ACKERMANN--DREYER--LEHMANN--SKALA--WIESEMANN (c) Bistum Mainz / Blum (Ersteller: Bistum Mainz / Blum)

Ein Blick mit der Bibel auf die Demografie

Datum:
Mittwoch, 6. November 2013

Ansprache beim St. Martins-Jahresempfang 2013 am 6. November 2013 in Mainz

Die Bewältigung des demografischen Wandels ist eines der wichtigsten Probleme bei der Gestaltung unserer Zukunft. Kurz und bündig: Wir werden insgesamt weniger und älter. Das Land Rheinland-Pfalz hat dies stärker als Herausforderung erkannt als andere Bundesländer. Frau Ministerpräsidentin Malu Dreyer hat dieses Thema in ihrer Regierungserklärung im Januar dieses Jahres in die Mitte aller Aufgaben der politischen Verantwortung gerückt. Sie hatte ihr ehemaliges Ministerium, das Herr Minister Alexander Schweitzer übernommen hat, schon früher umbenannt in Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie. Der Aktionsplan der Landesregierung „Gut leben im Alter" aus dem Jahr 2010 zeigt z.B. die Perspektiven der Politik für Seniorinnen und Senioren in Rheinland-Pfalz auf. Die Sensibilisierung für dieses Thema wurde auch fortgesetzt mit der Ersten Demografiewoche Rheinland-Pfalz, die soeben vom 28.10. bis zum 4.11.2013 durchgeführt wurde.

Es ist nun notwendig, neben der sozialphilosophischen Fragestellung auch die theologische Dimension näher zu betrachten. Im Alten Testament ist das Thema in einen umfassenderen Gesamtzusammenhang integriert, der das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft überhaupt betrifft. Es ist freilich nicht möglich, diesen umfassenden Kontext einfach zusammenzufassen. Ich will im Rahmen dieses Kurzvortrages in diesem Zusammenhang nur einen knappen Blick in die Bibel werfen, und zwar in einer einzigen Perspektive.

An den Anfang möchte ich den wichtigen Passus aus der ersten Seite der Bibel stellen, der in wenigen Grundlinien den Umriss des biblischen Menschenbildes vorgibt. Im Zusammenhang der Erschaffung des Menschen und der Welt heißt es im Blick auf den Menschen als Ebenbild Gottes „Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar, und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen." (Gen 1,26-28)

Es ist hier zu beachten, dass dieser Aufruf mit einem elementaren Grundwort der Bibel eingeleitet wird „Gott segnete sie" (Gen 1,22), nämlich dass dies also ein Segen ist. Man hat darauf hingewiesen, dass sich dies nicht nur auf einen einmaligen Vorgang am Anfang der Schöpfung bezieht, sondern dass der Schöpfer immer wieder in seinem Tun einen Anfang setzt, der ein Segen ist. Immer wieder wird in der Bibel dann auch das Eintreten dieses Segens in den einzelnen Etappen der Geschichte dargestellt. Dieser Segen ist eine Gabe Gottes, die freilich durch den Menschen verwirklicht wird. Die Fruchtbarkeit im Sinne des Über-sich-Hinausweisens von Mann und Frau gehört zum Menschlichen. Darum erscheint auch die Unfruchtbarkeit als ein böses Schicksal. Umgekehrt erscheinen Kinder in besonderer Weise als Gabe Gottes. „Die Zuordnung von Mann und Frau hat sicher nicht nur, aber doch zu einem wesentlichen Teil ihren Sinn darin, Kinder zu zeugen. Nach der [Schöpfungserzählung der] Priesterschrift kann die Menschheit ihre Kulturaufgabe auf der Erde nur wahrnehmen, wenn sie sich vermehrt."

In Gen 1 ist diese Aussage zur Fruchtbarkeit und zur Vermehrung der Menschheit eine ganz eindeutig positive Aussage. Über die Reichweite dieses „Befehls" („Seid fruchtbar, und vermehrt euch,...") sind die Exegeten eher zurückhaltend. Sie gehen zunächst davon aus, dass dieses Wort, mit dem Gott selbst direkt die Menschen anspricht, an eine kleine Zahl von Männern und Frauen gerichtet ist. Ganz gewiss ist es ein Segen, der nicht auf eine bestimmte Generation begrenzt ist. Gewiss wird die Segnung des Menschen in Gen 1,28 auch auf die Zukunft bezogen. „In der Geschlechterfolge wirkt sich der Segen aus." Wir wollen jetzt diesen Text nicht mit unseren gegenwärtigen Fragen „Grenzen des Wachstums" belasten. Es scheint mir, dass dieser Text angesichts des demographischen Defizits jedoch eine vertiefte und neue Beachtung erfahren sollte. Er hat gewiss eine positive Ausrichtung im Blick auf den Zusammenhang der Generationen.

In diesem Zusammenhang ist es nun an der Zeit, einen Grundgedanken der Hl. Schrift über die Generationensolidarität an einem konkreten Beispiel zu veranschaulichen. Alle kennen das „vierte Gebot": „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt." (Ex 20,12; Dtn 5,16) Mit diesem so genannten Elterngebot setzt im Dekalog die Reihe der Sozialgebote ein. Dabei hat man sich oft gewundert, warum dieses Elterngebot an der Spitze steht. Dies hat gewiss mit der Interpretations- und Wirkungsgeschichte zu tun. Wir sind im Verständnis dieses Gebotes verunsichert, weil wir dieses Gebot seit langer Zeit vor allem in der Unterordnung der Kinder unter die Eltern deuten und dabei besonders die Aspekte der Autorität und des Gehorsams hervorgehoben haben. In diesem Sinne betrachten viele, die dem Gebot nicht mehr in seinem authentischen Sinn nachgehen, es als Ausdruck einer weitgehend patriarchalischen Lebensordnung. Wir verstehen dieses Gebot nicht mehr angemessen, besonders in einer Zeit, die in solchen Texten rasch „repressive Pädagogik" am Werk sieht.

Dem ursprünglichen Sinn nach richtete sich die Pflicht, Vater und Muter zu „ehren", an die erwachsenen Kinder zur Sicherstellung der Versorgung der alten Eltern. In vielen Rechtssammlungen, in den Sprichworten der Weisheit wie in der Prophetie spielt das Verhalten gegenüber den Eltern eine überaus große Rolle. Dieses Gebot steht wohl ganz bewusst an der Spitze der ethischen Weisungen im Alten Testament. Nächst Gott ist jeder seinen Eltern Ehre schuldig, weil er ihnen sein Leben schuldet. Im Grunde geht es hier nicht um das Verhältnis von Kindern zu Eltern, sondern von Erwachsenen zu Alten. Es gab damals keinerlei außerhäusliche Altersversorgung. Die Alten, Kranken und Schwachen waren allein auf die Versorgung durch die Jüngeren angewiesen. Auch der so häufige und dringende Wunsch nach männlichen Nachkommen und die Nöte, die beim Ausbleiben von Söhnen entstanden, haben diesen Hintergrund. Söhne waren lebensnotwendig für die Zeit des Alters. „Ehren" (kibbed) meint in diesem Zusammenhang die Verpflichtung zu konkreten materiellen Versorgungsleistungen. Dies ist kein einmaliger Akt, sondern es ist geradezu ein „in Ehren halten". „Das Gebot zielt so nicht auf eine spezifische Legitimation elterlicher Gewalt, sondern will vielmehr der Gefahr der Mittel- und Hilflosigkeit, der gerade der alte Mensch ausgesetzt war, entgegenwirken." Das Elterngebot im Dekalog meint also „konkret die angemessene Versorgung der alten Eltern mit Nahrung, Kleidung und Wohnung, bis zu ihrem Tod, darüber hinaus einen respektvollen Umgang und eine würdige Behandlung, die trotz der Abnahme ihrer Lebenskraft ihrer Stellung als Eltern entspricht. Dazu gehört schließlich eine würdige Beerdigung." „Ehren" steht nicht nur gegen Missachten, Verachten, Verfluchen, Schlagen, Gleichgültig-sein, sondern hat durchaus etwas mit Ehrfurcht zu tun, die in allgemeiner Form alle Verhaltensweisen ethisch bestimmt und religiös prägt.

Dieser Befund ist sehr wichtig, wird aber leider sehr oft in einer problematischen Weise isoliert. Dies ist gerade für unser Thema wichtig. Die Eltern haben nämlich eine eigene Stellung in diesem Gebot, weil sie auch die Aufgabe haben, z.B. den Dekalog weiterzugeben. Die gegenwärtige Generation der Eltern soll sich die Weisungen Gottes einprägen und die Söhne darin unterweisen. Darin ist die Weitergabe der Tora impliziert. Dabei kann man erkennen, dass auch für diese Aufgabe die Reihe der Weitergabe sich auf drei Generationen erstreckt. Es geht also auch um die Anerkennung der Eltern und ihrer Vermittlungsaufgabe. Dies gilt erst recht für manche Epochen des Alten Testaments, in denen die Institutionen zusammengebrochen sind, die die profanen und religiösen Traditionen gebunden und gepflegt haben. In diese für das Überleben und die Identität des Volkes lebensgefährliche Lücke müssen die Eltern einspringen. Die Aussagen der späten Weisheitsbücher dürfen hier nicht übersehen werden. Dabei ist die Erzähltradition, die von den Eltern bzw. vom Hausvater auf die Kinder überging, die wohl entscheidende Überlieferungsform. Die Bibel weiß, dass solches Erzählen zum ABC des Glaubens gehört: „Erzählt euren Kindern davon, und eure Kinder sollen es ihren Kindern erzählen und deren Kinder dem folgenden Geschlecht." Dabei ist nicht zu übersehen, dass es hier gerade auch um die spezifische Form der mündlichen Überlieferung geht, die zugleich die Praxis des Lebens aus dem Glauben und die Vorbildfunktion der Eltern einschließt. Es besteht kaum ein Zweifel, dass dieser generationenübergreifende Zusammenhang, der den Glauben kommenden Generationen weitergibt, für das Überleben nicht zuletzt auch des Judentums und des christlichen Glaubens über Tausende von Jahren eine entscheidende Rolle spielt. Dabei geht es nicht nur um die Weitergabe isolierter oder abstrakter Glaubensüberzeugungen, sondern um die Voraussetzungen und Bedingungen, die gegeben sein müssen, um geistige, spirituelle Erfahrungen, Werte und Inhalte weiterzuvermitteln.

Dabei ist eine solche Kraft des Zusammenhaltens und der Solidarität in einem Grundvertrauen zwischen den Generationen begründet, der nicht nur den Willen zur Überlieferung von Werten und Geboten voraussetzt, sondern eben vom Anspruch der Wahrheit des Glaubens selbst abhängt. Am Ende können nur die Kraft des Glaubens und die Freude an ihm durch alle Schwierigkeiten hindurch eine Solidarität und Kontinuität erzeugen, die auch die Bedrängnisse und Wirren der Geschichte überdauert. Man weiß auch, dass eine solche Weitergabe des Glaubens gefährdet ist. Man befürchtet, dass die Wundertaten Gottes vergessen werden könnten. Es ist überliefert, dass nach Josuas Tod und dem Aussterben seiner Generation „ein anderes Geschlecht aufkam, das von Jahwe nichts wusste noch von den Taten, die er für Israel getan hatte". In Psalm 71,18 fleht der Bittsteller sogar um hohes Alter und graue Haare, damit er kommenden Geschlechtern von Gottes Macht künden könne. Auch das Gedenken an notwendige Gerichtstaten Gottes muss künftigen Generationen überliefert werden. Wenn schon der Übergang von einer Generation zur anderen im menschlichen Leben Unterbrechung und Unruhe verursacht, so nimmt es nicht wunder, dass besonders die Hüter des Glaubens diesem Übergang mit gesunder Besorgnis gegenüberstehen. Immer wieder richtet sich daher diese Sorge auf Gott selbst, denn er ist der entscheidende Garant der Beständigkeit. Er ist die Zuflucht, auf die man sich verlassen kann von Geschlecht zu Geschlecht.

Es ist nicht nur Sache der Eltern, den jungen Menschen Antworten auf ihre Fragen zu geben, sondern vor allem, wie eben schon angedeutet, ihnen eine stete Zuflucht zu bieten, in der sie wie selbstverständlich alles finden, was sie zum gesicherten Leben benötigen. „Der Gottesfürchtige hat feste Zuversicht, noch seine Söhne haben eine Zuflucht." Die Waisen werden deshalb besonders dem allgemeinen Schutz empfohlen. Ein törichter Vater kann seinen Söhnen keine Hilfe bieten. Dabei ist aufschlussreich, dass nicht nur wie in allen Formen des Elterngebots die Mutter ausdrücklich neben dem Vater genannt wird, sondern gelegentlich auch vor ihm. - Die Familie heißt einfach „Haus" (bajit) oder „Vaterhaus" (bēt´āb). Dieser Begriff von Familie wird, wie eigens gezeigt werden müsste, im Neuen Testament intensiviert, ausgeweitet und integriert.

Dieser Hinblick besonders auf das Alte Testament scheint in mancher Hinsicht für die Fragestellung nach dem Generationszusammenhang wichtig zu sein. Sicher werden zunächst die Fragen der Altersversorgung angesprochen. Aber es geht auch um die Achtung der jungen Menschen vor den Älteren, nicht zuletzt wegen ihres Vorsprungs an Erfahrung und Weisheit. Dies begründet echte Autorität. Dennoch haben die Eltern auch die Pflicht, ihre Kinder im Blick auf ihre Lebensüberzeugungen und Lebenserfahrungen, besonders aber auch im Blick auf den Glauben zu unterrichten und diesen den künftigen Generationen weiterzugeben. So ist auch die Ehrerbietung nicht nur materiell zu verstehen, wie umgekehrt die älteren Generationen ihre Pflicht gegenüber den Kindern fortsetzen müssen. Jedenfalls gilt, was R. Gronemeyer in die Worte fasst: „Das Verhältnis der Generationen ist in dem Gebot verpackt, wenn das auch in den urtümlichen Worten schwer erkennbar ist. Dann besagt es, dass die Älteren die Lebensmöglichkeiten der Nachkommen im Auge haben müssen - denn sonst sind sie nicht ehrenwert. Und es besagt, dass die Jüngeren die ‚Ausgebrauchten‘ nicht als Entsorgungsfälle betrachten dürfen, weil sie sonst die Humanität ihrer Gesellschaft beschädigen. Überträgt man das Gebot auf unsere modernen Verhältnisse, dann erinnert es daran, dass Egoismus - der dem anderen die Würde abspricht - die Substanz einer menschenwürdigen Gesellschaft zerstört. Mehr als Erinnerungshilfe kann das Gebot nicht sein, es spricht sehr deutlich in eine vorneuzeitliche Lebenslage, die durch den Familienverband bestimmt ist. Je weniger das Leben des Einzelnen aber durch familiäre Verhältnisse geprägt ist, desto mehr muss der Geist dieses Gebotes auf die neuen - sagen wir ruhig - multikulturellen Verhältnisse der Menschen übertragen werden."

Damit sind wir in einem raschen Übergang bereits auch bei der gegenwärtigen Wirklichkeit angelangt. Es ist immer wieder darauf aufmerksam gemacht worden, in welch hohem Maß der Generationenvertrag im Sinne der Generationensolidarität heute bereits von den ökonomischen Grundlagen her erschüttert wird. Es wäre jedoch fatal, wenn die zweifellos tiefgreifende Veränderung der Lebensverhältnisse auch eine Aufkündigung der Generationenzusammengehörigkeit nach sich ziehen würde. Wenn dies geschehen sollte, gibt es keine Solidarität und Verantwortung mehr füreinander, sondern bestenfalls einen perfektionierten Lobbyismus. Dies alles kann in einem artigen Gewand einhergehen, so wenn z.B. eine „Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen" gegründet wird oder mit großer Selbstverständlichkeit die Gleichberechtigung bzw. Gleichheit der Generationen eingefordert wird.

Diese Perspektive hat natürlich mehrere Dimensionen. Sie darf nicht einfach zum Vorwurf an die junge Generation werden. Hier kommt z.B. auch wirklich die Frage nach der Weitergabe der Werte ins Spiel, die ja oft etwas abstrakt bleibt. Die Gesellschaft verrät heute z.B. oft Werte, die Jugendliche brauchen, um ihr Leben zu gestalten. Manches führt in die Gewalt, in die Kriminalität und in das seelische Leiden. Erwartet werden Durchsetzungsfähigkeit, Flexibilität, Ellbogen - eben Erfolg um jeden Preis. So können Jugendliche, die darin eigentlich nicht ihre Welt erkennen können, gleichgültig werden. Dies führt schließlich zu mannigfachen Formen der Ausweglosigkeit und der Verweigerung. Dieses Verhalten der Erwachsenen gibt jungen Menschen keine Zukunft.

Diese Vermittlung mannigfacher Werte an andere Generationen geschieht nicht mechanisch, automatisch oder umsonst. Dies ist beim Menschen anders als z.B. im organischen Bereich. Die Sorge für die eigenen Nachkommen ist bereits viel primitiveren Organismen eigentümlich und lässt sich soziobiologisch leicht erklären. Es erscheint darum in diesem Lichte als ungewöhnlich, wenn eine Kultur sich von elementaren Prinzipien intergenerationeller Solidarität entfernt. Genau das aber scheint derzeit in vielen westlichen Industriestaaten zu geschehen. Dafür gibt es viele Ursachen. Weder der Markt noch die Demokratie garantieren die Rechte kommender Generationen. Die kommenden Generationen sind auch noch nicht da. Dies ist nicht nur eine selbstverständliche Banalität, sondern hat durchaus auch eine metaphysische Dimension, denn es geht um Verantwortung gegenüber Menschen, die noch gar nicht sind und deren Bedürfnisse wir im einzelnen noch nicht kennen, die wir aber eben doch als künftige Menschen in einem uneingeschränkten Sinne erwarten. Hans Jonas hat sich immer um die Frage gequält, wie Menschen, die noch nicht existieren, überhaupt Rechte haben können. Die heute lebenden Generationen verfügen im Übrigen erstmals über technische Möglichkeiten, den Fortbestand menschlichen Lebens ernsthaft zu gefährden oder zumindest durch gegenwärtige Entscheidungen und Verhaltensweisen die Lebensfundamente künftiger Generationen in einem bisher kaum bekannten Ausmaß zu beeinträchtigen. „Beruhten Generationen-Konflikte bisher weitgehend auf Auseinandersetzungen zwischen Wertvorstellungen der jüngeren und älteren bzw. vorangegangenen Generationen, so berühren Werthaltungen und Verhaltensweisen der heute lebenden Generationen nun auch existenzielle Belange künftiger Generationen. Die heute lebenden Generationen haben die Möglichkeit, diese Belange gegenwärtigen Zweckmäßigkeiten oder Erleichterungen zu opfern."

Vor diesem Hintergrund ist die Frage nun auch verständlich, ob man nicht künftige Generationen stärker schützen müsse. Es kam der Gedanke auf, ob dieser „Schutz des Schwächeren" nicht auch auf den Schutz künftiger Generationen ausgedehnt werden müsse. Schließlich sind Leben, Freiheit und Menschenwürde künftiger Generationen gefährdet. „Die schutzwürdigen Belange künftiger Generationen gelten insbesondere dann als bedroht, wenn es nicht gelingt, die Gefahren abzuwenden, die sich aus Überbevölkerung, Erschöpfung wirtschaftlicher Ressourcen und Zerstörung der Umwelt, aber auch aus einer überhöhten Staatsverschuldung, aus unzureichenden Investitionen in die Zukunft oder aus Manipulationen des Erbgutes ergeben." In dieser Linie liegt auch der Gedanke, den die Cousteau-Society der Vollversammlung der Vereinten Nationen vorgelegt hat. Den Rechten der jetzt lebenden Generation werden dabei die „Grundrechte künftiger Generationen" gegenübergestellt: „Kommende Generationen haben u.a. ein Recht auf eine unverseuchte und unbeschädigte Erde. Als Sachwalter künftiger Generationen besteht für jede Generation die Pflicht, irreversible und irreparable Schäden des Lebens auf der Erde, der Menschenwürde und Freiheit abzuwenden und Maßnahmen zu ergreifen, um die Rechte kommender Generationen zu schützen. Die Verantwortung für das Schicksal kommender Generationen umfasst indessen nicht nur die Verantwortung für deren menschenwürdige Existenz, sondern - dieser noch vorgelagert - für deren Existenz überhaupt."

Vielleicht muss man jedoch diese Überlegungen noch weiterführen. An die Stelle der familiengebundenen Altenfürsorge, wie sie etwa das vierte Gebot voraussetzt, ist weitgehend die von der Gesamtgesellschaft getragene Altersversorgung getreten. Damit stellt sich generell ein Zusammenhang mit der jeweiligen Bevölkerungsentwicklung, aber auch mit der jeweiligen wirtschaftlichen Entwicklung überhaupt heraus. Insofern gibt es einen Zusammenhang, der zu einer generationenübergreifenden Solidarität geradezu zwingt. Die damit gegebenen Voraussetzungen und Folgen sind, obwohl längst bekannt, noch nicht genügend in unser Bewusstsein getreten.

In diesem Zusammenhang scheint mir auch eine Neubesinnung notwendig zu sein über den Ort und die Funktion der Familie im Kontext des Generationenzusammenhangs. War früher die Familie fast selbstverständlich der einzige Horizont für die Frage des Generationenzusammenhangs, so scheint sie in vielen Erörterungen eher verdrängt worden zu sein. Dies ist nicht nur in einer Krise von Ehe und Familie begründet. Es hängt gewiss auch damit zusammen, dass die private Solidarität in der Familie auf der einen Seite überfordert und auf der anderen Seite ausgehöhlt wurde. Es gibt jedoch auch ideologische Relativierungen der Bedeutung der Familie, wie die ganze Diskussion um die Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zeigt.


