In seinem diesjährigen Hirtenwort zur Österlichen Bußzeit, das am Samstag, 5. März, veröffentlicht wird, beschäftigt sich der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf mit dem Thema Berufung. Die Berufungsgeschichte des Samuel bildet die Grundlage. „Gott spricht zu den Menschen. Er hat an jedem einzelnen Menschen Interesse und geht aus freiem Willen auf diesen Menschen zu, mit einer konkreten und einzigartigen Berufung“, schreibt Kohlgraf. In seinem jährlich erscheinenden Hirtenbrief greift der Bischof in der Regel grundsätzliche geistliche und theologische Fragen auf. Der Hirtenbrief wurde auch in diesem Jahr langfristig vorbereitet und vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine verfasst. Er soll die Gläubigen durch die gesamte Fastenzeit begleiten.
Liebe Schwestern und Brüder im Bistum Mainz!
„Hier bin ich, du hast mich gerufen“ (1 Sam 3,5)
Dieses Wort aus dem 1. Buch Samuel stelle ich an den Anfang meines diesjährigen Fastenhirtenbriefs. Der junge Samuel versieht seinen Dienst im Tempel unter der Aufsicht des Priesters Eli. Es ist eine Zeit, in der „Worte des HERRN“ (1 Sam 3,1) selten waren. Es braucht den erfahrenen alten Eli, um Samuel zu helfen, den Ruf Gottes als sein persönliches Wort an ihn deuten zu können. Schließlich muss Samuel seine persönliche Antwort geben. Diese besteht nicht in einer einmaligen Bereitschaftserklärung, sondern in der Bitte: „Rede HERR, denn dein Diener hört“ (1 Sam 3,10). Im weiteren Verlauf der Erzählung wird schnell klar, dass dieses „Hören“ etwas Aktives und Lebenslanges ist: „Samuel wuchs heran und der HERR war mit ihm und ließ keines von all seinen Worten zu Boden fallen.“ (1 Sam 3,19)
Die folgenden Gedanken mögen Ihnen Mut machen, mit Gott und seinem Ruf zu rechnen.
Gott spricht zu den Menschen. Diese Aussage ist für die Texte der Heiligen Schrift eine Selbstverständlichkeit. Sie setzt einen persönlichen Gott voraus, einen Gott, der in Beziehung zum Menschen tritt. Gott ist ein „DU“, ein Gegenüber des Menschen. Er hat an jedem einzelnen Menschen Interesse und geht aus freiem Willen auf diesen Menschen zu, mit einer konkreten und einzigartigen Berufung. Gottes Sprechen ist so individuell, wie es der einzelne Mensch ist. Es gibt die Erfahrung eines Sprechens Gottes, das von einem Augenblick auf den anderen die Lebensrichtung radikal ändert.
Das prominenteste Beispiel für eine überraschende Berufung ist wohl der Apostel Paulus (Apg 9,1–22). Er ist ein treuer Kenner des Gesetzes, er eifert für seinen Glauben. Dieser Eifer treibt ihn dazu, die Anhänger des „neuen Weges“, die sich zu Christus als dem Messias bekennen, zu verfolgen. Sogar beim Mord an Stephanus ist er anwesend und hält diesen Mord für gut (Apg 8,1). Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt. Auf dem Weg nach Damaskus trifft ihn ein Licht, und er hört eine Stimme, die ihn fragt: „Warum verfolgst du mich?“ (Apg 9,4). Die Stimme ist die Stimme Jesu selbst (Apg 9,5). Paulus ändert von einem Moment auf den anderen sein Leben. Nicht nur die Apostelgeschichte schildert diese umwälzende Berufungserfahrung. Auch Paulus selbst berichtet ausführlich davon in seinem Brief an die Gemeinden in Galatien (vgl. Gal 1,10–24). Eines ist für ihn klar: Er ändert seine Haltung nicht aufgrund eines langen inneren Ringens oder moralischer Skrupel. Vielmehr treffen ihn das Licht und die Stimme Jesu, unverwechselbar und unausweichlich. Diese Erfahrung ist wohl nur schwer in Worte zu fassen, aber es handelt sich um eine einmalige Berufung: „Vor Damaskus wurde nicht ein gequälter Mensch aufgerichtet, sondern ein selbstgerechter niedergeworfen durch die Selbstoffenbarung Jesu.“[1] Von diesem Augenblick speist sich dann seine gesamte Verkündigung aus der Barmherzigkeit Gottes in Jesus Christus, der sündige Menschen beruft, nicht aufgrund religiöser oder moralischer Leistung, sondern aus Gnade. Die Theologie des Paulus beruht auf Berufung und Erfahrung, nicht auf Spekulation.
Mancher in der langen Geschichte Gottes mit den Menschen kann von etwas Vergleichbarem berichten. Es handelt sich dabei keineswegs nur um religiös besonders sensible Menschen, wie man vielleicht meinen könnte. Ich erinnere an ein Beispiel aus jüngerer Zeit: Der französische Journalist und Essayist André Frossard (1915–1995) hat in einem Buch[2] seine Glaubenserfahrung und Berufung dargestellt. An einem Tag des Jahres 1935 geht der junge Mann um 17:10 Uhr in eine Kirche in Paris, um auf einen Freund zu warten. Er bezeichnet sich selbst als religiösen Skeptiker und Atheisten, ja als religiös absolut gleichgültig. Fünf Minuten später tritt er aus der Kirche, erfüllt von einer unbeschreiblichen Erfahrung der Freude. Er lässt sich taufen und wird bekennender Katholik. Es ist ihm wichtig zu betonen: Nichts hat ihn auf diese Erfahrung vorbereitet. Die göttliche Liebe hat ihn aus freien Stücken unvermittelt getroffen und berufen.
Skeptiker werden sich von beiden Erfahrungen vielleicht nicht überzeugen lassen; sie werden nach psychologischen Gründen für diese religiöse Entwicklung suchen. Ich fürchte, dass solche Erklärungen hier scheitern. Paulus und André Frossard sind offenbar nicht psychisch krank, und beide gehen aus ihrer Erfahrung der Berufung als starke Persönlichkeiten hervor. Als glaubender Christ bleibt mir nur das Bekenntnis: Gott spricht offensichtlich zu Menschen, konkret, unüberhörbar und umwälzend. Gott kann dies nur, weil er lebendige Person ist, ein „DU“, kein Konstrukt des gottsuchenden Menschen, keine Projektion unerfüllbarer Wünsche. Es ist realistisch, mit ihm zu rechnen. Kein Atheist sollte sich in seiner Ablehnung Gottes zu sicher sein. Aber auch der Glaubende „besitzt“ Gott nicht. Gott tritt aus Freiheit von außen auf den Menschen zu. Er ist nicht das Instrument des Menschen, sondern der Mensch steht in seinem Blick.
[1] Ernst Dassmann, Kirchengeschichte I, Stuttgart, Berlin, Köln 1991, 48.
[2] André Frossard, Gott existiert. Ich bin ihm begegnet, Augsburg 2013 (deutsche Erstveröffentlichung 1970).
Es gibt andere Berufungserfahrungen. Immer wieder erzählt die Bibel von Menschen, die Gottes Stimme hören. Denken wir an Abraham und Sarah, die Stammeltern des Glaubens. Gott ruft sie aus der Heimat in eine ungewisse Zukunft, aber mit einer wunderbaren Verheißung. Wie Abraham Gottes Stimme hört, wissen wir nicht. Ich schließe nicht aus, dass es sich um lange Prozesse des Betens, Ringens und zunehmender Gewissheit gehandelt haben könnte. Dabei wird auch seine Frau eine entscheidende Rolle gespielt haben. Auch so kann Gott sprechen, und für die meisten glaubenden Menschen wird dies die Form sein, über die eigene Berufung nachzudenken und sie für sich zu erkennen. Aber auch hier steht das Suchen und Ringen im Zusammenhang einer persönlichen Beziehung zu einem lebendigen Gott, der den einzelnen Menschen ganz persönlich meint, und auf dessen Ruf er oder sie persönlich antworten muss.
Mir scheint eine dritte Form der Gottesnähe wichtig, weil sie für viele Menschen die überwiegende Form der Gotteserfahrung sein kann. Auch für glaubende Menschen verbirgt sich Gott, er bleibt im Dunkeln. Vor wenigen Jahren sind die Tagebücher der Mutter Teresa erschienen. Sie berichtet darin, dass sie über viele Jahre ihres Lebens Gott als großes Dunkel erfahren hat, im besten Fall als tiefe Sehnsucht, aber eben auch als denjenigen, der sie in der inneren Finsternis belässt. Glaube hat sich bei ihr mit tiefer Traurigkeit, ja sogar Depression, verbunden. Dieses Dunkel war für sie aber wohl die Motivation, sich dem leidenden Menschen in seiner Lebensdunkelheit zuzuwenden – auch das ist eine Form der Berufung. Wenn Berufung aus der Freiheit Gottes heraus geschieht, dann werden wir kein Schema nach unserm eigenen Belieben erstellen können. Wir werden mit Gottes Freiheit, mit seinem Anruf rechnen müssen. Und auch im Schweigen ist er da. Kurzum: für jeden Menschen hat Gott offenkundig eine eigene Idee, eine eigene Lebensmelodie. Es gilt, diese zu hören und in die Praxis umzusetzen. Wenn Gott ein „DU“ ist, dann ist jeder Mensch ein Gegenüber für ihn, auf das er nicht verzichten will. Das macht die Größe und Würde jedes Menschen aus.
Die Geschichte von Samuel ist uns so nahe, weil auch in unserer Zeit Worte des Herrn genauso selten zu sein scheinen wie damals. Es ist hilfreich wahrzunehmen, dass es immer wieder derartige Zeiten gab. Berufungen kann man nicht machen und die Stimme Gottes nicht herbeizwingen. Seine scheinbare Abwesenheit muss man im Glauben auch aushalten. Und dennoch erinnert uns etwa das Zweite Vatikanische Konzil daran, dass es für jeden Menschen eine individuelle Berufung gibt – eine Berufung zum wahren Menschsein (Gaudium et Spes 3). Jeder Mensch ist berufen, am Aufbau einer geschwisterlichen Welt mitzuarbeiten. Diese Berufung ist die Grundlage des Menschseins, unabhängig davon, ob jemand sich als Christ oder Christin versteht oder nicht. Die Grundlage dafür ist, dass jeder Mensch Ebenbild Gottes ist.
Die Taufe ruft den Menschen in die ausdrückliche Beziehung mit Christus in der Gemeinschaft der Kirche. Heute ist wohl den wenigsten bewusst, dass Taufe eine Berufung ausspricht: Der Empfang des Sakraments ist eine persönliche Antwort auf eine individuelle Berufung. Wenn heute die Volkskirche und damit der selbstverständliche Taufempfang ans Ende kommt, kann das auch eine Chance sein, die Taufe erneut als eine eigene, bewusste Entscheidung und Glaubensantwort verstehen zu lernen.
Die Gemeinschaft der Glaubenden, die Kirche, ist heute in Frage gestellt, natürlich auch, weil sie in vielem versagt hat. Dennoch, wie in Zeiten des Samuel und des Priesters Eli, braucht es Menschen, die zu Begleiterinnen und Begleitern werden, um die eigene Berufung erkennen und die Stimme Gottes für das eigene Leben verstehen zu können. Das ist der tiefste Sinn einer Glaubensgemeinschaft: gemeinsam zu hören und den Willen Gottes in den Zeichen der Zeit deuten zu lernen. Die Gemeinschaft soll dem einzelnen Menschen auf seiner Suche immer auch eine Art Dolmetscherin, Wegbegleiterin und Gesprächspartnerin sein.
In Mainz haben wir vor drei Jahren das „Christliche Orientierungsjahr“[1] für junge Menschen eingerichtet. Junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren leben zusammen; sie sind als Freiwillige in einem sozialen oder pastoralen Feld tätig und gehen unter Begleitung einen gemeinsamen Weg auf der Suche nach ihrer je eigenen Berufung. Das ist nur ein Beispiel, wie man die individuelle Berufung zum Mensch- und Christsein begleiten und fördern kann. Wir reden heute von den Charismen, den Geistesgaben, die für die Kirche unverzichtbar sind. Damit sind nicht nur Begabungen gemeint. Eine Geistesgabe definiert sich dadurch, dass sie allen nützt und nicht nur der Selbstverwirklichung dient. Wenn wir heute nach dem Sinn von Berufung suchen, ist es wichtig, darin eine je eigene lebenslange Aufgabe der Antwort zu sehen. Das Wort Gottes darf „nicht zu Boden fallen“, wie es von Samuel heißt; es muss vielmehr in jedem und jeder arbeiten und lebendig bleiben.
[1] Weitere Informationen: www.coj-mainz.de
Nach der Berufung zum Menschsein und zum Christsein gibt es auch die Berufung zu einem besonderen Dienst in der Kirche. Das Gebet um diese besonderen Berufungen darf nicht nachlassen. Allerdings lässt sich ein Problem nicht verschweigen, das uns heute umtreibt: Es ist nicht mehr mehrheitlich vermittelbar, dass Frauen die Möglichkeit einer Berufung zum sakramentalen Dienstamt grundsätzlich abgesprochen wird. Die theologischen Gründe dafür verstehen oder akzeptieren viele nicht mehr. Dieser Konflikt beschäftigt mich als Bischof, und er ist längst nicht nur ein deutsches Thema. Ohne das Thema kleinzureden, will ich jedoch darauf hinweisen, dass andere Formen der Berufung keine minderwertigen gegenüber dem Weiheamt sind.
Stärken wir die Menschen in ihrer je eigenen Berufung! Ermutigen wir sie, sich für eine menschenwürdige Gesellschaft und für eine Kirche zu engagieren, die auf das Wort Gottes hört und den Menschen zugewandt ist! Dies ist das Ziel des Pastoralen Wegs im Bistum Mainz und anderer synodaler Wege in Deutschland und in der Weltkirche. Wir gehen in die zweite Phase des Pastoralen Wegs. Wir stehen vor der Aufgabe, die neuen Pfarreien und Kirchorte zu gestalten. Ich hoffe, dass es auch zu einer neuen Suche nach der Berufung kommen wird, die Gott für jeden Menschen ausgesprochen hat. Als Kirche im Bistum Mainz sollten wir einander bei der Suche nach der individuellen Berufung helfen und begleiten. Berufung ist immer nur zu verstehen in einer Gemeinschaft, nicht isoliert. Daher bleibt die Kirche für die Entdeckung und die Verwirklichung der Berufung ein notwendiges Sakrament – Zeichen und Werkzeug.
„Hier bin ich, du hast mich gerufen.“ In dieser Fastenzeit lade ich alle ein, ihren Ruf zu hören und ihre Gaben wahrzunehmen. Rechnen wir mit Gott und seiner Stimme, aber halten wir auch sein Schweigen aus! In all dem lade ich Sie ein, Ihre persönliche Antwort zu geben und Ihre Gaben einzubringen – für ein menschliches Miteinander und eine menschenfreundliche Kirche.
Dazu segne uns der allmächtige und dreieinige Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist
+ Peter Kohlgraf
Bischof von Mainz
Mainz, am 1. Fastensonntag 2022