Gastkommentar in der Kirchenzeitung "Glaube und Leben" am 9. Oktober 2011
Kaum war der Papst am 25. September abgeflogen, begann sofort die Beurteilung seines Besuchs. Ja, schon vorher waren sich viele sicher, es sei eher ein Misserfolg. Warum eigentlich? Die meisten beurteilten die Reise nach den in den Medien aufgebauten Erwartungen, die fast durchweg die seit Jahrzehnten bekannten Reformthemen betrafen, die ich jetzt nicht wiederholen muss.
Nun sind Papstreisen schon seit dem ersten Pastoralbesuch des seligen Papstes Johannes Paul II. im Jahr 1980 immer wieder unter falschen Erwartungen und einem entsprechenden Druck gestanden. Auch wenn man von Seiten der Kirche sich diesen Maßstäben widersetzt hat, konnte der Trend einer Beurteilung nach den genannten Kriterien kaum gebrochen werden.
Hier muss man aber zuerst fragen, was der Papst mit einem solchen Besuch wollte. Er hat es unmittelbar nach der Ankunft in Berlin gesagt, dass er den Menschen begegnen und mit ihnen zu Gott beten möchte. Beides hat der Papst in reichem Maße getan. Die großen Gottesdienste haben nicht nur viele Menschen vor Ort angezogen. Viele konnten auch europaweit an den Bildschirmen mitfeiern. Die Gottesdienste waren durchweg gut vorbereitet. Es war erstaunlich, wie gesammelt die Menschen auch bei so großen Veranstaltungen sein können. Dies gilt gerade auch für die Gottesdienste mit jungen Menschen.
Der Papst hat nichts unterlassen, um Menschen zu begegnen und sie vor allem durch seine Verkündigung des Evangeliums, aber auch durch sein öffentliches Wort zum Christsein und zu ihren Lebensaufgaben zu ermutigen. Dies waren nicht nur die Katholiken und die übrigen Christen, sondern es erstreckte sich auch auf die Juden und die Muslime, ja, auf alle Suchenden. Er hat dabei jeden Einzelnen im Blick, aber auch die großen Institutionen außerhalb der Kirche, allen voran den Deutsche Bundestag.
Die Erwartungen türmen sich bei solchen Pastoralbesuchen, besonders in unserem Land, immer wieder beim Thema Ökumene. Der Papst konnte gar nicht einlösen, was im Vorfeld und noch während dieser Tage von ihm gefordert war. Er hat auf die wahren Fortschritte der Ökumene aufmerksam gemacht, dafür auch gedankt und vor allem die gemeinsame verbindende Mitte des christlichen Glaubens als Grund und Maß allen weiteren Fortschritts herausgestellt. Dies ist nicht wenig, wie ein so nobler und verdienstvoller Mann wie der ehemalige Ratsvorsitzende und Landesbischof Eduard Lohse in der FAZ (4.10.2011) feststellte. Vielleicht hätte hier manches, auch in der äußeren Regie, noch besser gemacht werden können. Warum wurde z. B. die ökumenische Begegnung im Kapitelsaal des Augustinerklosters in Erfurt, als der Papst auch Martin Luther würdigte, nicht direkt im Fernsehen und im Radio wiedergegeben, da ja ohnehin schon aus Zeitgründen kein Gespräch möglich war? Dies war eine verpasste Chance, zumal die anschließende Predigt des Papstes beim ökumenischen Gottesdienst davon kaum mehr etwas aufgriff. Es gab aber auch für die Ökumene so viele positive Anstöße, dass man nicht von einem Misslingen oder gar von einem Scheitern der Begegnung reden kann.
Wenn man auf die Maßstäbe und Kriterien der üblichen Beurteilung stößt, kann man sich nur wundern. Da wird erwartet, der Papst könne mit einem Federstrich alle ökumenischen Probleme lösen. Plötzlich mutet man dem Papst eine absolute Souveränität und eine Allmacht zu, die ganz unkatholisch wäre. Für alle diese Fragen sitzen seit Jahren theologische und kirchenamtliche Gremien an der Arbeit. Vieles ist als Zwischenergebnis und als Angebot schon veröffentlicht, aber nicht von der verantwortlichen Kirchenleitung verbindlich rezipiert, wie es z. B. die Vereinbarung über die Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre vom 31. Oktober 1999 in Augsburg ist. In vielem muss die nüchterne Arbeit, besonders auch einzelner Theologen, weitergehen, z. B. über das Kirchesein und die verschiedenen Dienste und Ämter in der Kirche. Ich möchte keinen Papst haben, der diese Arbeiten, aber auch die noch offenen Fragen aus Anlass eines Besuches einfach mit einer einseitigen Entscheidung übergeht. Der Papst berücksichtigt das Denken und Arbeiten der Kirche an diesen Fragen. Der Basta-Papst ist nicht das wahre katholische Bild des Petrusnachfolgers. Plötzlich wollen sogar angeblich Liberale einen solchen autoritären Papst! Gott bewahre uns davor.
Ein Papstbesuch kann gewiss auch einmal dem feierlichen Abschluss solcher ökumenischer Gespräche und Untersuchungen dienen. Dies ist schon oft geschehen. Aber einen Pastoralbesuch kann man nicht nach solchen willkürlichen Erwartungen beurteilen.
Für die Katholiken ist jedenfalls der Besuch im Sinne der geistlichen Fruchtbarkeit gelungen. Wenn man nicht ganz zufrieden ist mit den ökumenischen Erwartungen, dann sollten wir alle uns bemühen, aus den Anstößen, die der Papst auf jeden Fall auch hier gegeben hat, uns zu größeren Bemühungen bewegen lassen. Sonst kommt mir die Beurteilung eines solchen Papstbesuches vor, wie wenn selbsternannte Zensoren auf einer Strichliste abhaken, was der Schüler geleistet hat und wo er durchgefallen ist. Gegen ein solches Papst- und Kirchenbild müssen wir uns energisch wehren.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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