Brauchen wir eine Renaissance unserer gemeinsamen europäischen Werte?

Stephanie Rieth sprach bei einer Veranstaltung von „Pulse of Europe“ in Neuwied

Europaflagge (c) Alterfalter | stock.adobe.com
Datum:
Mo. 25. Sep. 2023
Von:
A. Matschak / S. Rieth

Neuwied. Stephanie Rieth, Bevollmächtige des Generalvikars, hat am 23. September 2023 in Neuwied an einer Veranstaltung des „Pulse of Europe“ teilgenommen. Gemeinsam mit dem evangelischen Pfarrer Tilmann Raithelhuber und einer Vertreterin der Humanistischen Vereinigung, Hedwig Toth-Schmitz, war sie eingeladen, aus der Perspektive der katholischen Kirche eine Antwort zu geben auf die Frage: „Brauchen wir eine Renaissance unserer gemeinsamen europäischen Werte?“ „Pulse of Europe“ Neuwied bietet einmal monatliche Gespräche zu Themen an, die das demokratische und gesellschaftliche Engagement stärken sollen.

Folgende Gedanken hat Rieth bei der Veranstaltung vorgetragen:

Als Christ in Kirche und Gesellschaft Verantwortung tragen

Kirche und Gesellschaft: Das lässt sich nicht auseinanderhalten und das ist auch gut so.

Denn: Ich kann mein Engagement und meine Verantwortung, die ich als Christin für die Kirche habe, nicht von der Verantwortung für die Welt und die Gesellschaft, in der ich lebe, trennen.

Insofern ist Kirche immer auch politisch und jeder Christ auch ein homo politicus.

Es ist gut, wenn Kirche für unsere Gesellschaft, die ich als immer polarisierter empfinde, mitdenkt, wahrnehmbar mitredet und handelt. Denn aktuelle Studien zeichnen ein übereinstimmendes Bild – ob es sich um die Vermächtnisstudie (Infas, WZB und ZEIT-Verlagsgruppe) handelt, um die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung oder die Rheingold-Studie (Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit): In Deutschland verändert sich politisch gerade etwas - spürbar, wahrnehmbar. Die gesellschaftliche Mitte wird zunehmend von Gedanken der gesellschaftlichen Ränder erfasst, insbesondere rechtes Gedankengut wird wieder gesellschaftsfähiger.

Was sind die Gründe dafür? Die Studien sprechen von einem großen und alles erfassenden Vertrauensverlust - in Institutionen, Ämter und Behörden, in die Medien. Davon sind der Staat sowie die Parteien nicht ausgenommen und auch die Kirchen nicht - das weiß ich als kirchliche Vertreterin nur zu genau. Es ist zu beobachten: Menschen ziehen sich zurück ins Private, in Blasen, in denen sie sich bestätigt sehen; sie verdrängen die Krisen unserer Zeit oder suchen vereinfachte Muster und Lösungen, mit diesen Krisen umzugehen.

Hier ist Kirche gefragt: Sie muss Antworten geben und Stellung beziehen, denn das gehört zu ihrem Kernauftrag. Aber ich weiß auch: Angesichts der Glaubwürdigkeitskrise, in der die Kirche derzeit steckt, ist es eine Herausforderung, als Kirche gehört oder wahrgenommen zu werden.

Und - bloß an christliche Werte zu erinnern reicht nicht. Auch die Werte der kirchlichen Soziallehre bieten einen guten Kompass: Solidarität, Subsidiarität, Gemeinwohl, Gerechtigkeit, Menschenwürde und Nachhaltigkeit. Diese dürfen aber nicht nur abstrakte Begriffe bleiben, sie müssen gelebt werden.

Davon Menschen zu überzeugen, das geht nur über das Konkrete, das ganz Praktische, das Erfahrbare. Da haben wir als katholische Kirche Antworten zu bieten:

  • Kirche prägt mit der Caritas und ihren verschiedenen Sozialdiensten Gesellschaft in allen Schichten erheblich mit.
  • Sie ist ein Garant für Pluralität in der Bildungslandschaft. Es gehen längst nicht mehr nur katholische Kinder in katholische Einrichtungen.
  • In katholischen (Jugend-)Verbänden lernen junge Menschen Demokratieverständnis.
  • Mit ihren vielen ehrenamtlich Engagierten leistet die Kirche Enormes für das Zusammenhaltsgefühl der Gesellschaft und fördert somit auch Partizipation und Teilhabe. 

Kirche bietet also Orte, in denen der Mensch in seiner ganzheitlichen Verfassung er selbst sein kann. So ist Kirche auch im besten Sinn politisch - von ihrem Auftrag und ihrer Sendung her.