Grund genug zum Dank für vieles

Predigt von Kardinal Lehmann in der Jahresschlussandacht an Silvester, 31. Dezember 2014, im Mainzer Dom

Datum:
Mittwoch, 31. Dezember 2014

Predigt von Kardinal Lehmann in der Jahresschlussandacht an Silvester, 31. Dezember 2014, im Mainzer Dom

Wie in jedem Jahr haben wir auch heuer Grund genug zum Dank für vieles, was wir im zu Ende gehenden Jahr empfangen durften. Gewiss findet jeder dafür Geschenke in seinem eigenen Leben und im Leben unserer Gemeinschaften. Aber auch als Kirche haben wir immer wieder Anlass zum Dank.

I.

Wir freuen uns z. B. in diesem Jahr über viele gute und lebendige Rückblicke auf das Zweite Vatikanische Konzil vor 50 Jahren. Wir können immer noch von diesem Ereignis für uns lernen. Als ich in diesen Tagen das Wort der deutschen Bischöfe zum Abschluss des Konzils, unmittelbar vor ihrer Heimkehr, also vom 8. Dezember 1965, las, fand ich große, dankbare, unvergessliche Aussagen. Ich will nur einige Zitate anführen: „Ein großes Werk bleibt zu tun. Keiner kann es allein, weder der Bischof, noch der Priester, noch der Laie. - Das ist unsere große konziliare Erfahrung: vieles lässt uns der Heilige Geist nur in Gemeinschaft erkennen und gelingen." Und schließlich ein Wort, das das Zusammenwirken der Kirche heute genauso bestimmen müsste wie damals: „Wir bekennen dankbar, dass die Konzilsaula für uns alle eine hohe Schule der theologischen Besinnung und der praktischen Zusammenarbeit war, in der der Heilige Geist uns mit neuem Verständnis für das Evangelium erfüllt hat. - Aus dieser konziliaren Erfahrung können wir alle für unseren pastoralen Dienst daheim viel lernen. Mehr als bisher müssen wir aufeinander hören, miteinander überlegen, gemeinsam handeln." Wir dürfen also nicht nur, was schon sehr empfehlenswert ist, wiederum die Texte lesen, sondern wir brauchen auch die Atmosphäre zum tieferen Verstehen, von der wir eben gehört haben.

Ein großes Geschenk haben wir alle durch unser neues Gebet- und Gesangbuch „Gotteslob" erhalten, das wir nun seit einem Jahr Schritt für Schritt einführen. Ich habe im vergangenen Herbst ein eigenes Wort dazu veröffentlicht und möchte an diesem Abend nichts davon wiederholen, aber doch darauf hinweisen, was für ein wichtiges Ereignis dies für die meisten deutschsprachigen Kirchen in der Mitte Europas ist. Wir haben auch die Hoffnung, dass sich die Menschen, die sich von der Kirche entfernt haben, dieses Buch wieder zur Hand nehmen könnten. Es finden sich nicht nur die offiziellen Gebete und Lieder, sondern auch viele Besinnungen und Gebete für den Einzelnen in den sehr verschiedenen Situationen unseres Lebens. Es ist ein wirkliches Hausbuch des Glaubens für den Einzelnen und unsere Gemeinschaften geworden.

Zwei Ereignisse haben unser Bistum in besonderer Weise betroffen. Ein Priester unseres Bistums, der bereits an hoher Stelle in Rom als Präfekt der Glaubenskongregation Dienste für die Gesamtkirche erfüllt hat, ist im Februar von Papst Franziskus zum Kardinal erhoben worden und hat uns auch bald hier aus familiärem Anlass im März besucht, Gerhard L. Kardinal Müller aus Mainz-Finthen. Auch wenn wir manchmal mit einigen Äußerungen von ihm Schwierigkeiten haben, so möchte ich dieses Ereignis am heutigen Abend doch erwähnen und uns alle um das Gebet für ihn bitten. Er hat neben dem Papst nicht nur ein hohes und verantwortliches, sondern auch ein sehr schwieriges Amt zu verwalten.

Ein Ereignis, das wiederum unser Leben zusammen mit vielen anderen Katholiken betrifft, war die Berufung von Weihbischof Dr. Ulrich Neymeyr nach Erfurt, um dort 25 Jahre nach dem Fall der Mauer der Diaspora-Kirche, wie wir sie bei uns gar nicht kennen, zur Seite zu stehen. Da wir über 1200 Jahre eine vielfältige Beziehung und Sorge für Erfurt hatten - Bistum war es nur am Anfang für wenige Jahre -, war seine Berufung nach Erfurt für uns gewiss schmerzlich, aber auch Ausdruck der Wertschätzung seines Dienstes als Bischof und noch mehr der gemeinsamen Verantwortung füreinander in der Kirche unseres Landes und darüber hinaus. Wir sind froh, dass Dr. Ulrich Neymeyr vor sechs Wochen in Erfurt bei der Amtseinführung so gut aufgenommen worden ist. Wir wollen ihm in vieler Hinsicht die Treue halten und mit ihm verbunden bleiben. Ich möchte ihm auch an diesem letzten Tag des Jahres, das er weitgehend mit uns verbracht hat, nochmals für seinen Dienst in unserem Bistum, 32 Jahre lang als Priester und elf Jahre als Weihbischof, ein herzliches Vergelt´s Gott zurufen.

II.

Ich möchte zu drei Dingen ein kurzes Wort sagen, die uns bisher beschäftigt haben und uns auch künftig in Anspruch nehmen werden.

Da ist zunächst die neu entbrannte Friedlosigkeit, ja auch Gewalt in unserer Welt. Wir waren überglücklich, dass wir - mit Ausnahme des Bosnien-Konfliktes - über 70 Jahre in Europa keinen Krieg mehr hatten. Was dies bedeutet, haben wir im Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren und des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren in diesem Jahr schmerzlich und auch beschämt erinnert. Obwohl wir wussten, dass es noch viele Spannungen und Unruheherde in Europa und in der Welt gibt, haben wir manchmal die Hoffnung gehabt, dass wir nach dem Ende des Kalten Krieges und den schlimmen Erfahrungen der Menschheit im 20. Jahrhundert einer besseren Zukunft entgegengehen, gerade auch dadurch, dass wir den vielfach bedrängten Menschen in anderen Erdteilen zu mehr Gerechtigkeit und Frieden verhelfen können.

Nun wachen wir nach den Ereignissen vor allem in der Ukraine, aber auch im Gaza-Streifen zwischen Asien und Afrika, im ganzen Nahen Osten, besonders in Syrien und im Irak, in Zentral-Afrika und in Nigeria aus unseren Träumen auf. Aber wir dürfen nie mehr wegschauen, wie wir es früher getan haben und jetzt auch wieder dazu versucht sind: Es geschieht in unserer Welt, gar nicht so fern von uns, wenn wir unsere heutigen raschen Verkehrsmittel ins Auge fassen, nämlich vom All aus, dass wir uns auf unserer Erde in diesem Jahr durch manche interplanetarischen Flüge und Entdeckungen näher gekommen sind. Umso mehr Solidarität und Verantwortung müssen wir füreinander auf unserem Stern aufbringen. Aber wir erfahren enttäuscht und deprimiert das Gegenteil, wenn wir die täglichen Nachrichten aus aller Welt zur Kenntnis nehmen.

Es ist vor allem die Anwendung von Gewalt, die uns Angst und Schrecken einjagt. Es ist für die Menschheit beschämend, wie wir untätig für Jahre diese Gewalt in Syrien hinnehmen. Wir sind oft so stolz über unsere technischen Leistungen, darin wirklich oft Giganten, aber im Blick auf den Erhalt des Friedens sind wir erbärmliche Zwerge - und dies trotz aller Vereinten Nationen, die uns nach dem Zweiten Weltkrieg die Augen öffneten und das Bewusstsein unserer Verantwortung für die ganze Menschheit wecken wollten. Gewiss haben wir früher Kriege und tödliche Streitigkeiten, weil sie weit weg von uns waren, nicht zur Kenntnis genommen. Aber jetzt müssen wir sehenden Auges feststellen, wie viele tödliche und grausame Auseinandersetzungen unsere Welt beherrschen. Gewiss gibt es Unterschiede in der Anwendung dieser Gewalt, in der Ost-Ukraine und der Krim, im sogenannten IS-Staat vor allem in Syrien und im Irak, nicht zuletzt aber durch das gewalttätige Treiben von Banditen in Nigeria, Pakistan und anderswo. Nur darf uns dies nicht verdunkeln, wie viel Grausamkeit und Gewaltanwendung unter den Menschen vorherrschen. Dabei vergessen wir auch nicht wachsende Rücksichtslosigkeit und Brutalität in den persönlichen Beziehungen unserer als gesittet geltenden Länder.

Dabei darf man nicht nur die nackte Gewalt betrachten. Entsetzlich finde ich die Verbindung zwischen Gewalt und dem Missbrauch von Religion bzw. der Verachtung der Religionsfreiheit. Leider ist dies in vielen der genannten Regionen miteinander verbunden. An dieser Stelle erleben wir einen großen Rückschritt, denn nach der Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen war Religionsfreiheit in weiten Teilen der Welt anerkannt. Das Zweite Vatikanische Konzil hat in der letzten Erklärung am 07.12.1965 über die Religionsfreiheit eines der wichtigsten Dokumente verabschiedet, nachdem lange darüber debattiert wurde. Wir haben in den drei Adventspredigten in diesem Monat hier im Dom ausführlicher darüber gesprochen. So werden wir auch als Kirche noch viel entschiedener für diese Religionsfreiheit kämpfen müssen.

Ich bin der Auffassung, dass wir im Verzicht auf Gewaltanwendung und mit Respekt für die Religionsfreiheit als menschliches Grundrecht, auch gestützt auf das Konzil, eine ganz große Aufgabe in unserer Welt und in unserem Land haben. Der christliche Glaube wird vor allem, schon von seinem Gründer her, vom Verzicht auf Gewalt bestimmt. Wir haben dies in den letzten Jahrzehnten wieder neu entdeckt. Vielleicht hat der christliche Glaube, der sicher auch in seiner Geschichte dagegen gesündigt hat, hier in Zukunft eine große Chance, denn der Verzicht auf die Gewalt - und dies zeigt sich vornehmlich auch in der Gewähr von Religionsfreiheit - gehört zu den Überlebensbedingungen der Religion überhaupt und vielleicht auch der Menschheit. Ich muss in dieser Hinsicht nicht eigens über das Flüchtlingselend und die Proteste gegen die Migrationspolitik in unserem Land reden.

III.

Der Einsatz gegen die Gewaltanwendung ist zugleich ein Plädoyer für das Leben. Darüber möchte ich noch eigens sprechen. Seit Jahrzehnten ist nicht nur in unserem Land, sondern auch in Europa und in den modernisierten Gesellschaften der Umgang mit dem Leben ein Dauerbrenner. Immer wieder dachte man, wenn das eine oder andere Thema juristisch durch die Gesetzgebung geklärt sei, wie z. B. Abtreibung, dann kehre auch eine gewisse Ruhe ein. Das Gegenteil ist der Fall. Und dies nicht nur im Blick auf den Menschen, vor allem die vorgeburtliche Phase und das Ende des Lebens. Es gibt Themen, die uns auch um die Ethik der Tierhaltung umtreiben. Obwohl man glaubt, dass allmählich grundlegende ethische Standards zur Anerkennung gelangt seien, hören wir über die Massentierhaltung und viele Umstände beim internationalen Tiertransport von fast unglaublichen Rücksichtslosigkeiten. Aber auch im Blick auf andere Lebensbereiche, z. B. Artenerhaltung oder Folgen des menschengemachten Klimawandels, sind wir noch schlimmer als schwerhörig. Wann endlich wachen wir auf?

Das Jahr 2015 wird eine neue Bewährungsprobe, wenigstens in unserem Land, darstellen. Das ganze Jahr über werden wir über die Beihilfe zur Selbsttötung und die Tötung auf Verlangen diskutieren und streiten. Es gibt, wie die Diskussion im Deutschen Bundestag Ende des vergangenen Jahres zeigte, gute Belege und Beispiele, dass man auch bei unterschiedlichen Meinungen fair und sensibel miteinander umgehen kann. Auch wenn dies noch kein Ergebnis für sich darstellt, war es doch eine Sternstunde, wie wir sie hoffentlich noch öfter erleben können.

Aber es gibt auch sonst noch viele Themen, die uns hart herausfordern. Dazu gehört ein Blick auf unsere Nachbarn jenseits der nationalen Grenzen. Es gibt in der Schweiz immer mehr begleitete Suizide; in Frankreich werden Abtreibungen ohne Notlage möglich; in Belgien diskutiert man nicht nur über die vereinbarte Tötung von Kindern und Jugendlichen. Im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte prallen die verschiedenen Anschauungen aufeinander, wie sich beim Thema Recht auf Euthanasie zeigt. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist Gott sei Dank immer noch ein Prellbock für besonders kühne Neuerungstendenzen.

Es gibt Themen, die eben nach einer Gesetzgebung nicht zu einem ruhigeren Terrain führen, sondern die immer neue Probleme aufwerfen, wie vorgeburtliche Diagnostik, Grundbestimmungen und Ethik der Organtransplantation, Bewertung der Feststellung des Hirntodes, Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung. Eine besondere Herausforderung stellt der Umgang mit der Leihmutterschaft in Deutschland und in rechtlicher Verbindung mit dem Ausland dar. Das jüngste Urteil des Bundesgerichtshofes zur Anerkennung homosexueller Paare als Eltern eines Kindes, das durch eine bestellte und bezahlte Leihmutter ausgetragen worden ist, zeigt eine bedenkliche Kehrtwendung auch auf hoher Ebene an. Die Liste könnte leicht erweitert werden. Und im Übrigen: Was für ein Frauenbild zeigt sich hier?

Die dynamische Fortschreibung immer neuer Möglichkeiten, wenn sie nur technisch durchgeführt werden können, so z. B. bei künstlicher Befruchtung und Leihmutterschaft, gibt schon lange vorgetragenen Argumenten Recht, dass nämlich gewisse Liberalisierungstendenzen zu einem „Dammbruch" grundsätzlicher ethischer Grenzen führen. Es lässt sich übrigens gut beobachten, dass bestimmte Medien - besonders im etwas dürren „Sommerloch" - gewisse progressive Forderungen unterstützen und forcieren, wie es z. B. beim Thema des assistierten Suizids im vergangenen Sommer deutlich wurde.

Wie weit wollen wir eigentlich in der Zulassung biopolitischer Entscheidungen gehen? Wo ist die Grenze einer extremen Individualisierung? Es geht ja nicht um Ermessensurteile, wie z. B. die Einführung eines Mindestlohns oder die Festlegung des Renteneintrittsalters, sondern um elementare Grundsätze, z. B. des Verbotes, einen unschuldigen Menschen zu töten. Hier geht es um prinzipielle Werturteile. Von den entsprechenden Grundurteilen her werden auch andere und spätere biopolitische Entscheidungen beeinflusst: Was bedeutet es auf die Dauer, wenn z. B. bei der vorgeburtlichen Kindstötung die Macht des Stärkeren über den Schwächeren faktisch anerkannt wird? Wir reden seit Jahrzehnten über „Grundwerte", die eine Gesellschaft zusammenhalten. Es gibt einen Schutz des menschlichen Lebens, der auch dem Recht auf Privatleben vorgeht.

Manchmal gilt Deutschland im Blick auf die biopolitische Gesetzgebung nicht nur als konservativ, sondern als altmodisch und verstaubt. Wir haben nicht nur aus der Geschichte, sondern auch von der Gegenwart her gute Gründe, hier für ein Höchstmaß an Sensibilität für das Leben einzutreten.

Das Jahr 2015 bringt dafür einige Bewährungsproben. Dies gilt auch für die Fragen und Folgen des Klimawandels. Es ist gut, dass Papst Franziskus zu diesen Problemen seine zweite Enzyklika angekündigt hat. Unser Gewissen kann inmitten des Soges, in dem wir alle stecken, dadurch nur gestärkt werden. Vielleicht ist dies neben der Treue zu unseren Glaubensüberzeugungen auch das grundlegende Thema für das persönliche und öffentliche Zeugnis des Christen im Jahr 2015. Es ist dafür höchste Zeit.

IV.

Von diesen Themen kann kaum die Rede sein, ohne dass wir auch auf den Ort und die Vermittlungsstätte des Lebens schauen, nämlich Ehe und Familie. Sie sind bei allem Wandel der Formen die Urzelle menschlicher Gemeinschaft. Die Kirche hat sich immer wieder im Lauf einer langen Geschichte als Schutz von Ehe und Familie, und übrigens besonders auch der Frau, erwiesen.

Unsere Situation ist besonders dadurch gekennzeichnet, dass Papst Franziskus vor einem guten Jahr die Bischofssynoden 2014 und 2015 eng mit diesem Thema verbunden hat. Wir haben die Umfrageergebnisse in unserem Bistum gründlich dargestellt und erläutert (vgl. Bericht über die Auswertung der Umfrage zur Familienpastoral in der Diözese Mainz in Vorbereitung der Außerordentlichen Bischofssynode im Oktober 2014 in Rom, hrsg. im Auftrag des Bischofs von Mainz von B. Nichtweiß, Mainz 2014, Publikationen des Bistums, 152 Seiten). Der Papst und die Synode haben diese Ergebnisse einer weltweiten Umfrage sehr ernst genommen. Die Bischofssynode 2014 hat mit großer Ernsthaftigkeit darüber diskutiert. Soeben erschien auch darüber eine zusammenfassende Dokumentation, sodass sich jeder über den Verlauf unterrichten kann (vgl. Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung. Texte zur Bischofssynode 2014 und Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz = Arbeitshilfen Nr. 273, Bonn 2014, 194 Seiten).

Nun kommt alles darauf an, wie die weitere Arbeit zum Thema verläuft. Darüber haben wir noch keine eindeutige Orientierung. Der Synodenrat in Rom hat im Einvernehmen mit dem Papst nochmals die entscheidenden Fragen, die behandelt werden müssen, zusammengestellt und veröffentlicht. Aber diese Fragen sind noch keine Antworten.

Es ist im Rahmen dieser Predigt zum Jahresabschluss nicht möglich, auf einzelne Fragen einzugehen, die ja eine große Rolle spielen im Umfrageergebnis. Vielleicht - dies haben wir im Oktober in Rom bemerkt - haben wir Europäer mit unseren Fragen zu sehr die Thematik dieser Bischofssynoden bestimmt. In Diskussion bei uns sind vor allem die Probleme der Unauflöslichkeit der Ehe in Verbindung mit den Geschiedenen Wiederverheirateten, der Homosexualität und der Empfängnisregelung. Die afrikanischen und asiatischen Kirchen haben uns manchmal vorwurfsvoll angeklagt, wir würden nur unsere europäischen „Luxusprobleme" sehen, nicht aber viele Probleme anderer Kontinente und Weltregionen: Gewaltanwendung gegen die Frau, mangelnde Gleichwertigkeit und -berechtigung der Geschlechter, Vergewaltigung der Frauen, Verkauf von Frauen und Mädchen, Beschneidung von Mädchen, Pornographie usw. In der Tat müssen wir den Katalog der Themen in diesen Richtungen erweitern.

Für unsere Gesellschaften und Kulturen in den zivilisierten Ländern ist zweifellos das Thema so vieler zerbrochener Ehen mit allen Folgen, nicht zuletzt für die Kinder, zentral. Die Wertung der Wiederheirat ist in den christlichen Kirchen hoch umstritten. Unter den Problemen spielt die Zulassung zum Eucharistieempfang für Geschiedene Wiederverheiratete eine zweifellos wichtige, aber manchmal auch unzureichend und verkürzt behandelte Rolle. Ich kann in der gebotenen Kürze dieser Predigt - sie ist ohnehin schon lang - nicht gebührend darauf eingehen. Manche wissen, dass ich, auch schon vor meiner Zeit als Bischof, seit über 45 Jahren diesen Problemen nachgehe. In meinem letzten Hirtenwort zur Österlichen Bußzeit (2014) habe ich auf die Vordringlichkeit hingewiesen, dass wir alle Lösungsversuche dieser Thematik vereinbaren und ausgleichen müssen mit dem unbestreitbar zentralen Wort Jesu von der lebenslangen Bindung der Ehepartner. Diese Spannung dürfen wir nicht aufheben, und jede sogenannte „Lösung" des Problems muss sich an der Bewahrung dieser Spannung messen lassen. Entscheidend und noch viel zu wenig beachtet scheint mir die Aussage in dem wichtigen Dokument „Familiaris consortio", Abschlussdokument der Bischofssynode von 1980/81, zu sein, dass die Menschen aus zerbrochenen Ehen und auch Geschiedene Wiederverheiratete zur Kirche gehören, Glieder der Kirche bleiben und in der Kirche auch einen besonderen Ort des Empfangs und der Zuwendung finden müssen (vgl. Nr. 84). Dies wird noch viel zu wenig gesehen. Vielfach sind noch unsinnige Vorstellungen über eine allgemeine Exkommunikation dieses Personenkreises im Umlauf.

Auf diesem Fundament werden wir weiter bauen, und zwar auf vielen Ebenen und über viele Themen, z. B. auch über die Vorbereitung einer kirchlichen Ehe. Ich will nur darauf hinweisen, wie sehr uns diese Themen noch einige Zeit intensiv beschäftigen werden. Das Nachdenken über die nächsten Schritte hat schon begonnen und wird gewiss, auch in der Deutschen Bischofskonferenz, schon zu Beginn des neuen Jahres intensiviert werden. Ich werde mich dazu auch immer wieder äußern.

Dies ist, meine sehr verehrten Schwestern und Brüder, nur eine kleine, freilich wichtige Auswahl zentraler Themen, die uns im neuen Jahr in Atem halten werden. Ich bitte Sie um Ihre Mitarbeit, aber auch bei den schwierigen Themen um Ihre Geduld und Ihr intensives Gebet. Dafür danke ich Ihnen von Herzen. Ich wünsche Ihnen im Jahr 2015 Gottes reichen Segen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

Es gilt das gesprochene Wort!

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz