„Orientierung in Zeiten der Orientierungslosigkeit“

Laudatio auf Kardinal Lehmann von Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments

Datum:
Mo. 16. Mai 2016
Von:
Monika Herkens

Sehr verehrter, lieber Kardinal Lehmann,
sehr verehrte Frau Ministerpräsidentin Dreyer,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Bouffier,
lieber Oberbürgermeister Ebling,
verehrte Gäste,

vielen Menschen sind heute in der Mainzer Rheingoldhalle zusammengekommen, um ein ganz besonderes Fest für einen ganz besonderen Menschen gemeinsam zu begehen. Viele sitzen zu Hause vor ihren TV-Geräten oder verfolgen die Zeremonie am Radio. Das hat Gründe:

Kardinal Lehmann, der heute 80 wird, ist eine Institution in Deutschland. Jemand, der bewundert und der verehrt wird in unserem Land. Und dies völlig zu Recht. Als langjähriger Mainzer Bischof, als Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz und als Kardinal hat er viel Wegweisendes geleistet.

Aber die Verbindung zwischen Kardinal Lehmann und uns geht viel tiefer und sie ist nicht dadurch zu erklären, dass er die gerade aufgezählten Ämter ausübt. Nein, die Verbindung und die Zuneigung so vieler Menschen zu ihm, schöpfen aus anderen Quellen.

Kardinal Lehmann gibt Orientierung in Zeiten großer Orientierungslosigkeit. Er lebt das Gebot der Nächstenliebe sichtbar, während mancherorts der kalte Egoismus Konjunktur hat. Er baut Brücken, wo andere Gräben vertiefen.

Dadurch hat Kardinal Lehmann etwas gewonnen, was man für kein Geld der Welt kaufen kann. Durch keine noch so gute Public Relation:

Vertrauen.

Die Menschen vertrauen ihm und sie suchen seinen Rat. Ich vertraue Kardinal Lehmann und bin dankbar für seinen Rat.

 

Auch wenn es sich eigentlich nicht geziemt, sich etwas von einem Geburtstagskind zu wünschen, so will ich es heute doch tun. Ich will mich mit einer Frage an Sie wenden und bitte lassen Sie mich diese zunächst etwas erläutern:

Wir leben in Zeiten, über die Viele sagen, dass sie instabil sind und dass es eine neue Unordnung gibt. Eine Unordnung, die viele Menschen verunsichert. Wir lesen jeden Tag davon in der Zeitung, über Konflikte und Kriege, über Terror und Gewalt. Seit Monaten bekommen wir im Stakkato-Takt die Bilder und Berichte von Flüchtlingen gezeigt und atemlos diskutieren wir Maßnahmen, wie wir diese Herausforderung bewältigen können.

Mich erschreckt diese apokalyptische Bericht­erstattung über das Jetzt. Sie scheint mir einer Mode geschuldet, die sich in einen Überbietungs­wettbewerb begeben hat, wer einen noch pessimistischeren Anstrich malt.

Meine Befürchtung: Übersehen wir bei dieser Kakophonie der Untergangs-Szenarien nicht etwas Entscheidendes?

Wir haben vor über 60 Jahren begonnen, eine neue, ja eine bessere Welt zu bauen. Auf den Ruinen vieler europäischer Städte und im Angesicht des furchtbarsten Verbrechens, das in der Menschheitsgeschichte je verübt wurde, haben wir angefangen, Gräben zu überwinden und Lehren aus der Geschichte zu ziehen.

Lassen sie mich anhand von 6 Punkte erläutern, was ich damit meine:

  • Diejenigen, die unter der wütenden Raserei der Deutschen zu leiden hatten, haben unserem Volk die Hand gereicht und uns eingeladen, ein Europa zu bauen, das den Krieg auf unserem Kontinent unmöglich macht. Das haben unsere Mütter und Väter erreicht und erstmals in der Geschichte unseres Kontinents leben wir nun endlich seit Dekaden in friedlichen Zeiten.
  • Wir haben die totalitären Ideologien überwunden, die unseren Kontinent ins Unglück gestürzt haben, und nach und nach sind so die europäischen Länder zu stabilen Demokratien gewachsen. In Deutschland ebenso wie in Griechenland, in Italien, Portugal und Spanien, wo es noch bis in 70er-Jahre des 20. Jahrhundert autoritäre Regime gegeben hat. Schließlich haben auch die mittel- und osteuropäischen Länder den eisernen Vorhang abgeworfen und sie konnten wieder an alte demokratische Traditionen anknüpfen.  Welch’ ein wunderbarer Moment in der Geschichte, als sich unser Kontinent wiedervereinigt hat und wir durch die europäische Einigung in der Lage waren, die jungen Demokratien mit offenen Armen zu empfangen und ihnen bei ihrem Neuaufbau zu helfen.
  • Wir haben einen Sozialstaat aufgebaut, der das Solidarprinzip in der Gesellschaft verankert und der dabei hilft, dass demjenigen, der ins Stolpern geraten ist, wieder auf die Beine geholfen wird. Lieber Kardinal Lehmann, dabei konnten wir an eine katholische Soziallehre anknüpfen, die für die Entwicklung auf unserem Kontinent immanent wichtig ist.
  • Wir haben wertebasierte Gesellschaften geschaffen, mit dem wirkungsvollen Schutz von Grundrechten, dem Verbot von Rassismus und Antisemitismus und dem effektiven Schutz von Minderheiten. Die Religionsausübung ist frei und grundgesetzlich geschützt und dies ist eine zivilisatorische Errungenschaft von epochaler Bedeutung. Deswegen sollten wir uns denjenigen, die heute wieder Hass gegen religiöse Glaubens­gemeinschaften predigen, entschieden in den Weg stellen.
  • Wir versuchen, jedem Kind unabhängig von seiner Herkunft eine gute Bildung und Ausbildung zu ermöglichen, denn nur so hat jeder eine faire Chance in der Zukunft. Zur Bildung gehört es, dass es eine freie und kritische Presse gibt, die informiert und die abwägt und die gesellschaftliche Missstände schonungslos offen legt. Das ist eine Grundvoraussetzung für eine freie Gesellschaft. Allen, die mit wutverzerrtem Gesicht über eine vermeintliche „Lügenpresse“ schimpfen, sei gesagt: Wir sollten angesichts der vielen Opfer, die es jeden Tag unter Journalisten gibt und der vielen Repressionen, unter denen Medien weltweit zu leiden haben, stolz und froh sein, dass wir in Deutschland und Europa diese kritische und gute Presse haben.
  • Und schließlich: Wir schützen unsere Umwelt, denn wir haben nur diesen einen Planeten, der uns anvertraut ist und den wir nicht selbstsüchtig zerstören dürfen. Es ist unsere Pflicht und wir nehmen sie zunehmend in gemeinsamer europäischer Verantwortung wahr, für zukünftige Generationen unser Ökosystem zu bewahren.

All das haben wir erreicht.

Ich sage das in dem Wissen, dass es natürlich noch viele Ungerechtigkeiten, Risiken und Unzulänglichkeiten gibt. Aber das, was wir auf diesem Kontinent aufgebaut haben – das, was unsere Mütter und Väter, unsere Großmütter und Väter auf diesem Kontinent aufgebaut haben - ist etwas Wundervolles - im wahrsten Sinne des Wortes.

Wenn ich mir all das vor Augen halte, was ich gerade beschrieben habe, drängt sich mir eine Frage auf. Eine Frage, die ich eben Ihnen, lieber Kardinal Lehmann, stellen möchte:

Warum, so frage ich uns, warum haben wir unseren Glauben an uns selbst verloren? Warum sind wir so verzagt geworden, wo wir doch so Großartiges erreicht haben? Warum hadern so viele mit dem politischen und gesellschaftlichen System, obschon es uns doch Frieden und Wohlstand gebracht hat? Woher kommt der Hass von manchen Menschen, denen doch im Vergleich zu allen Vorgängergenerationen ein so sicheres Leben geschenkt worden ist?

Manchmal erscheint es mir, als sei unser Europa wie der Scheinriese Turtur aus dem wunderschönen Buch von Michael Ende „Lukas, der Lokomotivführer“. Dieser Riese erscheint groß, je weiter weg er ist und er schrumpft immer mehr, je näher man ihm kommt.

So ist es auch mit Europa: Für Millionen von Flüchtlingen auf der ganzen Welt ist unser Europa ein Sehnsuchtsort. Ein Ort, wo sie endlich sicher sind vor Bomben und Gewalt. Ein Platz, wo man fast alles erreichen kann und die Menschen eigentlich glücklich sein müssten. Auch deshalb wollen viele Menschen zu uns kommen, weil sie daran glauben, dass sie hier Schutz und vielleicht ein bisschen Glück finden können. Darauf sollten wir eigentlich stolz sein. Darauf sollten wir im Sinne der Nächstenliebe reagieren. Und viele Bürgerinnen und Bürger tun genau das.

Aber zunehmend macht sich auch in manchen europäischen Hauptstädten und innerhalb neuer, populistischer Bewegungen eine andere Stimmung breit. Diese Stimmung wird lauter und sie gewinnt zunehmend Stimmen:

Da wird vom Bürokratiemonster EU gesprochen, da wird in Referenden Europa abgelehnt, neue Grenzzäune und Mauern werden gebaut und es wird tatsächlich wieder diskutiert, ob die Renaissance des Nationalen unsere Zukunft sein könnte. Wie absurd, angesichts all der globalen Herausforderungen vor denen wir stehen. Herausforderungen, die kein Nationalstaat allein bewältigen kann.

Dabei geht es nicht darum, den Nationalstaat zu überwinden, denn er wird ganz sicher noch gebraucht. Aber wir brauchen ihn nicht als Gegensatz zu Europa, sondern als Additiv. Europa ist unser Instrument, um auch in der Zukunft Frieden, Wohlstand und Sicherheit auf unserem ganzen Kontinent zu bewahren.

Lieber Kardinal Lehmann,

Sie wurden im Jahr 1936 geboren, in einer Zeit, in der totalitäre und rassistische Ideologien auf unserem Kontinent Hochkonjunktur hatten. Sie wurden geboren, nur drei Jahre bevor der Weltbrand durch Deutsche entfacht wurde, der in dem schlimmsten Zivilisationsbruch in der Geschichte der Menschheit gipfelte. Sie erlebten die „schlechte Zeit“, wie sie damals genannt wurde, also die Nachkriegszeit, die Flucht und Vertreibung sah und die für viele Menschen perspektivlos erschien.

Sie, verehrter Herr Lehmann, haben das alles erlebt und Sie sind doch wie so viele andere in ihrer Generation ein mutiger, weltoffener, zuver­sichtlicher, ja ein so wunderbarer Mensch geworden. Sie haben das Gute in sich und sie spenden vielen Menschen Trost, wenn sie verzagt sind.

Ich wünsche mir deshalb, dass wir von Ihnen lernen. Dass wir wieder erkennen mögen, dass wir Demokratien in und mit diesem Europa geschaffen haben, und alle Menschen so die Chance auf ein freies und glückliches Leben bekommen, während der Rückfall in nationale Egoismen in einer erneuten Katastrophe enden könnte.

Ich wünsche mir, dass wir uns von Ihrer Zuversicht anstecken lassen. Dass wir also anpacken, wenn uns dieses Europa manchmal ärgert, wir es dann aber besser machen, also noch gerechter, noch demokratischer und noch freier und es nicht ablehnen. Dies sollten wir mit Freude und Zuversicht tun und nicht mit einer Rhetorik, die schlechtgelaunt alle Fehler bei den Anderen und bei Minderheiten sucht. 

Ich wünsche mir, dass wir den Glauben an uns Selbst wiederfinden und bin mir sicher, dass Sie, lieber Kardinal Lehmann, dabei uns allen ein wichtiges Vorbild sein können.

Lieber Kardinal Lehmann,

von ganzem Herzen wünsche ich Ihnen alles Gute zum Geburtstag. Ich wünsche Ihnen gute Gesundheit, viel Freude und alles Glück.