Dies ist schließlich eine ethische Frage. Darum sind am Ende auch bei aller Notwendigkeit der Konsensbildung politische Kompromisse allein nicht zureichend. Mit Recht sagt der Bielefelder Bevölkerungswissenschaftler H. Birg: „Jede Kultur, jede Gesellschaft lebt von der Geltungskraft ihrer ethischen Prinzipien. Ethische Maßstäbe können zwar nicht absolut gelten, wenn die Lebenswirklichkeiten unterschiedlich sind, aber trotz aller Relativität der kulturellen Werte gibt es einen Punkt, bei dem auch die unterschiedlichsten Kulturen mit ihren voneinander abweichenden Ethik- und Wertesystemen verglichen werden können: Dies ist die Fähigkeit und Bereitschaft der Menschen, über das eigene Leben hinaus zu denken, zu planen und darauf aufbauende Entscheidungen für die Zeit jenseits ihrer Lebensspanne zu treffen. Eines der wichtigsten Ergebnisse solcher Entscheidungen sind die Kinder, die die demographische Reproduktion einer Kultur gewährleisten." Darum ist auch ein entschiedener Wille notwendig, der nicht auf plötzliche Wendungen oder gar Wunder warten darf: „Die kulturellen Werte fallen nicht vom Himmel, sie entstehen, erlangen Geltung oder vergehen ausschließlich durch menschliche Handlungen und Unterlassungen. Insbesondere das demographisch relevante Handeln wirkt werteschaffend oder wertevernichtend. Die praktischen Auswirkungen dieser ungreifbaren qualitativen Sphäre sind so real, dass sich die qualitativen Vorgänge auch in quantitativen ökonomischen Größen niederschlagen und mit Zahlen messen lassen." Die Bevölkerungswissenschaftler weisen darauf hin, dass es sich bei der heutigen lange anhaltenden Bevölkerungsschrumpfung, die ja auch nur langsam verbessert werden kann, um „ein neues Phänomen (handelt), weil die Veränderung keine negativen äußeren Ursachen wie Kriege, Seuchen oder Hungersnöte hat, und weil sie sich in Friedenszeiten und bei einem nie gekannten Wohlstand vollzieht". Nicht minder alarmierend ist bereits seit 1960 immer wieder die Stimme von F. X. Kaufmann: „Ohne die Einsicht, dass die bisherige sozialstaatliche Entwicklung einseitig zu Lasten der Eltern gegangen ist, und dass daher massive Umverteilungen innerhalb des Sozialbudgets das Gebot der Stunde sind, wird sich nichts verändern (...). Eine zentrale Frage unserer Zukunft ist es, ob es uns noch gelingt, verlässliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern und Generationen auf Dauer zu stellen."

Nur das vierte Gebot - um nochmals auf die Bibel zurückzukommen - hat unter den Geboten einen ganz eigenen verheißungsvollen Zusatz: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, wie es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht hat, damit du lange lebst und es dir gut geht." Nach der Bibel ist also das rechte Generationenverhältnis in unserer heutigen Sprache wirklich ein kultureller Grundwert, der wenigstens anfänglich alles andere einbegreift. Die Bibel weiß also um den tiefen irdischen, ja säkularen Gehalt dieser Verheißung. Auch und zuerst unser irdisches Wohlergehen steht auf dem Spiel.

Dies ist ein „metaphysischer Wink", der uns an die Schöpfungsordnung erinnert: Das Land wird uns anvertraut und geliehen. Wir sind nicht seine Herren. Damit ist dieses Gebot unter den Sozialbindungen des Menschen direkt an die erste Tafel der Zehn Gebote, der Verehrung Gottes, gebunden. In diesem Sinne hängen auch Generationensolidarität und die Bewahrung der Schöpfung eng zusammen. Außerdem wird uns auch gesagt: Wie du an deinen Eltern handelst, wird dir vergolten werden. Dies hat im 4. Jahrhundert vor Jesus Christus Isokrates in einer Mahnrede fast wie einen „kategorischen Imperativ" auf folgende Form gebracht: „Verhalte dich gegenüber deinen Eltern so, wie du möchtest, dass sich deine eigenen Kinder dir gegenüber verhalten."

 

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

Der Text wurde im Vortrag gekürzt. Im Original sind eine Reihe von Fußnoten und Anmerkungen enthalten

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz