscheine aufklärende Informationen beifügen. Die Bereitschaft soll künftig auf der neuen elektronischen Gesundheitskarte vermerkt werden, die aber vermutlich erst ab dem Jahr 2017 ausgestellt werden kann. Der Gesetzesentwurf zur Änderung des Transplantationsgesetzes sieht z. B. in den Kliniken mit Intensivstationen einen Transplantationsbeauftragten vor. Andere Bestimmungen, z. B. Hilfen für Lebendspenden, dürfen hier außer Betracht bleiben.

Die verabschiedete Regelung kann man als Entscheidungslösung bezeichnen. Sie sieht vor, dass sich jeder aktiv mit der Frage der Organspende beschäftigen muss, ob er spendet oder nicht. Es drohen auch keine Konsequenzen, wenn keine Entscheidung getroffen wird. Die neue Regelung lässt durchaus zu, dass Menschen sich zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht entscheiden können oder wollen.

Man darf allen danken, die diese gemeinsame Lösung vorbereitet und ermöglicht haben. Trotz der Dringlichkeit der Bereitstellung einer größeren Zahl von Spenderorganen wird die Freiheit der Entscheidung des einzelnen Menschen gewahrt.

Dies hat freilich Konsequenzen für den Umgang mit dem Thema überhaupt und eben auch mit der getroffenen Entscheidungslösung. Oft ist nämlich in den vergangenen Jahrzehnten ein moralischer Druck auf die Bürger ausgeübt worden, der in einer so hochsensiblen Frage schlechterdings unangebracht ist. Dies ging gerade auch im Blick auf die Christen manchmal so weit, dass die ausdrückliche Zustimmung zur Organspende zum Gradmesser der Nächstenliebe erklärt wurde. Gewiss kann die Organspende ein Zeichen für Mitmenschlichkeit und Solidarität sein. Wer sich aber - aus welchen Gründen immer - dazu nicht bereit zeigt, darf deswegen nicht diffamiert werden. Die Reform unterstützt die Freiheit nach beiden Seiten hin. Die Kirchen haben immer darauf bestanden, dass die Organspende ein Ausdruck und ein Zeichen der Nächstenliebe sein kann.

Sensibilität tut auch künftig in der ganzen Frage not. Die Kluft zwischen der hochgradig erklärten Spendenbereitschaft und dem tatsächlichen Besitz eines Spenderausweises ist riesig groß und gibt zu denken. Es gab oft wenig sensible Berichte in Richtung einer Mehrfachentnahme von Organen und Körperteilen. Das Horrorwort vom „Ausschlachten" machte die Runde. In einzelnen Fällen wurde auch die Pietät gegenüber Toten verletzt. Hinzu kommen Diskussionen über Organhandel, finanzielle Entschädigung und angebliche Unregelmäßigkeiten bei der Verteilung. Auch darf man nicht übersehen, dass in nicht wenigen Bereichen eine neue Diskussion über den sogenannten „Hirntod" entstanden ist, auch in der Ethik und in den Kirchen. Dies alles mahnt zur Behutsamkeit und zum Respekt, auch und gerade gegenüber Andersdenkenden.

Jedenfalls muss die neue Regelung diese bleibenden Einwände und Bedenken vieler Menschen geduldig wahrnehmen. Das notwendige Vertrauen der Menschen in die Organspende darf nicht beeinträchtigt werden. Jeder noch so gut gemeinte Druck wirkt negativ. Hier muss wirklich die freie Entscheidung der Menschen angesprochen und ermutigt, aber auch respektiert werden.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz