Jesus Christus, unser Leben

Predigt im Pontifikalgottesdienst am Ostersonntag, 8. April 2012, im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Sonntag, 8. April 2012

Predigt im Pontifikalgottesdienst am Ostersonntag, 8. April 2012, im Hohen Dom zu Mainz

Lesung: Kol 3,1-4
„Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott. Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit"

Es ist schon merkwürdig, wie der Brief an die Kolosser in der Lesung, die wir gehört haben, vom Schicksal Jesu Christi spricht. Dadurch wird das Wort von der Auferstehung gedeutet. Denn zunächst ist ja der Tod Jesu Christi am Kreuz die schändlichste Hinrichtungsart der Alten Welt. Ein römischer Bürger durfte z. B. nicht gekreuzigt werden. Vor allem Kriminelle wurden auf diese grausame Art getötet. Wie kann man nun im selben Atemzug erklären, dass Jesus Christus „unser Leben" ist?

Es gibt ähnliche Redeweisen im Neuen Testament und auch bei den ersten Zeugen des frühen Christentums. Sogar aus dem Gefängnis schreibt Paulus: „Denn für mich ist Christus das Leben und Sterben Gewinn" (Phil 1,21) „Wer den Sohn hat, hat das Leben, wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht" (1 Joh 5,12) In den frühen Briefen des hl. Igantius von Antiochien können wir ähnliches lesen (z. B. Eph 7,2; Smyrn 4,1; Magn 1,2). Aber natürlich wird uns im Johannesevangelium besonders ausdrücklich gesagt, dass Jesus das Leben ist (vgl. 11,25; 14,6). Freilich ist bei Johannes der Akzent etwas verschoben, wenn dieser formuliert, er ist nämlich das Leben, weil er „von oben", von Gott kommt und weil er das Leben gibt (vgl. 3,11-17; 14,19). Es ist auch gegenwärtiges Leben (vgl. 3,15f. 36), das eine unbeschränkte Zukunft erwarten darf (4,14; 6,27; 12,25). Aber die Auferstehung bzw. Erhöhung tritt im Unterschied zu Aussagen beim hl. Paulus etwas zurück. All dies ist vergleichbar mit anderen Heilsgütern, mit denen Jesus gleichgesetzt wird: Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung, Erlösung, Geist, Friede, Hoffnung, Auferstehung und Leben (vgl. 1 Kor 1,30; 2 Kor 2,17; Eph 2,14; Kol 1,27; 1 Tim 1,1). Aber die Rede „vom Leben" hat doch einen bleibenden Vorrang.

Das Leben und Sterben Jesu hat unsere gewöhnlichen Anschauungen verändert. Was einst war, das gilt nun nicht mehr (vgl. Kol 3,3). Das alte Leben ist ein für allemal durch den Tod abgetan. Bestimmende Wirklichkeit ist allein das Leben, das uns durch Gottes schöpferische Macht zuteil geworden ist, ähnlich wie bei der Erschaffung aus dem Nichts. Das Leben, das durch den Tod hindurchgegangen ist, kann nun nicht mehr durch den üblichen Tod des Menschen völlig aufgehoben werden. Damit ist auch das Leben neu geschaffen, wie wir im IV. Hochgebet sprechen.

Jesu Leben hat sich in einer geradezu paradoxen Weise bewährt. Am deutlichsten sagt es wohl Jesu Rede vom Weizenkorn, das ausgesät wird. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht. Wer an seinem Leben hängt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt geringachtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben." (Joh 12,24f.) Das Leben, das sich besonders für andere hingibt, wird nicht durch die Gewalt der Menschen ausgelöscht, sondern es wird zu einer neuen Kraft verwandelt. Nur darum kann Paulus auch sagen, dass der leidende und getötete Herr „unser Leben" ist.

Die frühe Christenheit hat mit einem solchen Wort auch schwierige Erfahrungen gemacht. Es gab nämlich Menschen, die mit dem Christentum in Berührung kamen, aber doch auch anderen Einflüssen unterlegen sind. Dort herrschte die Vorstellung vor, als wäre das Heil in ungebrochener Fülle sichtbar vorhanden, der Tod sei bereits verschwunden und die Auferstehung der Toten sei bereits geschehen (vgl. z. B. 2 Tim 2,18). Paulus spricht an dieser Stelle sehr vorsichtig. Er sagt an keiner Stelle, die Christen seien bereits mit Jesus Christus auferstanden. Der Christ ist mit Jesus Christus gestorben und geht der künftigen Auferstehung entgegen. Jede schwärmerische Ausdeutung wird ausgeschlossen. Aber deswegen wird nicht geleugnet, dass das Leben durch die Auferstehung Jesu Christi neu geschaffen wurde. Die alte Vergangenheit hat keinen Anspruch mehr. Das Leben, das Gott in der Auferstehung mit Jesus Christus geschaffen hat, bleibt deshalb freilich ganz an ihn gebunden. Es kann nicht einfach greifbar vorgewiesen werden. Es ist eine Gabe, die im Glauben und in der Hoffnung vom Getauften empfangen wird.

An dieser Stelle wird der Kolosserbrief im engen Anschluss an Paulus sehr deutlich, dass das Leben mit Jesus Christus in Gott verborgen ist. Dies ist eine Kernaussage von der Auferstehung. Sie verhindert jeden falschen Jubel. Dies hat zur Konsequenz, dass Leib und Leiden nicht einfach aus unserer Welt verschwunden sind. Sie haben noch ihre Macht und können auch den Christen in höchsten Maß anfechten, besonders wenn er die Macht der Sünde, zumal der Ungerechtigkeit und der Gewalt, oder die zerstörerische Macht von Krankheit und Sterben erfährt. Aber mitten in dieser gegenwärtigen Unheilssituation wird uns durch das Evangelium doch die Gewissheit und damit auch der Trost geschenkt, dass das endzeitliche Heil unsere Welt schon ergriffen hat, auch wenn wir noch seufzen und klagen. Leiden und Tod werden nicht einfach zum Verschwinden gebracht, auch der auferstandene Herr mahnt uns durch die Wundmale an seinem Leib, dass wir sein Geschick nicht vergessen.

Darum spricht der hl. Paulus auch von der „Neuheit des Lebens" (Röm 6,4), in der wir unser Leben verbringen und vollziehen sollen. Erst wenn Jesus Christus ganz offenbar wird, wird auch unsere Auferstehung mit ihm ganz in Erscheinung treten, oder wie der Kolosserbrief sagt: „Dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit. Dann ist die Herrlichkeit vollendet und bleibt. Deshalb kommt auch in dieser Zeit nun alles darauf an, dass wir dem neuen Leben entsprechen, es in unserer eigenen Existenz bezeugen und - wenn auch bruchstückhaft und unvollkommen - in unserem Handeln verwirklichen. Dies geschieht auf vielfache Weise. Es geht zuerst z. B. um das Festhalten am Evangelium und um die Bewährung des Glaubens im täglichen Leben. Ganz gewiss ist damit an erster Stelle auch die Treue im Glauben gemeint, und zwar gegenüber aller Anfeindung, aller Bedrohung und auch der Armut. Paulus meint diese konkreten Leidenserfahrungen (vgl. 1 Thess 2,14; Röm 8,35; 2 Kor 8,13; Röm 8,35). Der Glaubende weiß bei aller Bedrängnis, dass ihn nichts von der Liebe trennen kann (vgl. Röm 8,35.39).

Deswegen gibt es durchaus, wenn auch immer in verhaltener Weise, einen echten Jubel über den Ostersieg Jesu Christi. Das neue Leben ist gegenwärtig auch erfahrbar in der Praxis der Solidarität (vgl. Röm 14 und 15). Besonders die johanneischen Schriften sehen dies in der Nächstenliebe verwirklicht und erinnern uns mahnend immer daran, dass sich hier der Übergang vom Tod zum Leben vollzieht. „Wer sagt, er sei im Licht, aber seinen Bruder hasst, ist noch in der Finsternis. Wer seinen Bruder liebt, bleibt im Licht; da gibt es für ihn kein Straucheln. Wer aber seinen Bruder hasst, ist in der Finsternis. Er geht in der Finsternis und weiß nicht, wohin er geht; denn die Finsternis hat seine Augen blind gemacht." (1 Joh 2,9-11) Darum erblickt die johanneische Theologie auch die Vollendung des Glaubens in der Liebe (vgl. 1 Joh 4,7ff.).

Ostern gibt uns den Grund von Glaube, Hoffnung und Liebe. Der hl. Paulus lässt keinen Zweifel, auf welchem Fundament wir stehen. „Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos ... Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist euer Glaube nutzlos ... Wenn wir unsere Hoffnung nur in diesem Leben auf Christus gesetzt haben, sind wir erbärmlicher daran als alle anderen Menschen." (1 Kor 15,14.17-19) Wir erfahren immer wieder diesen Zwiespalt in unserem eigenen Herzen und in unserem Leben in der Welt. Deswegen gibt es aber auch den ständigen Kampf zwischen dem Verständnis eines Lebens, das sich in unserer Zeit und Welt erschöpft, und einem Leben, das uns durch Jesus Christus neu geschenkt wird. Ostern zeigt uns, wer das Licht des Lebens ist und wie wir durch alle Anfechtungen hindurch auf Jesus Christus als „unser Leben" setzen dürfen. Amen.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz