Die Häuser der Toten

Das Grab und der Friedhof als Spiegel von Glaube und Kultur

Datum:
Freitag, 9. September 2005

Das Grab und der Friedhof als Spiegel von Glaube und Kultur

Die Häuser der Toten
Das Grab und der Friedhof als Spiegel von Glaube und Kultur
Festrede bei der Friedhofskulturellen Tagung anlässlich der Bundesgartenschau in München am 9. September 2005, veranstaltet vom Bundesinnungsverband des Deutschen Steinmetz-, Stein- und Holzbildhauerhandwerks

Man kann vieles über den Tod sagen, aber man muss sich zugleich eingestehen, dass er auch Schweigen gebietet. Deshalb ist es schon auch ein Paradox, über den Tod zu reden. Tod und Leben scheinen sich so auszuschließen, dass beides wie Wasser und Feuer, ja noch viel widersprüchlicher erscheint. Ähnliches können wir auch heute wieder recht unterschiedlich beobachten. So gibt es eine überreiche, nicht mehr überschaubare Literatur über den Tod und das Sterben, aber es gibt auch ein zurückhaltendes Reden über alles, was danach kommt. Damit ist in erster Linie nicht der Glaube an ein ewiges Leben gemeint, sondern an die Bestattung und das Grab. In vielen Kulturen haben die Beerdigung, also das Einsenken des Leichnams in unsere Erde, und die Feuerbestattung einen Vorrang. Aber in jüngster Zeit gab es wohl tiefere Einschnitte im Umgang mit den Toten. Es gibt anonyme Urnenhaine und virtuelle Erinnerungsorte, wie etwa eine digitale Gedenkseite im Internet. So haben wir auch weithin eine große Friedhofs- und Grabkultur vergessen und manchmal geradezu tabuisiert. Nur mühsam wird sie wieder zugänglich gemacht. So erhebt sich die Frage, ob uns dabei nicht etwas entgangen ist, nämlich Aufschluss über den Menschen und damit uns selbst.

I. Menschwerdung und Grab

Nicht selten ist es erhellend, an die Wurzeln und die Quellen unseres Menschseins zu gehen. Da kann man manches entdecken, was uns verloren ging. So ist es auch mit dem Grab. Denn die Gräber bilden neben den Siedlungen eine große Kategorie archäologischer Denkmäler. Es ist erstaunlich, wie sehr der Umgang mit den Toten die frühen Kulturen geprägt hat. Kein geringerer als der große jüdische Philosoph Hans Jonas hat nach vielen Studien die These vertreten, dass vor allem drei Dinge den Menschen vom Tier unterscheiden, nämlich Werkzeug, Bild und Grab. Über die Suche nach Grundkoordinaten einer philosophischen Anthropologie schreibt er: „Meine Wahl fiel auf Werkzeug, Bild und Grab, die lange vor den geschichtlichen Kulturen, vor den großen Behausungen der Götter und den Schrifttafeln unter den Überresten der Vergangenheit erscheinen, keinen Zweifel an ihrem menschlichen Ursprung lassen und unterschiedlich Entscheidendes über den Menschen aussagen.“ In der Tat wird dies wiederum auf weite Strecken von der Erforschung der frühen Menschheitsgeschichte bekräftigt, so dass einer ihrer großen Vertreter zusammenfassend sagen kann, dass die in den Bestattungsfunden „zum Ausdruck kommende Pietät den Verstorbenen gegenüber zu den normalen Wesenszügen der Menschheit von ihren Anfängen an gehört“ .

Es gibt gewiss bei der Vielfalt der Religionen und Weltdeutungen mannigfaltige Umgangsweisen, aber doch auch konvergierende Gemeinsamkeiten. Das Grab ist Ruhestätte und Aufenthaltsort der Toten. Es hat eine Schutzfunktion, indem es den Leichnam vor Schändung durch Menschen, vor gewaltsamer Vernichtung durch Tiere oder Naturkatastrophen und vor schädigenden Angriffen von Dämonen bewahrt. Schutzsymbole und entsprechende Inschriften verstärken diesen Aspekt. Für manche Religionen ist auch wichtig, dass das Grab gewisse Sicherungsfunktionen für die Lebenden in sich begreift, denn so wird der Tote im Grab festgehalten. Er kann nicht störend, erschreckend oder zerstörend in die Bereiche der Lebenden eindringen. Das Grab ist auch ein geeigneter Ort, um den Kontakt zu einem Toten zu suchen, um ihn zu befragen oder ihm Totenopfer darzubringen. Schließlich bewahrt das Grab die Erinnerung an den Toten oder die Tote, so dass wir mit Recht von einem Grab-Mal als einem geeigneten Ort für dieses Gedächtnis sprechen.

Gewiss kann man diese Funktionen noch etwas hinterfragen. Dabei geht es um den spezifisch menschlichen Charakter der Bestattung. Kein Tier bestattet seine Toten und beachtet sie auch weiterhin kaum mehr. „Als einziges von allen Wesen weiß der Mensch, dass er sterben muss, und indem er das Nachher und das Dort bedenkt, bedenkt er auch das Jetzt und Hier seines Daseins, d.h. er sinnt über sich selbst nach. An den Gräbern kristallisiert sich die Frage: Wo komme ich her, wo gehe ich hin? und letztlich die: Was bin ich – jenseits dessen, was ich jeweils tue und erfahre? Damit taucht die Reflexion als neuer Modus der Vermittlung auf.“ Hans Jonas ist der Meinung, dass der Mensch im Blick auf das Grab damit sogar über das Werkzeug und das Bild hinaus zum typisch Menschlichen gelangt.

In gewisser Weise wird diese Reflexion dadurch verstärkt, dass der Mensch von sich allein wegdenkt und auf den Zusammenhang mit seinen Vorfahren sinnt. Er erweitert das flüchtige Jetzt seines Lebens und transzendiert seine eigene Lebenszeit. So etwas wie eine Gemeinschaft der Geschlechter als eine überindividuelle Größe kommt in den Blick. Auch von hier aus ist es verständlich, dass dies zur Anlage von so etwas wie einem „Friedhof“ führt, wo die Toten gleichsam miteinander ruhen. Tote werden nicht einfach an beliebigen Orten verscharrt, sondern es entwickelt sich eine gemeinsame Kultur des Umgangs mit ihnen. In diesem Zusammenhang darf noch angemerkt werden, dass unser Wort Friedhof im Ursprung weniger mit Frieden zusammenhängt, den der Tote genießen soll. Freilich ist dies später durch die Nachbarschaft von Kirche und Friedhof oft so verstanden worden. Friede war in der Tat auch dadurch gewährleistet, dass der Friedhof gegenüber Beamten von Behörden und den Vertretern der Öffentlichkeit „immun“ war. Es gab kein Eingriffsrecht auf den Friedhof für sie. Ganz am Ursprung heißt Friedhof schon seit dem 9. Jahrhundert – und dies ist der eigentliche Sinn - ein „eingefriedetes Grundstück“, das Schutz und Schonung verleiht.

So wird im Ganzen noch etwas anderes erkennbar, auf das auch Hans Jonas aufmerksam macht. Indem man den Toten in der eigenen Nähe behalten möchte, ihm ein Grab bereitet und ihm damit auch zur Erinnerung ein Denk-Mal widmet, wehrt man sich gegen die bloße Vergänglichkeit und das reine Vergessen. Es steckt in diesem Verhalten ein Wille dahinter, der „dem Augenschein Trotz bietet und sein Denken ins Unsichtbare erhebt“ Dies muss noch nicht heißen, dass man an eine Ewigkeit im gereinigten Sinne späterer philosophisch-theologischer Begrifflichkeit denkt. Oft ist es sogar so, dass man an ein „Fortleben“ nach dem Tod so denkt, dass es eine modifizierte Verlängerung des bis jetzt geführten Lebens ist. So kommen z.B. auch unter den Grabbeigaben Waffen vor, mit denen der Verstorbene seine hiesigen Kämpfe an einem anderen Ort fortsetzt. Aber gerade die Friedhofskultur und besonders auch die Sprache der Kunst in der Gestaltung des Grabes weisen – auch wenn dies auf sehr verschiedenen Wegen geschieht – in diese Richtung. In diesem Zusammenhang meint Hans Jonas, dass die Menschlichkeit, das Transanimalische beim Gräberkult auch aus folgendem Grund über die Bedeutung des Werkzeuges und des Bildes hinausgeht: „Denn es ist mit Glaubensvorstellungen verbunden ... Gemeinsam ist allen, dass sie irgendwie dem Augenschein unserer Endlichkeit Trotz bieten und über alles Sichtbare hinweg ins Unsichtbare, vom Sinnlichen ins Übersinnliche fortschreiten.“

Die Bestattung hat sich durch soziale und kulturelle, weltanschauliche und religiöse Faktoren erheblich verändert. Dabei gab es auch tiefe Wandlungen, weil die Rahmenbedingungen der einzelnen konkreten Bräuche wechselten. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das Verhältnis der Kirchen, vor allem der katholischen Kirche, zur Feuerbestattung. Das Verbot dauerte in der katholischen Kirche bis zum Jahr 1963. Fast ein ganzes Jahrtausend, von Karl dem Großen bis zur Französischen Revolution, war die Feuerbestattung als Brauch geradezu erloschen. Die Kirche hat jedoch nie verkannt, dass es Verhältnisse geben kann, in denen z.B. aus hygienischen Gründen, etwa zur Abwehr einer Seuche, Feuerbestattung gerechtfertigt sein kann. Nach der Aufklärung haben jedoch vor allem Freimaurer und Marxisten die Feuerbestattung betont als praktisches Mittel gegen die Kirche eingesetzt, indem sie ihrerseits in der Feuerbestattung ein Argument gegen die Unsterblichkeit der Seele und den Glauben an eine Auferstehung der Toten sahen. Diese Anschauungen wurden auch in größerem Stil propagiert. Dies war der Grund, warum die Kirche die Feuerbestattung im 19. und frühen 20. Jahrhundert untersagte und das Begräbnis verweigerte. Da die Feuerbestattung um die Mitte des 20. Jahrhunderts jedoch kaum mehr aus ideologischen, sondern immer mehr aus hygienischen, wirtschaftlichen und auch ästhetischen Gründen erfolgte, wurde das prinzipielle Verbot der Feuerbestattung aufgehoben. Sie ist freilich auch heute nicht gestattet, wenn sie den Glauben an die Auferstehung in Frage stellen will. Dies sollte ein Beispiel sein, wie sich der geistige und kulturelle Kontext auf bestimmte Bestattungsformen und ihre Beurteilung auswirken.

II. Zu den gegenwärtigen Wandlungen der Bestattungskultur

Es braucht hier nicht dargestellt zu werden, wie sich die Bestattungskultur bis in unsere Gegenwart veränderte. Ich möchte jedoch an zwei Tendenzen verdeutlichen, welche Folgen solche Wandlungen haben, und wie daraus neue Konflikte erwachsen können.

Einmal sind anonyme Rasengräber zu sepulkralen Mustern veränderter gesellschaftlicher Lebenswelten geworden. Dabei ist die Entwicklung in anderen Ländern sogar schon weiter vorangeschritten als bei uns. Es gibt dafür auch den freilich vieldeutigen Begriff der „anonymen Beisetzung“. Dabei geht es nicht primär um Massenbeisetzungen in einem gemeinsamen Grab ohne individuelle Kennzeichnung. Dies war oft das Schicksal der Armen. Ich erwähne hier nur den sogenannten „Friedwald“, eine aus der Schweiz stammende Idee eines naturnahen Begräbnisplatzes. Der Friedwald entsteht auf einer der Natur überlassenen, baumbestandenen Landschaftsfläche, bei der die Asche eines Toten zu den Wurzeln eines Baumes hin eingegeben wird. Der Baum ist zugleich Grab und Grabmal. Dabei geht man in anderen Länder weiter, wo z.B. in der Schweiz die Asche an jedem beliebigen Ort beigesetzt werden kann. Das holländische Bestattungsrecht erlaubt die Mitnahme der Asche nach Hause ebenso wie das Verstreuen in der freien Natur oder vom Flugzeug aus über dem Meer. Außer Urnen gibt es auch Plastiken, Standbilder und andere künstlich gestaltete Behälter. Die jüngste deutsche Diskussion ist oft nur eine Nachwirkung dieses Trends.

Diese Form der Bestattung ruft wie die des Bestattungswesens überhaupt die allgemeine geistige und gesellschaftliche Entwicklung in Erinnerung. Denn dies ist ein Beispiel für die Veränderung unserer Lebenswelt. Unsere Lebenswelten sind individueller, flexibler, pluraler und mobiler geworden. Darin fügt sich die Entwicklung der erwähnten Rasenbeisetzung ein. Sie muss nicht absolut in sich selbst und für immer fragwürdig erscheinen. Aber ihre anonyme Struktur kann sehr leicht nicht nur mit einer steigenden Individualisierung und Privatisierung unserer Lebenswelten einhergehen, sondern auch Ausdruck der Überzeugung sein, dass es nach dem Tod kein individuelles Leben mehr gibt, Namen keine Rolle spielen oder es jedenfalls gleichgültig ist, individuelle Kennzeichnungen zu verwenden oder nicht. Nicht selten verbindet sich diese Haltung auch mit überzeichneten ökologischen oder naturschwärmerischen Vorstellungen, dass sich nun das individuelle Leben gleichsam erlöst-erlösend in die All-Natur hinein auflöst. Eine solche Orientierung ist heute oft auch deshalb naheliegend, weil allenthalben von der „Auflösung des Subjekts“ die Rede ist, die nicht nur die Konfiguration eines neuzeitlichen Begriffs von Individuum mit ihren Übersteigerungen betrifft, sondern auch den klassischen Begriff der Person zum Einsturz bringt. Unter diesen Voraussetzungen bricht natürlich auch die Frage eines Fortlebens nach dem Tod und gar des „ewigen Lebens“ von Anfang an in sich zusammen. Sie hat praktisch keinen Ansatz mehr.

Eine andere Variante der Veränderung ist das so genannte digitale Totengedenken. Das Internet ist zu einem neuen Ort des Totengedächtnisses geworden. So spricht man von virtuellen Friedhöfen. Die Gedenkstätten im Internet haben regelrechte Namen, wie z.B. „Hall of Memory“. Sie umfassen biographische Hinweise, private Dokumente wie Fotos, Videos, Musik und andere Erinnerungsstücke. Die „Besucher“ können auch elektronische Botschaften hinterlassen. Die Internet-Gedenkseite ist von überall her erreichbar. Der tote Körper hingegen spielt kaum eine Rolle. Es erscheint ohne Belang, wo die eigentliche Bestattung erfolgt ist. Natürlich ist der virtuelle Ort dieses Totengedenkens auch veränderbar und kann – im Unterschied zu Grabmälern – in flexibler Weise und leicht den verschiedenen Stadien von Trauer und Erinnerung angepasst werden. Die klassischen Friedhöfe haben damit einen großen Funktionswechsel erlitten, denn sie erscheinen zunächst und zuerst als Parkanlagen, in denen menschliche Überreste namenlos - man scheut sich nicht vor diesem Wort - „entsorgt“ werden.

Dabei muss durchaus abgewartet werden, ob diese neuen Formen der Bestattung von einigen Kreisen, die sich auch sonst für avantgardistische Eliten halten, modisch propagiert werden, ohne viel Anklang zu finden, oder ob sie doch in einer immer mehr pluralistischen und säkularisierten Gesellschaft auf größere Akzeptanz stoßen. Ökonomische Reize zu solchen Entwicklungen und beruflichen Chancen sind nicht zu übersehen.

III. Die Bedeutung des „Ortes“ für die Bestattung und die Trauer

Gerade bei diesen neueren Formen fällt etwas auf, was ihnen in besonderer Weise zu Eigen ist. Es ist der Ort der Bestattung und auch der Trauer. Einmal wird in dieser Rasenbestattung kein eigener Ort mehr besonders kenntlich. Die Tendenz zur Anonymisierung hebt das Gewicht des Ortes geradezu auf. Der Tote versinkt im grünen Meer. Beim digitalen Totengedächtnis wird dieser Trend noch gesteigert. Denn auf der einen Seite wird der „Ort“ aufgespalten. Es gibt den mehr oder weniger gleichgültig gewordenen Ort der Beisetzung, dem nur die Funktion der „Entsorgung“ zukommt. Und es gibt den völlig „entkörperlichten“ Ort des virtuellen Friedhofs, in dem so etwas wie eine auch räumlich gegebene Präsenz oder wenigstens Erinnerung nahezu keine Rolle mehr spielt. Auf der anderen Seite gibt es den Versuch, von überall her über die Internet-Wege einen Zugang zur Erinnerung an den Toten zu erhalten und elektronische Botschaften zu versenden, ohne sich zu fragen, wie es um den Adressaten bestellt ist. Das Totengedenken würde sich unter diesen Voraussetzungen von den klassischen Orten der Trauer, von den Friedhöfen und Grabstätten regelrecht lösen . Die großen Kulturen wussten zwar tief um den Zerfall der Körperlichkeit, haben aber zugleich im Glauben an die unzerstörbare Bedeutung des menschlichen Lebens und an die göttliche Kraft der Neu-Schöpfung wichtige Voraussetzungen geschaffen, um auch das biblische Bekenntnis zur Auferstehung der Toten zu festigen. Man kann dies im Judentum einerseits und anderseits in Ägypten gut verfolgen Schließlich gehört dazu auch die Erinnerung an die Vorfahren, die schon die vorchristliche Welt beschäftigte. Die konkrete Erinnerung hat immer auch lebendigen Ausdruck gefunden in den künstlerischen Darstellungen aus Stein und Holz, die das Gedenken lebendig vergegenwärtigten und dem Toten einen „Ort“ in unserer Lebenswelt einräumten

Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang zu den klassischen Bestimmungen zurück zu kehren, um das Ausmaß der Veränderungen stärker zu erfassen, und um vielleicht auch das Gewicht des Verlustes zu ahnen, der mit diesen Wandlungen gegeben sein könnte. Es fällt zuerst ja auf, in welchem Maß in diesen neuen Bestattungsweisen zunächst einmal eine starke Lösung vom konkreten Ort des Toten, der Trauer und der Erinnerung erfolgt.

Dieser konkrete Ort ist ja zunächst einmal die Zugehörigkeit des Menschen zu dieser Erde. Der Mensch ist ein Kind der Erde. Dies kommt in eindrucksvoller Weise bereits sprachlich in der Bibel dadurch zum Ausdruck, dass das Wort für den Menschen, Adam („adam“ als Gattungsbegriff, nicht als Eigenname), zugleich ganz eng mit dem hebräischen Wort für die „Erde“ („adama“) zusammenhängt. Dies ist auch anthropologisch von großer Bedeutung. Es kommt in der gegenwärtigen Liturgie zur Austeilung der Asche als Sinnbild der menschlichen Hinfälligkeit und Vergänglichkeit zu Beginn der Österlichen Bußzeit, am Aschermittwoch, plastisch und erinnerungsstark zur Sprache. „Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst.“ Von da aus darf man wohl die Beerdigung im Sinne einer eigenen Form der Bestattung als anthropologisch besonders angemessen betrachten. Es ist ein Bekenntnis zur Erdverbundenheit und Kreatürlichkeit des Menschen.

Das Grab und der Friedhof sind, wie wir gesehen haben, umgrenzt in einem doppelten Sinne. Sie nehmen einen bestimmten Platz ein und grenzen sich dadurch auch von außen ab. Der Tote hat seinen Platz. Auch wenn es ein Mehrfachgrab ist und im Rahmen einer Sippe und Familie bleibt, so gibt es doch eine individuelle Kennzeichnung, die nicht zuletzt durch den Namen und durch die Lebensdaten erfolgt. Als ich einmal auftragsweise auf einen der großen Soldatenfriedhöfe in der Normandie für eine alte Frau das Grab ihres Sohnes suchen und fotografieren sollte, fand ich zu meiner Überraschung sehr viele Gräber mit demselben Namen und dem gleichen Todestag. Nur das Geburtsdatum war ein Indiz. Diese individuelle Erinnerung hat schon damit zu tun, dass wir dem einzelnen Toten einen mit seinem Namen und seiner Lebensgeschichte verbundenen Ort zuweisen können. Dadurch gehört er zu unserer Lebenswelt. Gräber sind in diesem Sinne Häuser der Toten. Auch wenn sie in einer anderen Seinsweise leben und nicht mehr leibhaftig unter uns sind, so haben sie eben nicht nur in der abstrakten Erinnerung, solange wir diese aktiv vollziehen können, einen Platz.

Wir Menschen wissen zwar, dass wir in Raum und Zeit leben, aber wir vergessen doch oft das Gewicht der Orte in unserem Leben. Auch die Soziologie, die sich in besonderer Weise mit den raum-zeitlichen Bestimmungen des Menschen beschäftigen sollte, scheint mir die konkrete Bedeutung dieser „Orte“ im Leben der Menschen noch zu unterschätzen. Es ist auch erstaunlich, dass wenige Lexika philosophischer Grundbegriffe ein Stichwort „Ort“ haben . In einer Gesellschaft, deren Vorzug Mobilität zu schein sein, nimmt die Bedeutung der „Orte“ ab. Dies hat nicht selten auch zur Konsequenz, dass wir ort-los werden und die Orientierung verlieren.

Wir haben bei der Entstehung des Grabes gesehen, dass die Bestattung und das Schaffen eines Grabes und eines Grabmals viel damit zu tun haben, dass der Mensch sich des Zusammenhangs mit seinen Ahnen und Vorfahren bewusst ist und die Erinnerung an die Toten gegen alle Tendenzen zur Vergänglichkeit und zum bloßen Vergessen festhält. Dies lässt sich beim Menschen, der aus Leib und Seele besteht und sich in Raum und Zeit erstreckt, viel eher erreichen und durchhalten, wenn es einen konkreten Ort für das Grab gibt, das eng mit der Erinnerung verbunden ist. Die Menschen hatten in ihren Sitten und Gebräuchen immer ein waches Bewusstsein dafür. Noch in meiner Jugend habe ich zunächst widerwillig mitgemacht, dass die Bauersfamilie, aus der meine Mutter stammt, unter Führung der Großmutter an jedem Sonntagnachmittag wie selbstverständlich einen Besuch bei den Gräbern der Vorfahren und Verwandten machte. Heute begreife ich, wie wichtig das konkrete Erinnern an den Generationenzusammenhang durch diesen Brauch war. Gottesdienst und Friedhofsbesuch, Begegnung mit Freunden und Nachbarn, Krankenbesuch und gemeinsames Essen an Sonn- und Feiertagen gehörten zusammen.

Es ist meines Erachtens eine leibfeindliche, vom Platonismus oder von der Gnosis beeinflusste Haltung, wenn man die Erinnerung und die Trauer im Blick auf die Toten aufspaltet, nämlich in einen rein mentalen Vorgang des digitalen Totengedenkens, das völlig losgelöst ist von jedem sinnlichen Ort, und ein fast totales Vernachlässigen des konkreten Ortes, wo dieser Mensch bestattet bzw. beerdigt ist. Man muss den Menschen ganzheitlicher sehen. Man muss auch die bleibende Bedeutung eines Ortes stärker würdigen, sonst verlieren eben auch die Begriffe Vergangenheit, Erinnerung und Gedenken ihre Kraft „Die anonyme Bestattung ist die Ausdrucksform einer mobilen Gesellschaft in der eine besondere emotionale Bindung an bestimmte Gedächtnisorte keinen Sinn mehr macht ... Diese Entwicklungen zeugen auch davon, dass sich die Beziehungen zu den Erinnerungsorten in einem grundlegenden Sinn verändert haben – und damit auch zu den Orten von Tod und Trauer.“ Die neuen, modernen Lebenswelten kennen in diesem Sinne keine festen Orte mehr. Alles ist nur Durchgangsstation. „Das Flüchtige wird zum Selbstverständlichen und lässt alles Dauerhafte als historisches Relikt erscheinen.“

Ich glaube, dass man von hier aus in neuer Weise Gräber und Friedhöfe in ihrer klassischen Form und ihrer bleibenden anthropologischen Bedeutung wieder entdecken kann. Man kann verstehen, warum es besonders in den alten Kulturen, vor allem in Ägypten , nicht nur ausgeprägte Jenseitsvorstellungen, sondern auch ein kräftiges Bewusstsein für die Bedeutung der Grabmäler gegeben hat. Es ist zu simpel, wenn man unsere Friedhöfe mit den eindrucksvollen Grabmälern sowie der Grabeskunst und der ganzen sepulkralen Architektur als Ausdruck bloß einer bürgerlichen Auffassung vom Tod versteht. Gewiss gibt es Ausdrucksformen auch in diesem Bereich, die eng mit der Prägung einer Gesellschaft einhergehen, aber sie erschöpfen sich nicht in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit, sondern bringen wirklich zum Ausdruck, worum es dem Menschen geht. Man kann dies ganz besonders am Totenkult, am Grabbesuch, an den Grabinschriften und am Friedhof insgesamt ablesen, wie sie sich in der Literatur reichlich niedergeschlagen haben. Es ist gewiss nicht zufällig, dass bei einer Dichterin wie Marie Luise Kaschnitz die Sensibilität für „Orte“ ebenso groß ist wie der Sinn für Trauer und Erinnerung an die Toten.

Überhaupt geht es nicht nur darum, dass wir uns der Toten erinnern, um dabei ganz im Bannkreis der eigenen Interessen und Bedürfnisse zu bleiben. Wir müssen die Toten auch in ihrem eigenen Sein und in ihrer Provokation für uns vorkommen und aufgehen lassen. Dies geschieht nicht zuletzt durch die konkrete Erinnerung am Grab und durch den individuellen Namen. So begegnen wir auf lebendige Weise den Toten. „Es ist schön, dass es einem Menschen so schwer wird, sich vom Tod dessen, was er liebt, zu überzeugen, und es ist wohl keiner noch zu seines Freundes Grab gegangen, ohne die leise Hoffnung, da dem Freund wirklich zu begegnen.“ Ja, im Gegenüber zu dem konkreten Grabmal reden die Toten in unser eigenes Leben hinein, wenn wir sie wirklich hören wollen. Sie sagen uns etwas davon, wie wir unser eigenes Leben ändern können und sollen. Der Gang zum Grab und zum Friedhof hilft uns dabei mehr als andere Weisen der Erinnerung. Dies hat viel zu tun mit dem Verständnis des Menschen als Pilger , wie es besonders auch im christlichen Verständnis von Tod und Bestattung zum Ausdruck kommt.

Ich vermute, dass das Handwerk, das sich in besonderer Weise in Stein und Holz dem Gedenken des Toten widmet und damit auch „Orte“ der Erinnerung und des Gedächtnisses stiften hilft, die hier dargelegten Mentalitätswandlungen besonders spürt, und zwar in jeder Hinsicht: kulturell, psychologisch, religiös und natürlich auch ökonomisch. So kann ich Ihnen nur sagen: Bleiben Sie im Blick auf das Menschliche in Ihrer Kunst und in Ihrem Handwerk der großen Kultur vieler Religionen und Regionen der Welt treu. Dazu möchte ich Sie ermutigen. Soweit es an uns liegt, möchten die Kirchen Sie dabei bestärken. Darum bin ich auch gerne zu Ihnen gekommen.

 

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort

Im Original sind eine Reihe von Fußnoten enthalten, die auf Literatur verweisen.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz