50 Jahre Betriebsseelsorge im Bistum Mainz

Predigt von Kardinal Lehmann im Wortgottesdienst am 18. Juli 2014 in Rüsselsheim/Opel

Datum:
Freitag, 18. Juli 2014

Predigt von Kardinal Lehmann im Wortgottesdienst am 18. Juli 2014 in Rüsselsheim/Opel

Textgrundlage für die Predigt: Sir 4,1-10

Mein Sohn, entzieh dem Armen nicht den Lebensunterhalt, und lass die Augen des Betrübten nicht vergebens warten! 2 Enttäusche den Hungrigen nicht, und das Herz des Unglücklichen errege nicht! 3 Verweigere die Gabe dem Bedürftigen nicht, 4 und missachte nicht die Bitten des Geringen! 5 Verbirg dich nicht vor dem Verzweifelten, und gib ihm keinen Anlass, dich zu verfluchen. 6 Schreit der Betrübte im Schmerz seiner Seele, so wird Gott, sein Fels, auf sein Wehgeschrei hören. 7 Mach dich beliebt in der Gemeinde, beuge das Haupt vor dem, der sie führt. 8 Neige dem Armen dein Ohr zu, und erwidere ihm freundlich den Gruß! 9 Rette den Bedrängten vor seinen Bedrängern; ein gerechtes Gericht sei dir nicht widerwärtig. 10 Sei den Waisen wie ein Vater und den Witwen wie ein Gatte! Dann wird Gott dich seinen Sohn nennen, er wird Erbarmen mit dir haben und dich vor dem Grab bewahren. (Sir 4,1-10 EÜ)

Predigt

Es ist mehr als erstaunlich, dass wir in manchen Büchern des Alten und des Neuen Testamentes viele Passagen finden, die gar nicht so weit weg sind von unserer heutigen Situation, und dies in jedem Fall schon vor Jesus Christus. Dies gilt auch für den eben gehörten Text aus dem vierten Kapitel bei Jesus Sirach. Man denke aber auch an andere Stellen aus diesem Buch, z.B.: „Kärgliches Brot ist der Lebensunterhalt der Armen, wer es ihnen vorenthält, ist ein Blutsauger. Den Nächsten mordet, wer ihm den Unterhalt nimmt, Blut vergießt, wer dem Arbeiter den Lohn vorenthält." (34,25-27).

Das Buch Jesus Sirach ist etwa um die Zeit 200 bis 180 v. Chr. im griechischen Kulturbereich entstanden. Der Verfasser gilt als ein Weisheitslehrer, gleichsam ein Philosoph und Theologe in einem. Es gibt verschiedene Namen für dieses Buch, z.B. hebräisch: Ben Sira, lateinisch: Ecclesiasticus. Der Verfasser ist hochgebildet und sehr vertraut mit dem Denken und der politisch-gesellschaftlichen Lage seiner Zeit. Er weiß um die Gefahren für die Religion der Väter von der griechischen Umwelt her. Aber er weiß auch, dass die biblische Religion nicht an ein bestimmtes kulturell-gesellschaftliches System gebunden ist. Er tritt in Dialog mit seiner eigenen Gegenwart, ohne sie von Anfang an zu verteufeln.

Der Verfasser hat auch eine ausgesprochen differenzierte Sensibilität für die gesellschaftliche Situation seiner Zeit. Es ist eine bewegte Zeit. Die Lebens- und Denkweise der griechischen Welt dringt bis nach Jerusalem, wo der Verfasser wohl zu Hause ist. Die Zeit ist in wirtschaftlicher Hinsicht gekennzeichnet durch eine starke Konzentration wirtschaftlicher Macht. Dies schafft für viele Menschen große Unsicherheit und Armut. Vor allem seit der Königszeit und der Entwicklung städtischer Kultur in Israel bildeten sich Wirtschaftsformen und Verhaltensweisen, die zur Konzentration von Besitz und wirtschaftlicher Macht in den Händen einiger Weniger führen, und Armut und Abhängigkeit großer Bevölkerungsschichten sowie deren schamlose Ausbeutung durch die Reichen mit sich bringen. Gegen diese Verhältnisse richtet sich immer aufs Neue der scharfe Protest zunächst der Propheten, aber auch der Lehrer der Weisheit.

Dies alles wird noch dadurch verstärkt, dass es in großen Teilen der griechischen Welt eine starke Geringschätzung des Armen gab (vgl. ThWNT VI., 886-888). Es gab kein wirkliches Verständnis für ihn. Almosengeben war keine Tugend. Man hatte auch nicht die Überzeugung, dass Gott einen besonderen Schutz darstellt für Arme.

Vor diesem Hintergrund muss man unsere Lesung und auch die vielen anderen Aussagen des Buches verstehen. Da ist die Mahnung zur Demut und zur Bescheidenheit (vgl. 3,17-31). Der Mensch darf nicht einfach Objekt werden. Es geht aber nicht nur um materielle Hilfe, sondern das Verhältnis zu den Armen zeigt sich in menschlichem Respekt, in seelischer Anteilnahme an seinem Schicksal und in Solidarität. Es kommt vor allem auch darauf an, den Armen nicht zu verachten: „Neige dem Armen dein Ohr zu, und erwidere ihm freundlich den Gruß! Rette den Bedrängten vor seinen Bedrängern; ein gerechtes Gericht sei dir nicht widerwärtig." (4,8f.) Immer wieder wird dafür ein weises Herz erwartet (vgl. 3,17-31) Hier werden auch sehr konkrete Forderungen und Verbote ausgesprochen: „Mein Sohn, entzieh dem Armen nicht den Lebensunterhalt, und lass die Augen des Betrübten nicht vergebens warten. Enttäusche den Hungrigen nicht, und das Herz des Unglücklichen errege nicht! Verweigere die Gabe dem Bedürftigen nicht, und missachte nicht die Bitten des Geringen! Verbirg dich nicht vor dem Verzweifelten, und gib ihm keinen Anlass dich zu verfluchen." (4,1-5) Aber es gibt nicht nur Mahnungen und Verbote. Es gibt viele Hinweise auf das rechte Handeln. So geht der Text von der Überzeugung aus, dass, wer Armut und Unrecht erkannt hat, nicht lange mit seiner Hilfe wartet und vielleicht sogar zögert. Wer großzügig ist, verschiebt nicht das nötige Tun und die gute Tat. Großzügigkeit beeilt sich immer. Man soll auch den Bittenden nicht verletzen (vgl. Sir 34,21-27.29).

Dieses Glaubenszeugnis ist herzhaft fromm, aber es frömmelt nicht. Im Gegenteil. Der Mensch soll sich nicht in Spekulationen und in hohe Dinge flüchten, vielmehr soll er stets auf die einfache Wirklichkeit achten: „Such nicht zu ergründen, was dir zu wunderbar ist, untersuch nicht, was dir verhüllt ist. Was dir zugewiesen ist, magst du durchforschen, doch das Verborgene hast du nicht nötig. Such nicht hartnäckig zu erfahren, was deine Kraft übersteigt. Es ist schon zu viel, was du sehen darfst." (3,21-23) Vor diesem Hintergrund wird immer wieder Demut und Bescheidenheit verlangt: „Je größer du bist, umso mehr bescheide dich, dann wirst du Gnade finden bei Gott." (3,18)

Vor diesem Hintergrund wird im Rückgriff auf die beste prophetische Tradition immer wieder um Solidarität und Hilfe für den Armen geworben. Immer wieder erscheint der religiöse Hintergrund: Gott ergreift Partei für die Armen (vgl. Am 2,6-8; 5,11-13; 8,4-10; Mi 2,1-5; Jes 5,8-10). Ja, Jesus Sirach steigert dies noch, indem für Gott selber in dieser Sorge für die Armen mütterliche Züge anklingen: „Sei den Waisen wie ein Vater und den Witwen wie ein Gatte!" (4,10; vgl. Jes 49,15; 66,11-13) Darum lässt sich auch das Gebet nicht vom sozialen Verhalten trennen. Es muss immer wieder zu einem Gleichgewicht von Wohltun und Barmherzigkeit kommen, wie es dann besonders im Buch Tobit kräftig zum Ausdruck kommt (vgl. Tob 4,7-11.16). So kann man verstehen, dass nicht nur Jesus Sirach, sondern auch die anderen Weisheitsbücher sich für den Zusammenhang von Glauben und Tun ereifern. Die rechte Haltung vor Gott führt zum rechten Tun gegenüber den Armen. Darum ist auch ein energisches Eingreifen des Frommen notwendig. Es braucht immer wieder Mut zum furchtlosen Eintreten für den Armen, besonders auch beim Rechtsprozess (vgl. 4,9; 7,6; 36,9; Ps 42,4). Dies wird besonders im Blick auf die Waisen und Witwen, die Armen und Fremden gesagt - ein altes biblisches Gut (vgl. Dtn 24,28f.; 15,1-18; 24,17f., aber auch Jes 1,17; Jer 22,2f.; Ps 72,2f.; 82,3f. und Ijob 29,16; 31,16). Im Zentrum steht das Wort von Ps 68,6: „Ein Vater der Waisen, ein Anwalt der Witwen ist Gott in seiner heiligen Wohnung." Von da aus kann man auch die feste Überzeugung der Bibel und besonders der Weisheitslehrer verstehen, die im Abfall von Gott auch die Wurzel der Ungerechtigkeit erblicken (vgl. Sir 49,2 u.ö.).

Im Neuen Testament sehen wir heute immer stärker auch die verborgene Gegenwart der Mahnungen dieser Weisheitstexte. Man sieht es vielleicht am deutlichsten in den Seligpreisungen der Bergpredigt: „Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden... Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden." (Mt 5,7.9)

Ich brauche die lebendige Erinnerung an diese Worte nicht auszudehnen auf die Praxis der Betriebsseelsorge, wie sie in diesen letzten 50 Jahren im Bistum Mainz entstanden ist und ausgebildet wurde. Man sieht deutlich die Impulse und Wurzeln dafür. Wir werden in den anschließenden Darbietungen und Worten in dieser Feierstunde vieles darüber hören. Wenn man jedenfalls die Worte unserer Lesung im Ohr behält, ist man genügend geistesgegenwärtig zur genaueren Erfassung jeder Zeit und auch für die Wahrnehmung der beschriebenen Aufgaben für heute. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz