Zur Zukunft der Europäischen Verfassung. Perspektiven aus christlicher Sicht

Datum:
Montag, 27. September 2004

Vortrag beim St. Michael-Jahresempfang des Kommissariates der deutschen Bischöfe am 27. September 2004 in der Katholischen Akademie in Berlin

Immer wieder haben wir uns auch von kirchlicher Seite mit dem Vertrag über eine Verfassung für Europa beschäftigt. Dabei spielte die Frage nach der Gestaltung der Präambel eine zentrale Rolle. Auch im Rahmen des St. Michael-Jahresempfangs - und darum auch in diesem Raum - haben wir uns mehrfach damit beschäftigt, nicht zuletzt durch den Vortrag von Bischof Dr. Josef Homeyer, dem Präsidenten der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (ComECE), im vergangenen Jahr. Mit der politischen Einigung der Staats- und Regierungschefs auf einen EU-Verfassungsvertrag ist am 18. Juni 2004 eine gewichtige Etappe der Europäischen Verfassungsdebatte zum Abschluss gekommen.

Dieser Prozess war verhältnismäßig kurz. Nach dem Vertrag von Nizza am 9. Dezember 2000 setzte eine Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union ein, die sehr bald den Charakter einer Verfassungsdebatte annahm. Mit der Erklärung von Laeken vom 15. Dezember 2001 setzten die Staats- und Regierungschefs den Europäischen Konvent zur Erarbeitung eines Verfassungsentwurfes ein. Am 28. Februar 2002 nahm der Konvent unter dem Vorsitz des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d´Estaing seine Arbeit auf. Am 13. Juni 2003 hat der Europäische Konvent darüber einen weitgehenden Konsens erzielt. Am 20. Juni 2003 konnte der Vorsitzende dem Europäischen Rat in Thessaloniki den Textentwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa übergeben.

Der Weg ist jedoch noch längst nicht durchschritten, auch wenn das Interesse für einen Verfassungstext nach den genannten Entscheidungen seit dem 18. Juni eher erlahmt ist. Die nächsten Etappen sind jedoch schon vorgezeichnet. Der Text wird zurzeit in eine endgültige Gestalt gebracht (mit ca. 12 Übersetzungen). Der EU-Verfassungsvertrag wird am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet. Er soll dann in den folgenden Monaten von den einzelnen Mitgliedsstaaten ratifiziert werden. Ich möchte vermuten, dass dieser Weg, vor allem auch durch die Frage nach einem Referendum in einzelnen Staaten, sehr viel länger sein wird und wohl auch mit erheblichen Ungewissheiten belastet ist.

 

Wir haben von kirchlicher Seite aus immer wieder das Entstehen eines Verfassungsvertrags begrüßt. Immer wieder haben wir auch zu den Beratungen des Europäischen Konvents Stellung bezogen. Auch wenn die Kirchen über das Ausbleiben eines Gottesbezugs und/oder eines Hinweises auf die biblisch-christlichen Wurzeln Europas enttäuscht waren und darum auch im Einzelnen zu verschiedenen Bewertungen kamen, so bleibt es doch bei einem klaren Ja zum Verfassungstext. Es ist ein großes Ereignis, das man kaum überschätzen kann. Hier wurde die Tür für die nachfolgenden Generationen und die Zukunft Europas weit aufgestoßen. Freilich gibt es in weiten Teilen der Öffentlichkeit immer noch eine skeptische, missmutige und pessimistische Europahaltung. Es muss gelingen, diese ermüdende Resignation anzuhalten, auch wenn die Stimmung damit noch nicht in eine Begeisterung für dieses neue Europa mündet oder umschlägt.

Dies ist mit ein Grund, warum auch die Kirchen sich durch das Scheitern der Initiativen zur Präambel nicht zu einem Rückzug verführen lassen dürfen. Es bleibt die nicht nur politisch hochbrisante Frage nach der kulturellen Identität Europas. Diese Frage hat an Gewicht gewonnen, und zwar einerseits durch die wachsende Dynamik der Globalisierung und anderseits durch verschiedene Auseinandersetzungen, wie der Streit um die Gestaltung des Ausländerrechtes und speziell um das „Kopftuch“ in aller Deutlichkeit zeigt.

Es ist auch notwendig, dass die Christen und die Kirchen sich künftig mit der Gestalt und den Folgen des Verfassungsvertrages beschäftigen. Immerhin hieß es in einem Entwurf der Präambel: „Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind...“ In der heute gültigen Fassung heißt es: „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben.“ Auch wenn die Nennung „nur“ des vieldeutigen „religiösen Erbes“ für die Christen und die Kirchen enttäuschend ist, so geht es nun auch darum, dieses Erbe, das in ganz hohem Maß von der Bibel, dem Judentum und dem Christentum bestimmt ist, zu konkretisieren und sich zu Eigen zu machen.

Schließlich gibt es viele einzelne Themen, besonders in der „Charta der Grundrechte der Union“ (Teil II), die eine vertiefte Beschäftigung herausfordern und nahe legen. In der Perspektive der Kirchen und Religionsgesellschaften ist dabei der Artikel I-52 (bisher 51) zu beachten. Unter dem Titel „Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften“ heißt es nun in drei Absätzen: „1. Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. 2. Die Union achtet in gleicher Weise den Status, den weltanschauliche Gemeinschaften nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften genießen. 3. Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.“ Dadurch dass die Erklärung Nr. 11 aus dem Anhang des Vertrags von Amsterdam in den Hauptteil des Verfassungsvertrages aufgenommen wird, bekommt er erstmals unmittelbare Rechtswirkung.

Von grundlegender Bedeutung ist der dritte Absatz, da er erstmals in einem EU-Vertragstext die besondere Identität und den eigenen Beitrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften anerkennt und ausdrücklich einen Dialog der Europäischen Union mit ihnen vorsieht. Dabei ist die Abgrenzung zum Dialog mit der so genannten Zivilgesellschaft, der von den Artikeln 46 und 47 geregelt wird, von großer praktischer Wichtigkeit. Die Kirche ist kein beliebiger Verein. Die Kirche wird durch diese ausdrückliche Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags ihr Verhältnis zur EU auf der Grundlage dieser Norm von Verfassungsrang gestalten können. Dabei ist es wichtig, dass es sich um einen „offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog“ handelt, der nicht gewissen Zufällen und Launen ausgeliefert bleibt. Aber auch im Blick auf andere grundlegende Strukturen, wie die zentrale Stellung der Menschenwürde und den Schutz der Religion in der integrierten Grundrechtscharta, verdient der Vertrag, der auch eine größere Verständlichkeit gewonnen hat, grundsätzlich eine positive Einschätzung. Man darf nicht den immer wieder vorkommenden Fehler machen und nach dem Scheitern einer gewiss wichtigen Initiative viele andere positive Ansätze gar nicht mehr sehen oder mindestens in ihrem Gewicht unterschätzen.

Es gibt im Verfassungstext viele Themen, die der weiteren Beachtung bedürfen. Wir wollen ja nicht nur auf die kirchlichen Belange blicken, wie es partikulären Interessen entsprechen würde. Es geht vor allem auch um die Frage der Verwurzelung und Verankerung vieler Aussagen. In dieser Hinsicht lassen sich folgende Stichworte nennen: Achtung der Menschenwürde und Wahrung der Menschenrechte, Wahrung des Friedens, Rolle der sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, Beseitigung der Armut, Förderung der Rechte des Kindes, Wahrung des Reichtums der kulturellen Vielfalt und des kulturellen Erbes Europas, die Rolle der Sozialpartner, die zentrale Funktion der Subsidiarität, das Verbot von Folter und Menschenhandel, aber auch jeglicher Selektion. Deutlich ist auch der Hinweis auf die Religionsfreiheit, wenngleich hier die Betonung der negativen und positiven Dimension nicht zuletzt auch der korporativen Religionsfreiheit deutlicher sein könnte. Beachtenswert ist gewiss auch die klare Aussage hinsichtlich des Rechtes auf körperliche und geistige Unversehrtheit, mit dem Verbot des reproduktiven Klonens.

Freilich gibt es auch zusätzliche bleibende Unklarheiten. So heißt es zwar klar: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben“. Aber es ist hier völlig offen gelassen, wann das menschliche Leben beginnt. Wie prekär die Situation ist, geht aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für die Menschenrechte vom Juli d.J. hervor, der entschieden hat, ab welchem Zeitpunkt das Leben beginne, liege im Ermessensspielraum der einzelnen Staaten. Eine europaweit einheitliche Linie gäbe es nicht. Man könne nicht auf die Frage antworten, ob ein Embryo eine „Person“ im Sinne des Artikels 2 der Menschenrechtskonvention sei, der das „Recht auf Leben“ der menschlichen Person schützt. Weniger zufriedenstellend sind auch die Aussagen über Ehe und Familie. Es ist von der Achtung des Privat- und Familienlebens die Rede, vom Recht des Einzelnen, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen. Dies soll aber – ähnlich übrigens wie das Elternrecht – nach den einzelstaatlichen Gesetzen geregelt werden. Auch wenn hier vieles begrüßenswert ist, wie das Verhältnis von Familie und Berufsleben sowie die Unterstützung der Frau in der Zeit der Mutterschaft und auch danach, so mangelt es doch an einer deutlichen Aussage zur grundsätzlichen Stellung von Ehe und Familie.

Es war zu erwarten, dass der Verfassungstext immer wieder auf gewisse Grundformeln zurückkommt. So ist oft von der Vielfalt der Sprachen, Religionen und Kulturen die Rede. Eine Gefahr, der man immer wieder entgegentritt, ist die Diskriminierung, die freilich oft abstrakt und formelhaft angeführt wird. Es war auch zu erwarten, dass bei der Neutralität gegenüber den einzelnen Religionen und gegenüber einem konkreten Ethos von Anfang an eine Berufung allgemein auf die Werte erfolgt. Schon auf der ersten Seite, im ersten Artikel heißt es programmatisch: „Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, sie gemeinsam zu fördern.“ Es ist unmittelbar danach (vgl. Art. 2) von den „Werten der Union“ (so der Titel) die Rede. „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Unmittelbar danach heißt es: „Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.“ (Art. 3 Abs. 1)

Die jahrelange Diskussion über Tauglichkeit und Untauglichkeit des Wertebegriffs, vor allem im Kontext der Auseinandersetzung um die „Grundwerte“ und der Disput der letzten Jahre und besonders in jüngster Zeit um die „Menschenwürde“, wird gewiss auch noch den Text des Verfassungsvertrags erreichen. In der Tat kann man der Begründung vieler Rechte nicht so ausweichen, wie es geschieht. Warum Leben in jedem Einzelfall geschont werden muss, und Folter sich um jeden Preis verbietet, muss auch glaubwürdig begründet werden können. So lässt sich nach meinem Urteil die Frage der kulturellen Identität des neuen Europa nicht aufhalten. Heute erst recht nicht mehr. Gerade im Lichte konkreter Fragen und Anfragen, wie z.B. dem Urteil des Menschenrechtsgerichtshofes, kann man in zentralen Fragen der Menschenrechte sich nicht mit dem Hinweis auf einzelstaatliche Gesetze und den allgemeinen Pluralismus begnügen. Die Fragen sind unabweisbar, gerade auch im Blick auf die neu zur Europäischen Union hinzugekommenen Menschen und Nationen, nicht zuletzt aus dem Osten: Was hat Europa zu bieten? In welches Europa kommen wir denn? Man wird auch eine deutlichere Antwort geben müssen auf die Versprechungen und Forderungen, man wolle mit der Verfassung einen Raum und ein „günstiges Umfeld“ eröffnen, in dem sich „die Hoffnung der Menschen“ entfalten könne (vgl. Präambel). Ähnliches gilt für Präzisierungen, die notwendig sind. An mehreren Stellen werden soziale Gerechtigkeit, sozialer Schutz sowie eine wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft versprochen. Unter welchen Bedingungen kann die soziale Kultur, wie sie besonders viele mitteleuropäische Länder auszeichnet, ganz gewiss auch die nordischen Länder, unter geänderten Rahmenbedingungen erhalten werden, besonders im Zeitalter der Globalisierung und der demografischen Entwicklung mindestens bei uns. Es gibt im Sozialrecht gewiss anerkennenswerte Normen, wie z.B. den Schutz für behinderte Menschen. Aber die Stellung der Wohlfahrtsverbände, wie sie bei uns heißen, und der sozialen Hilfen bietet noch manche Probleme. So geistern offenbar in Brüssel immer noch Ideen herum, karitativ-diakonische Einrichtungen wie Wirtschaftsunternehmen zu behandeln. Dies muss in Einklang gebracht werden mit den etwas vollmundigen Erklärungen für die Unterstützung der Schwachen und Schwächsten in unserer Gesellschaft.

Es gibt also für die Kirchen und die Christen – und dies ist ein wesentliches Ziel meiner Ausführungen – genügend Aufgaben. Sie beginnen beim grundsätzlichen Eintreten für eine europäische Verfassung. Sie betreffen Präzisierung und Fundierung zentraler Grundrechte. Sie können aber auf die Dauer auch klarere Umschreibungen der kulturellen Identität des neuen Europa nicht außer Acht lassen.

So bin ich auch überzeugt, dass die Frage nach der Gestaltung der Präambel noch nicht ganz erledigt ist. Die Politik kann sich auch und gerade bei der Dominanz im Zeichen der Kompromisssuche dem weiteren Nachdenken und einer Konsensbildung nicht verschließen. Die Sache einer wirklichen Konsensbildung auf europäischer Ebene, nicht zuletzt auch im Blick auf den Beitritt anderer Länder, vor allem der Türkei, lässt sich nicht verhindern. In dieser Hinsicht ist die jetzige Präambel bei allen einzelnen guten Perspektiven im Blick auf die wahre Geschichte Europas und die geistigen sowie spirituellen Anforderungen in der Gegenwart zu dünn und intellektuell zu schwach, nicht nur unter religiösen und kirchlichen Gesichtspunkten.

Ich bin überzeugt: Res venit iterum ad Dominum. Die Sache kommt wieder zum Souverän zurück, und sei es in der Form der Beschäftigung der Gerichte. Es geht sicher nicht um eine unveränderte Neuauflage der bisherigen Präambeldiskussion. Wir stehen an einem anderen geschichtlichen Ort. Man steigt nicht zweimal an derselben Stelle in denselben Fluss, sagt schon das früheste europäische Denken. Aber die Aufgabe entlässt uns nicht. Dann packen wir es doch selbst rechtzeitig an, denn der gemeinsame Weg hat mit dieser Verfassung eine wichtige Etappe erreicht, aber er geht weiter. Daran wollte ich an diesem Abend erinnern.

 

(C) Karl Kardinal Lehmann

es gilt das gesprochene Wort

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz