„Fürchtet euch nicht!"

Predigt von Kardinal Lehmann in der Christmette an Heiligabend, 24. Dezember 2014, im Mainzer Dom

Datum:
Mittwoch, 24. Dezember 2014

Predigt von Kardinal Lehmann in der Christmette an Heiligabend, 24. Dezember 2014, im Mainzer Dom

In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal; damals war Quirinius Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete. Als sie dort waren, kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war. In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. Da trat der Engel des Herrn zu ihnen und der Glanz des Herrn umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr, der Engel aber sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt. Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: Verherrlicht ist Gott in der Höhe / und auf Erden ist Friede / bei den Menschen seiner Gnade.

Verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Die Weihnachtsgeschichte ist immer die gleiche. Sie ist auch unerschöpflich, wie eine echte Erzählung. Dabei fängt es eigentlich ganz „banal" an, ganz wie in den Jahrtausenden und Jahrhunderten von damals bis heute: Menschen sind unterwegs. Ob sie nun zur Volkszählung müssen oder ob sie vor Naturkatastrophen oder Gewaltanwendungen sowie Krieg auf der Flucht sind. So mussten auch Josef und Maria nach Betlehem, ganz ohne Rücksicht auf die junge Frau, die ein Kind erwartete.

So musste es kommen, wie man es befürchtet hatte: „Als sie dort (Betlehem) waren, kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen." Sie hatten, wie gesagt, damit rechnen müssen, aber nun kam es ziemlich unerwartet, dazu noch unter schwierigen Umständen. Wahrscheinlich waren viele Menschen wegen des Sicheintragens in die Steuerlisten im ganzen Land unterwegs. In den damaligen Übernachtungsgelegenheiten war vermutlich schon deshalb wenig Platz.

Daraufhin erzählt uns Lukas wohl etwas ganz Selbstverständliches: „Sie (Maria) wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war." Auf den Umgang mit den Windeln war sie wohl vorbereitet. Das andere war ein Notbehelf. Aber dies ist nicht alles, was dieser hintergründige Text uns sagen will. Darin wurzelt bis heute weltweit unser Brauch mit der Krippe und all der Kunst, die sich hier entwickelt hat. Was für ein Echo diese Harmlosigkeit, dass man das Kind mangels einer besseren Gelegenheit in die Krippe legte, bis heute ausgelöst hat! Aber es wird auch noch in einer anderen Weise durch eine Anspielung Wichtiges offenbar: „... und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war". Kein Platz für ein Neugeborenes. Auch das kommt in unserer vom Flüchtlingselend geprägten Welt täglich oft vor.

Kein Platz für Jesus? Er muss ja auch bald fliehen, und zwar nach Ägypten. Er muss fliehen, weil ihm todbringend nachgestellt wird. Aber sein ganzes Leben wird von dieser vielfachen Heimatlosigkeit geprägt sein. So heißt es später bei Jesus auf die Frage der Jünger nach seiner Wohnung: „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann." (Mt 8,20) Dies gilt aber nicht nur für die Unbehaustheit Jesu. Er findet auch durch sein ganzes Leben hindurch nicht nur wegen seiner ständigen Pilgerschaft und seines dauernden Unterwegsseins keine Bleibe, sondern er, der Sohn des Vaters aller Welt, findet im tiefsten Sinn des Wortes keine Heimat, weil er von Anfang an von den Menschen verkannt und abgelehnt wird: „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf." (Joh 1,9-11) So harmlos und romantisch lieblich ist der Anfang dieses Menschseins nicht. Hinter der Krippe wird das Kreuz sichtbar.

Aber es gibt doch Menschen, die tiefer blicken. Es sind nicht die Reichen in ihren Palästen, auch nicht die Schriftgelehrten mit ihrem ganzen Wissen. Es sind hier vor allem die Hirten. „In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde." Es sind einfache Menschen, die schon wegen ihrer Herde wachsam sind. Aber sie können auch hinaushören in Wind und Wetter. Sie verstehen sich auf die „Zeichen der Zeit" (vgl. Lk 12,54), zu denen vor allem auch die Gezeiten der Natur, aber auch die Stunden der Geschichten gehören. Die Hirten sind erfahren, vertrauen nicht nur sich selbst. Sie sind weise, weil ihre Welt viel weiter ist als die begrenzter Experten. Darum wird ihnen auch die Gegenwart anderer Mächte und Ereignisse zuteil. „Da trat der Engel des Herrn zu ihnen, und der Glanz des Herrn umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr." Wenn der Mensch auf Göttliches und Unerhörtes trifft, bekommt er Furcht und Angst. Er spürt, dass er die bisherige Orientierung verloren hat und eine neue Vermessung seiner Welt lernen muss. Die Hirten zeigen, dass sie dafür sensibel geblieben sind.

