„Denn die Wurzel aller Übel ist die Habsucht" (1 Tim 6,10) - oder auch: „Denn die Wurzel aller Übel ist das Immer-mehr-haben wollen"

Predigt in der Jahresschlussandacht an Silvester, 31. Dezember 2011, im Mainzer Dom

Datum:
Samstag, 31. Dezember 2011

Predigt in der Jahresschlussandacht an Silvester, 31. Dezember 2011, im Mainzer Dom

Lesung: : 1 Tim 6,6-11.17-19

„6 Die Frömmigkeit bringt in der Tat reichen Gewinn, wenn man nur genügsam ist.
7 Denn wir haben nichts in die Welt mitgebracht, und wir können auch nichts aus ihr mitnehmen.
8 Wenn wir Nahrung und Kleidung haben, soll uns das genügen.
9 Wer aber reich werden will, gerät in Versuchungen und Schlingen, er verfällt vielen sinnlosen und schädlichen Begierden, die den Menschen ins Verderben und in den Untergang stürzen.
10 Denn die Wurzel aller Übel ist die Habsucht. Nicht wenige, die ihr verfielen, sind vom Glauben abgeirrt und haben sich viele Qualen bereitet.
11 Du aber, ein Mann Gottes, flieh vor all dem. Strebe unermüdlich nach Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Glauben, Liebe, Standhaftigkeit und Sanftmut ...
17 Ermahne die, die in dieser Welt reich sind, nicht überheblich zu werden und ihre Hoffnung nicht auf den unsicheren Reichtum zu setzen, sondern auf Gott, der uns alles reichlich gibt, was wir brauchen.
18 Sie sollen wohltätig sein, reich werden an guten Werken, freigebig sein und, was sie haben, mit anderen teilen.
19 So sammeln sie sich einen Schatz als sichere Grundlage für die Zukunft, um das wahre Leben zu erlangen."

Man kann die Jahresschlussandacht und besonders die Predigt darin sehr verschieden gestalten. Man blickt auf das Jahr, das zu Ende geht, in Kirche und Welt, national und weltweit, zurück. Auch von Mainz könnten wir manches nochmals erzählen. Wir haben eine Auswahl davon wie in jedem Jahr auch jetzt von Herrn Pfr. Johannes Zepezauer, dem Bischöflichen Sekretär, gehört. Ich danke ihm sehr herzlich, dass er uns die vielen Ereignisse des Jahres, sorgfältig ausgewählt, wieder ins Gedächtnis zurückgerufen hat.

Ich möchte einmal einen anderen Weg versuchen und ein biblisches Thema in die Mitte stellen, das wir eigentlich zu wenig beachten, obwohl es in der Bibel eine größere Rolle spielt. Wir begegnen dem Phänomen heute in vielen Formen, ganz besonders wenn es um die Häufung von Besitz geht. In unserer Sprache reden wir von Habgier, Habsucht und vielleicht auch nur von Gier. Man schiebt diese Themen lieber etwas von sich, denn sie scheinen unvermeidlich mit „Moralisieren" verbunden zu sein. Aber wenn wir das in der Bibel Gemeinte genauer verfolgen, dann werden wir relativ leicht erkennen, wie tief das Thema doch mit unserer ganzen Lebensführung sowohl individuell als auch sozial verbunden ist, z. B. mit der Sozialen Marktwirtschaft.

Wir haben dazu eine Lesung aus dem Neuen Testament gehört, und zwar aus dem ersten Brief an Timotheus aus dem sechsten Kapitel.

Es gibt im Neuen Testament eine feste Gattung, mit der negative oder positive Eigenschaften des Menschen zusammengestellt werden. Man nennt sie die Lasterkataloge, dort, wo es sich um die Zusammenstellung von Tugenden handelt, entsprechend Tugendkataloge. Diese ethischen Ausführungen kommen weniger in den Worten Jesu, also in den Evangelien vor, sondern finden sich besonders in den Briefen, vor allem beim hl. Paulus. Die Habgier oder Habsucht wird dabei sehr oft mit anderen „Lastern" aufgezählt, wie Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Bosheit, Hinterlist, Neid, Verleumdung, Hochmut und auch Unvernunft (vgl. z. B. Mk 7,21ff.). Kurz zusammengefasst sagt Jesus bei Lukas: „Gebt Acht, hütet euch vor jeder Art von Habgier. Denn der Sinn des Lebens besteht nicht darin, dass ein Mensch aufgrund seines großen Vermögens im Überfluss lebt." (Lk 12,15)

Vielleicht muss man noch etwas genauer nachdenken über das Wort „Habgier"/„Habsucht". Wenn man nämlich das griechische Wort, das wir gewöhnlich mit Habsucht übersetzen: „pleonexia", sorgfältiger betrachtet, dann heißt es ganz wörtlich: „mehr haben, mehr haben wollen". Dabei darf man dieses Wort nicht nur auf den Besitz einengen. Es wird schon so etwas wie eine Grundmentalität des Menschen zum Ausdruck gebracht, denn er möchte über alles Erreichte hinaus noch mehr leisten und erhalten. Wir dürfen dabei auch ruhig die großen Steigerungen unseres alltäglichen Lebens für fast alle Daseinsbereiche mit heranziehen: immer schneller, immer mehr, immer höher, immer weiter. Wenn mit Habsucht auch noch Geldgier verbunden ist, dann wird eine zentrale Verhaltensweise des Menschen getroffen. Hier konzentriert sich alles besonders auf das Immer-mehr-haben-Wollen.

Aber Habgier bezieht sich grundsätzlich auf ein unstillbares Verlangen nach einem stetigen Zuwachs im Bereich endlicher Güter. Dabei ist es aufschlussreich festzustellen, dass die Warnung vor einer solchen Habgier nicht etwas ausschließlich Biblisches ist. Deshalb finden wir in der Umwelt der Bibel immer wieder sehr ähnliche Aussagen, nicht zuletzt im Bereich der philosophischen Schriften. Es sind in der Umwelt allgemein bekannte und geläufige Wendungen, die vor einem unersättlichen Hunger nach irdischen Dinge warnen. Gerade die profane Literatur sieht in der Habgier/Habsucht ein sehr großes Laster. Es gehört zum frühen europäischen Menschenbild, dass man sich davor hütet. Nicht zufällig gehört darum auch in der antiken Tradition die Habgier zu den drei größten Lastern. Deshalb gibt es die fast sprichwörtliche Erfahrungssentenz: „Die Wurzel aller Übel ist die Habsucht." In der christlichen Lehre zählt man die Habgier auch schon früh zu den Wurzel- bzw. Hauptsünden.

Man darf in diesen Warnungen jedoch nicht einfach eine Verurteilung menschlichen Strebens und Erwerbens erblicken. Es geht auch nicht um eine negative Einstellung zum Reichtum schlechthin. Wir können dies sehr gut sehen bei einer inhaltlich verwandten Ausführung Jesu beim Evangelisten Lukas, die wir schon früher knapp angeführt haben. In dem Gleichnis heißt es:

„16 Und er (Jesus) erzählte ihnen folgendes Beispiel: Auf den Feldern eines reichen Mannes stand eine gute Ernte.
17 Da überlegte er hin und her: Was soll ich tun? Ich weiß nicht, wo ich meine Ernte unterbringen soll.
18 Schließlich sagte er: So will ich es machen: Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen; dort werde ich mein ganzes Getreide und meine Vorräte unterbringen.
19 Dann kann ich zu mir selber sagen: Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink und freu dich des Lebens!
20 Da sprach Gott zu ihm: Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?
21 So geht es jedem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber vor Gott nicht reich ist." (Lk 12,16-21)

Der reiche Mann wird nicht kritisiert, weil er mit der unerwartet reichen Ernte rational und zweckmäßig umgeht. Das Planen für die Zukunft ist ebenso wenig schlecht wie die Zukunftssorge überhaupt. Hier muss man den Text sehr sorgfältig lesen. Vielmehr geht es um die Warnung vor einer falschen Einschätzung der Situation. Es geht dem reichen Mann nicht nur darum, immer mehr zu haben, sondern seine Besitztümer zu genießen. Er sieht viele angenehme Lebensjahre vor sich und verdrängt dabei die Möglichkeit des plötzlichen Todes. Es geht um die Warnung vor falscher Sicherheit (vgl. auch Lk 12,45). Hier greift Jesus zu besonders eindringlichen und geradezu scharfen Worten: „Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?" (12,20)

So ist es auch nicht überraschend, dass diese zentrale Warnung besonders in der Briefliteratur häufig verwendet wird (vgl. Röm 1,29; 2 Kor 9,5; Eph 4,19; 5,3; Kol 3,5; 1 Thess 2,5; 2 Petr 2,3.14). Das Christentum wächst langsam in die Welt. Das Ende der Welt kommt offenbar nicht sofort - eine gefährliche Haltung. Welche Gefahren drohen besonders, wenn man in einer „bürgerlichen" Situation heimisch wird (vgl. das Wort des Papstes in der Freiburger Rede vom 25.9.2011 von der „Entweltlichung")? Wir wissen zwar alle um diese Mahnungen, dass wir uns nicht grundlegend über unser Leben täuschen sollen: „Denn wir haben nichts in die Welt mitgebracht, und wir können auch nichts aus ihr mitnehmen ... Wer aber reich werden will, gerät in Versuchungen und Schlingen, er verfällt vielen sinnlosen und schädlichen Begierden, die den Menschen ins Verderben und in den Untergang stürzen." (1 Tim 6,7f.) Aber im Allgemeinen haben wir uns - auch bedingt durch die täglichen Aufgaben und Sorgen - so in unserer konkreten Welt vergraben und verloren, dass diese mahnenden Worte uns wenig aufrütteln. Wenn es dann z. B. bei einem plötzlichen Tod eines nahen Menschen uns regelrecht überfällt und die Augen öffnet, vergessen wir es rasch wieder. „Der Antriebsüberschuss befähigt den Menschen zu einem so gut wie grenzenlosen Immer-mehr: zu Völlerei und sexueller Maßlosigkeit, zur Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht im wörtlichen Sinn von Sucht, nicht zuletzt kann er Allmachtsfantasien erliegen; ein Verlangen, ‚wie Gott zu sein', kann kein anderes Tier überkommen, sodass man den Menschen auch ironisch als einen Affen definieren kann, der gelegentlich wie Gott sein will." (O. Höffe, Lebenskunst und Moral, München 2007, 51). Dies sagt ein Philosoph. Man muss hier Habsucht und Gier unterscheiden. Die Habsucht will mehr und mehr; der Geiz will mit niemand teilen („Hartherzigkeit"). Aber beides gehört auch zusammen, deshalb unser Wort von der Habgier.

Das Neue Testament möchte uns wachsam machen. Darum gibt es uns aber auch positive Hinweise, wie wir den Verfall und den Absturz in die Habgier vermeiden können. Jesus sagt es so: „So geht es jedem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber vor Gott nicht reich ist." (Lk 12,21). Vor Gott können auch Arme reich sein. Im weiteren Verlauf betont es Jesus dann noch deutlicher: „Verkauft eure Habe und gebt den Erlös den Armen! Macht euch Geldbeutel, die nicht zerreißen. Verschafft euch einen Schatz, der nicht abnimmt, droben im Himmel, wo kein Dieb ihn findet und keine Motte ihn frisst. Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz." (Lk 12,33f.) Am Überfluss kann man sonst ersticken (vgl. Dtn 28,47; Ps 37,16; Spr 30,22; Koh 5,11; Tob 4,16; Lk 21,4; vgl. auch 2 Kor 8,14f.; 9,1.8.12).

Dies alles hat durchaus mit unserem Alltag zu tun, wenn wir z. B. individuell über unsere Verhältnisse leben; wenn wir uns Vermögen und Eigentum ansammeln, das wir eigentlich - mindestens in dieser Höhe - nicht brauchen. Aber wir verstoßen auch gegen diese Grundsätze, wenn wir staatlicherseits in fast unvorstellbaren Größenordnungen Schulden machen und damit auch die künftigen Generationen belasten. Die letzten Monate haben uns gelehrt, dass ganze Staaten sich ein solches Gefängnis aus Schulden schaffen. Aber auch andere Ereignisse haben uns geholfen, falsche Sicherheit zu vermeiden, z. B. die Sicherheit von Atomreaktoren. Wie leben wir? Was leitet uns im Alltag, woran orientieren wir uns? Sind wir süchtig, gerade auch auf den Märkten unserer Welt? Heute ist Gelegenheit zur Nachdenklichkeit und zur Besinnung.

So ist es also keine altmodische Redeweise, wenn wir vor Habgier und Habsucht warnen, sondern unser künftiges Leben wird gewiss nur gelingen, wenn wir wieder Maß, Bescheidenheit und was man heute „Entschleunigung" nennt, halten lernen. Jedes egoistische Gewinnstreben ist ein Stück weit Gier. Dies kann bei kleinen Gewinnen im Hintergrund bleiben, aber auch schamlos werden. (Näheres dazu K.-H. Brodbeck, Die zweifelhaften Grundlagen der Ökonomie, Darmstadt 2011.) „Wer aus Habsucht nach Wohlstand strebt, lebt in Sorge, dass er an absolutem Wert verliere. Wo Neid hinzukommt, sinkt selbst bei einem Krösus das Wohlergehen, sobald ihn andere im Wohlstand überrunden. Wer dagegen ohne Habsucht und Neid, überdies bescheiden lebt, fühlt sich schon mit Wenigem sehr wohl." (O. Höffe, Lebenskunst und Moral, 153). Wiederum ein Philosoph. Ich glaube, dass viele von uns den Maßstab des guten Lebens verloren haben. Es gibt wohl kaum Ausnahmen. Es wird Zeit, dass wir ihn wieder neu lernen. Amen


Karl Kardinal Lehmann
Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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