Pfingstfest als tiefste Folge der Auferstehung Jesu

Predigt von Kardinal Lehmann im Pontifikalgottesdienst am Pfingstsonntag, 15. Mai 2016, im Hohen Dom zu Mainz

Pfingsten (c) Bistum Mainz
Pfingsten
Datum:
So. 15. Mai 2016
Von:
Karl Kardinal Lehmann
Predigttext: Apg 2,1-13

Was hat sich am ersten Pfingstfest so ereignet, dass wir heute noch den fünfzigsten Tag nach der Auferstehung Jesu Christi so herausragend feiern? Das Wort Pfingsten kommt ja von dem griechischen Wort „Pentekoste", das ist der fünfzigste Tag nach der Auferweckung. Dies fällt zusammen mit einem großen jüdischen Fest. Sieben Wochen nach dem Pessach-Fest feierte man das sogenannte „Wochenfest" („schavuot"). Es war als eines der drei großen Wallfahrtsfeste eine bedeutende Dankfeier für die Weizenernte. Es wurde später auch zum Gedächtnis des Bundesschlusses und der Übergabe der Zehn Gebote auf dem Sinai gefeiert. Nach der Apostelgeschichte erfolgte an einem solchen ursprünglich jüdischen Fest die Ausgießung des Heiligen Geistes als Frucht und Vollendung der Heilstat Jesu Christi: ein neuer Bund war geschlossen, ein neues Erntedankfest berechtigt. Wie in vieler Hinsicht haben wir auch hier ein jüdisches Fest als äußere Grundlage, die aber doch auch bei aller Neuheit des Christentums einen inneren Zusammenhang mit dem jüdischen Glauben darstellt.
Nach altchristlichem Verständnis ist das christliche Pfingsten die große Oktav von Ostern, der krönende Abschluss der Osterzeit, wie es auch die östlichen Liturgien bis heute weitgehend gehalten haben. In unserer westlichen Tradition wurde dieser Tag zu einem eigenen Fest der Sendung des Geistes und so selbstständiger empfunden. In manchen Ländern bekam Pfingsten – parallel zu Weihnachten und Ostern – einen zweiten Feiertag. Die Liturgiereform des Konzils hat, wie verschiedene Gebete in den Messen zeigen, das Pfingstfest wieder stärker an Ostern zurückgebunden. Man muss ja überhaupt ein wenig darüber nachdenken, dass nur der Evangelist Lukas vom Pfingstfest als einem eigenen Ereignis berichtet.

Pfingsten versteht man zunächst nur, wenn man die Verheißung ins Auge fasst, die mit der Himmelfahrt Jesu gegeben ist. Jesus sagt vor der Aufnahme zum Vater, die Jünger sollten in Jerusalem bleiben, sie würden in wenigen Tagen mit dem Heiligen Geist getauft (vgl. Apg 1,5), schließlich heißt es sehr viel konkreter: „Aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde." (1,8) Als die Jünger nach Jerusalem zurückkamen, „gingen sie in das Obergemach hinauf, wo sie nun ständig blieben... Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet, zusammen mit den Frauen und mit Maria, der Mutter Jesu, und mit seinen Brüdern." (1,13f.)

Dies ist sehr entscheidend für das Verständnis der Jüngerschar, die nun Kirche wird. Die enge Gemeinschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie fest an die Verheißung glaubt, deswegen ständig zusammenbleibt und einmütig im Gebet verharrt. Die christliche Kunst aller Zeiten hat daraus ein eindrucksvolles Bild geprägt, wie die Apostel mit Maria, der Mutter Jesu, meist in einem engen Kreis, miteinander offen sind für das Kommen des Gottesgeistes, ihn betend erwarten, mit nach oben ausgestreckten Armen. Dies gehört ganz elementar zum Verständnis der nun sich stärker herausbildenden Gemeinschaft, dass sie im gemeinsamen Gebet verharrt und sich bewusst ist, dass sie aus sich selbst nicht vollendet ist, vielmehr ihre Treue zum Herrn und besonders auch für ihre Sendung „bis an die Grenzen der Erde" den Beistand des Vaters braucht. Kirche ist darum immer ein Geschöpf des Geistes, nicht zuerst unserer Kraft allein. Es ist verräterisch, wenn wir von Kirche sprechen, man aber im Endeffekt nur Funktionen, Strukturen und Organisationselemente im Blick hat. Auch ein zu großes Interesse an Personen kann Kirche verdecken und entstellen.

In diese Situation gehört nun das Pfingstereignis. Die drei auffallenden Subjekte sind das „Brausen", die „Zungen" und die „Erfüllung aller mit dem Geist". Der Heilige Geist kommt unter dem Brausen und mit den Zungen über die Gemeinschaft. Das Brausen kommt plötzlich, lässt sich also nicht erklären, ähnelt am ehesten noch einem „daherkommenden, heftigen Wind". Das tosende Geräusch erfüllt das Haus, in dem die Gemeinschaft weilt. Die einzelnen „Zungen" lassen sich auf jeden der Anwesenden nieder. Die Bestimmung „wie von Feuer" unterstreicht den rätselhaft-geheimnisvollen Charakter der Zungen. In der Sprache von damals bricht damit eine ganz neue Zeit an. Es sind apokalyptische Bilder. Mit den Zungen kommt die von Jesus verheißene Geistgabe (vgl. Lk 24,49; Apg 1,5). Die Apostelgeschichte spricht von der „Ausgießung des Geistes" (vgl. 2,17.18.33), eine Redeweise, dass der Gottesgeist als Gabe für die Gläubigen bestimmt ist (vgl. Apg 10,45; Tit 3,6; Röm 5,5).

Die Wirkung des Geistempfangs auf die Jünger hat zur Folge, dass sie „begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab." (2,4) Das bisher Erzählte betrifft streng die Gemeinschaft der Jünger, die „alle" den Geist empfingen. Jetzt kommt es auf die Wirkung an: „In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Und als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden." (2,5f.) Es geht also nicht so sehr um die neue Begeisterung des Redens, das verzückte Reden, die sogenannte Glossolalie, sondern um die Gabe, auch anderen Völkerschaften verstehbar die Großtaten Gottes zu verkündigen. Die Leute „gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören?" (2,7f.) Das Pfingstwunder befähigt zu jenem weltweiten Zeugnis, zu dem der zum Vater entrückte Kyrios sie aufforderte. Die sogenannte Völkertafel (vgl. 2,9ff.) umfasst nach Ansicht des Erzählers alle Völker der Erde. Es sind vor allem Diasporajuden, die die Weltvölker repräsentieren. Die Kirche ist zu allen Menschen gesendet. Das Evangelium Jesu Christi ist in alle Sprachen übersetzbar und in allen verstehbar. Das Sprachenwunder ist nicht ein besonderes Spektakel in sich selbst, ein zu bestaunendes Mirakel, wie es manchmal in den sogenannten Pfingstkirchen und charismatischen Gemeinschaften von heute verstanden wird. Es wird hier ganz der missionarischen Verkündigung „bis an die Grenzen der Erde" untergeordnet. Die Sprachenvielfalt ist kein Hindernis für die Botschaft Jesu zu allen Menschen (vgl. Mt 28,16-20). Die babylonische Verwirrung menschlicher Sprache (vgl. Gen 11,1-9) wird zwar in der Vielfalt menschlicher Rede nicht aufgehoben, aber sie kann durch die Befähigung des Gottesgeistes überbrückt werden.

Dies ist ein ganz wichtiges Bild für die Sendung der Kirche. Es ist zunächst entscheidend, dass die Apostel mit Maria zusammenbleiben. Kirche braucht immer diese unverbrüchliche Gemeinschaft der ihr angehörenden Menschen. Aber sie verschließt sich nicht in sich selbst. Sie verkapselt sich nicht in ihren eigenen Nischen. Sie wird wirklich hinaus in alle Welt gesandt. Es ist ihr auch verheißen, dass sie alle Barrieren der Sprache und damit auch der Milieus überwinden kann. Schließlich wird, wiederum im Blick auf die weltweite Verkündigung gesagt, dass die Jünger „Gottes große Taten verkünden" (2,11). Das Sprechen von den Großtaten Gottes ist ein geisterfüllt-begeistertes Reden. Es ist immer auch ein menschlich-lebendiges Zeugnis, das den Einsatz der beteiligten Personen erfordert, nicht bloß ein von oben kommendes Wunder. Dazu gehören auch die vielen Übersetzungen der Heiligen Schrift bis zum heutigen Tag. Kein anderes Buch ist in fast alle Menschensprachen übersetzt wie das Buch der Bücher. Es gibt eben keine einzige heilige Sprache. Das Wort Gottes ist durchlässig für alle Sprachen und Dialekte der Welt.

Die Menschen sind verwirrt. Sie können das Gesehene und Gehörte nicht so leicht deuten. Die einen staunen, die anderen machen Witze: „Alle gerieten außer sich und waren ratlos. Die einen sagten zueinander: Was hat das zu bedeuten? Andere aber spotteten: Sie sind vom süßen Wein betrunken." (2,12f.) So ist es auch noch heute mit der Botschaft des Evangeliums.

Die Jünger aber haben bei aller Bestürzung über das Geschehen verstanden, worum es geht. Denn Petrus hält sofort die erste große Predigt: „Da trat Petrus auf, zusammen mit den Elf; er erhob seine Stimme und begann zu reden: Ihr Juden und alle Bewohner von Jerusalem! Dies sollt ihr wissen, achtet auf meine Worte! Diese Männer sind nicht betrunken, wie ihr meint; es ist ja erst die dritte Stunde am Morgen; sondern jetzt geschieht, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist: In den letzten Tagen wird es geschehen, so spricht Gott: Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch, eure Söhne und eure Töchter werden Propheten sein, eure jungen Männer werden Visionen haben, und eure Alten werden Träume haben." (2,14-17)

Die ganze Zeit zwischen Ostern und Pfingsten ist eine einzige große Einübung in das Kirchewerden. In den Erscheinungen Jesu ereignet sich zugleich konkrete Beauftragung. Das neue Verständnis der Schrift und das eucharistische Mahl mit Jesus sind dabei mit der Taufe als Voraussetzung die tragenden Bauelemente. Hinzu kommen die Vertiefung der Unterweisung der Jünger, sozusagen ihre neue Fortbildung nach Ostern und der sogenannte Missionsbefehl. Lukas setzt hier noch einen besonderen Akzent. Für ihn ist die Kirche erst in dem Augenblick ganz Wirklichkeit, da in der Kraft des Pfingstgeistes durch die Predigt der Apostel das Gottesvolk weltweit angesprochen und gesammelt werden kann. Der Jüngerkreis stellt zeichenhaft dar, was die Kirche sein wird. Pfingsten ist das Geburtsfest der Kirche. Darum feiern wir das Pfingstfest als tiefste Folge der Auferstehung Jesu. Lukas, der vielleicht am meisten über die Jesuszeit hinaus in die Zukunft blickt, eröffnet damit die Zeit der Kirche, die bis heute reicht. Amen.