So bekommen sie auch, eben weil sie wachsam und offen sind, eine neue Orientierung. Der Engel sagte zu ihnen: „Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt." Ein kleines Kind, in Windeln gewickelt, kann das ein Zeichen sein? Wofür? Und doch ist es der Messias, der Retter, der Herr im Sinne des Kyrios, der Erde und Himmel beherrscht. Das Kleinste ist das Größte. Dafür braucht man aber auch eine besondere Orientierung, Augen des Glaubens, die durch die Oberfläche hindurchsehen. Darum können die Hirten nun auch Dinge verstehen, Worte vernehmen und Töne hören, wo wir sonst vielleicht wie taub erscheinen: „Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade." Dieses wunderbare kleine Lied sagt alles: An erster Stelle steht das Loben Gottes, dann wird auch Frieden eintreten können auf Erden.

In der Mitte steht das Wort, das wir uns nicht selbst sagen können. Wir können uns nicht an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Alles, was da geschieht, ist mit unseren Alltagsaugen nicht so recht zu fassen. Aber andere Stimmen, die „von oben" kommen, können uns aufhellen, was da geschieht. Dabei ist die Voraussetzung, dass wir unsere Einstellungen, die uns so oft beherrschen, fallen lassen. Sonst sind wir beklommen und sehen nichts mehr. Deswegen ist der Ruf des Engels so entscheidend: „Fürchtet euch nicht!". Erst dann verstehen wir „die große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll". Aber es ist nicht so leicht, dafür die Offenheit zu gewinnen. Dafür müssen wir erst unsere Perspektiven, die oft allein das Nützliche ins Auge fassen, und unsere oft so selbstzentrierten Interessen loslassen.

Wenn wir dies aber tun, dann werden wir wirklich bereit, uns anders zu orientieren. Dann brauchen wir mitten in den Verlegenheiten unseres Lebens, mitten im Flüchtlingselend und in der Heimatlosigkeit eines neugeborenen Menschen nicht zu verzagen. Dies ist die erste Stufe jedes Evangeliums, gerade auch an Weihnachten: Fürchtet euch nicht! Habt Mut! Die ist vielfältig ein Urwort der biblischen Offenbarung (vgl. Gen 15,1; 21,17; 26,24; 46,3; Ri 6,23; Lk 1,30; Apg 18,9, Mt 1,20; 28,5). Es gilt für alle Situationen, ja sogar im Leiden und Sterben. Gott bleibt bei uns in allen Lagen unseres Lebens. Sein Sohn, der heute als Menschenkind geboren worden ist, kennt den Menschen, Gott kennt durch ihn den Menschen. Er bleibt bei uns. Er verlässt uns nicht. Die Engel machen uns die Augen auf für die guten Wege durch unser Leben. Dies geschah bereits in den vielfältigen Worten Gottes im Alten Bund. Gott blieb dem wandernden Gottesvolk treu. Aber dann hat er uns in ganz besonderer Weise durch die Sendung seines Sohnes mitten in unsere Welt in einer völlig überraschenden und unüberbietbaren Weise besucht, ja, ist einer von uns geworden und bleibt darum auch als unser Weggefährte, unser Bruder und Beschützer bei uns. Er ist in ganz neuer Weise das WORT, die Aus-sage Gottes selbst in unser Leben hinein.

Ein kleines Wort dürfen wir nicht übergehen oder geringachten. Im Kern der Botschaft heißt es: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr." Für den Evangelisten Lukas ist dies kleine Wort „Heute" von ganz besonderer Bedeutung: Jetzt, an diesem Tag, heute, nicht morgen, nicht am Ende der Welt, nicht am Sankt Nimmerleinstag. Immer wieder weist uns Lukas darauf hin, dass wir, die Glücklichen, unmittelbar jetzt, sofort umkehren dürfen, neu werden können, aus aller Not und Verzweiflung gerettet werden können. Paulus spricht vom „Jetzt", der Evangelist Johannes von „seiner Stunde", von „jener Stunde". Dieses „Heute" des Evangelisten Lukas (vgl. 2,11; 4,21; 5,26; 13,32; 19,5.9; 23,43) erfüllt sich in ganz besonderer Weise an Weihnachten, in unserem lobenden und preisenden Gottesdiensten, in unseren Gemeinschaften und hoffentlich zuerst in unseren Herzen. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz