Predigt beim Gottesdienst zur Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz

am Dienstag, 3. März 2009, in Hamburg

Datum:
Dienstag, 3. März 2009

am Dienstag, 3. März 2009, in Hamburg

Messformular: Dienstag in der ersten Woche der Fastenzeit
Lesungen: Jes 55,10-11; Mt 6,7-15

Im Evangelium des heutigen Tages haben wir von Jesus gelernt, wie wir beten sollen. Die Fassung des Vaterunser bei Matthäus ist nach der überwiegenden Ansicht der Exegeten heute etwas erweitert und enthält in der sechsten Bitte eine Doppelung: Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Man kann die beiden Bitten aber auch in ihrem Zusammenhang als eine Aussage sehen.

Das Vaterunser dürfte wohl nach Ansicht vieler das am meisten gesprochene Gebet aller Religionen sein. Es hat eine immer wieder erstaunliche Kürze, Dichte und Konzentration. Dies gilt von der knappen Anrede „Vater" bis zu dem geradezu abrupten Ende. Nicht zuletzt deswegen hat man wohl auch sehr früh (vgl. schon Didache) diesen Schluss um die so genannte Doxologie erweitert: Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. Gebete endigen ja, besonders auch im Judentum mit einem solchen Lobpreis. Wir haben ja in der erneuerten Eucharistiefeier nach dem Konzil diesen Lobpreis aufgenommen, vom Grundtext des Vaterunsers durch ein Gebet abgehoben, dem so genannten Embolismus.

Bei Lukas sind die Adressaten des Gebetes besonders klar. Bei ihm bittet einer der Jünger Jesu: „Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger beten gelehrt hat." (Lk 11,1). Das Vaterunser ist grundlegend ein Jüngergebet. Die Nachfolger Jesu sollen ihre eigenen Wünsche und Lebenspläne zurückstellen und nur noch das wollen, was Gott will. Es ist damit auch ein herausforderndes, ja für die Jünger geradezu gefährliches Gebet. Man hat dies in der frühen Kirche noch gut gespürt. Die Taufbewerber haben erst kurz vor ihrer Taufe mit dem Glaubensbekenntnis auch das Vaterunser überreicht bekommen (traditio orationis). Nach der Taufe haben sie es mit der Gemeinde zum ersten Mal gebetet. Für uns ist das Vaterunser oft blass und formelhaft, ja verschwommen und unscharf geworden. Im Munde Jesu und in den Ohren der Jünger hatte es eine sehr klare, genaue Kontur. Diese Kostbarkeit wollen wir aber uns nicht entgehen lassen.

Gewöhnlich teilen wir das Vaterunser ein in sechs Bitten. Es sind die drei Du-Bitten und die drei Wir-Bitten. Auf die Anrede kommen wir noch kurz zurück. 1. Bitte: Dein Name werde geheiligt, 2. Bitte: Dein Reich komme, 3. Bitte: Dein Wille geschehe. Diese drei Bitten sind im engen Sinne das „Gebet Jesu". Die letzten drei Bitten sind für die Jünger bestimmt. Die 4. Bitte: Unser tägliches Brot gib uns heute, 5. Bitte: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern, 6. Bitte: Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von den Bösen (der Nachsatz bei Matthäus wird manchmal auch, wie schon erwähnt, als eigene Bitte gezählt). Es folgt am Schluss die schon genannte Lobpreisung (Doxologie).

Uns überrascht die Kürze des Vaterunser. Ohne den Lobpreis am Schluss hat die Lukasfassung, die wahrscheinlich die älteste Form des Vaterunser bietet, in einer hebräischen Rückübersetzung gerade einmal 23 Wörter, in der deutschen Übersetzung 49 Wörter (ohne Doxologie). Jesus sagt uns etwas über diese Kürze: Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern, wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. (Mt 6,7) Diese Knappheit steht im umgekehrten Verhältnis zu der komprimierten Tiefe. Das Gebet kommt auch sofort zur Sache. Andere Gebete sind in der Tradition der Religionen viel langsamer und wortreicher in der Annäherung an Gott. Am stärksten wird dies in der einzigen Anrede „Vater - Abba" deutlich. Es ist eine familiäre Anrede. In der Familie spricht man direkt, ohne Umschweife und ohne große Worte zu machen. Das Vaterunser ist ein Gebet für diese neue Gemeinschaft des Jüngerkreises, die man auch mit einer Familie neuen Stils in Zusammenhang bringen kann.

Die Zweiteilung des Gebetes ist sehr deutlich. In der hebräischen Sprache wird dies durch Rhythmus und Reim noch markanter. Im ersten Teil geht es um den Namen, die Herrschaft und den Willen Gottes. Ja, es ist die Sorge Gottes um die Welt und besonders um den Menschen, ohne dass deswegen unsere Mitverantwortung ausgeschlossen wird. Im zweiten Teil kommt erst die Sorge der Jünger ins Spiel: ihre tägliche Sorge um das Essen, um die Not der Schuld und die Schwierigkeit der Versuchungen. Das Verhältnis der beiden Teile wird uns am besten durch das Jesuswort erläutert: Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben. (Mt 6,33) Gott selbst soll sein Reich herbeiführen. Er soll seinen Willen zum Ziel bringen. Er ergreift die Initiative. Und doch kann Gott wegen der Personwürde und der Freiheit - so will er den Menschen haben - in der Welt nichts tun, wenn er nicht Menschen findet, die seinen Willen zu ihrem eigenen Willen machen und so seinem Tun Raum geben. Man kann also sagen, dass Jesus im Vaterunser seine ganze Botschaft und seine Hoffnung zusammengefasst hat.

Wir brauchen hier nicht das ganze Vaterunser auszulegen. Dafür gibt es heute viele Hilfen aus der Überlieferung des Glaubens in der Kirche und auch aus der gegenwärtigen exegetischen Wissenschaft. Wir wollen jedoch die wichtigsten Themen stichwortartig wenigstens anschlagen: Wir dürfen direkt Abba, lieber Vater, sagen, weil wir von ihm gerufen sind und seine Jünger sein dürfen. Gott möge das zerrissene und zerstreute Volk sammeln, um seinem Namen vor der ganzen Welt die Ehre zu geben. In seinem Namen sollen wir die Gemeinde zusammenführen. Er allein soll unser Herr sein. Wir wollen nicht länger den selbstgemachten Göttern und Götzen dienen. Wir sollen leben ohne Gewalt und ohne Hass, in seinem Frieden und in seiner Gerechtigkeit. Dein Reich komme! Gottes Wille, sein Plan, soll vom Himmel auf die Erde gelangen. Sein Ratschluss soll durch seine Kraft und uns geschehen. Unsere erste Sorge soll das Reich Gottes sein. Dann gibt er uns auch so viel an Brot, wie wir für den morgigen Tag brauchen (vgl. auch Mt 6,34). Immer jedoch bleiben wir in der Liebe zurück. Wir können das, was wir Gott schuldig geblieben sind, niemals abbezahlen. Um so mehr müssen wir unseren Brüdern und Schwestern alles, was sie uns schulden, vergeben.

Etwas intensiver wollen wir uns der letzten Bitte zuwenden, ob man sie getrennt als zwei Bitten betrachtet oder sie als zweigeteilte, aber zusammengehörige Aussage begreift. Wir tun dies heute auch deshalb, weil wir in diesen Tagen immer wieder auch über die Macht des Bösen in der Welt und über den geistlichen Kampf des Menschen gegen das Böse sprechen. Es ist zunächst die Versuchung, unsere Jüngerschaft aufzugeben und an die Verwirklichung von Gottes Willen in unserer Welt, aber auch in unserer Kirche, nicht mehr zu glauben. Hier darf man an den Sinn des Wortes Versuchung durch eine etwas andere Übersetzung herankommen. Unser Wort „Versuchung" kann man von der biblischen Sprache her auch als „Erprobung" übersetzen. Wir fragen uns ja, wie die ganze Bibel, immer wieder: Kann denn Gott einen Menschen versuchen? Bereits der Jakobusbrief setzt sich ausführlich damit auseinander, wenn er sagt: Glücklich der Mann, der in der Versuchung standhält. Denn wenn er sich bewährt, wird er den Kranz des Lebens erhalten, der jenen verheißen ist, die Gott lieben. Keiner der in Versuchung gerät, soll sagen: Ich werde von Gott in Versuchung geführt. Denn Gott kann nicht in die Versuchung kommen, Böses zu tun, und er führt auch selbst niemand in Versuchung. Jeder wird von seiner eigenen Begierde, die ihn lockt und fängt, in Versuchung geführt. Wenn die Begierde dann schwanger geworden ist, bringt sie die Sünde zur Welt, ist aber die Sünde reif geworden, bringt sie den Tod hervor. (Jak 1,12-15) Der Jakobusbrief weist also ein falsches Verständnis dieser Vaterunserbitte ab. Gott will nicht das Böse. Doch regt uns die scharfe Sprache des Vaterunsers dazu an, noch etwas genauer der Sache nachzugehen. Wir wollen sie nicht einfach vorschnell abschwächen.

Denken wir an die Erzählung von der Opferung Isaaks. Die Geschichte wird eigeleitet mit den Worten: Nach diesen Ereignissen stellte Gott Abrahahm auf die Probe (Gen 22,1). Gott prüft, Gott erprobt den Glauben. Versuchung ist nicht unbedingt und in jedem Fall schon und nur Versuchung zum Bösen. Gott führt uns in Situationen, wo wir uns in der Erprobung entscheiden müssen. Hier werden wir an die Versuchung Jesu in der Wüste erinnert (vgl. Mk 1,12f.), damit aber auch an die Wüstenerfahrung Israels, die ebenfalls 40 Tage dauerte (vgl. Dtn 8,2; 29,5; Jos 5,6; Am 2,10). Gott kann uns also, wie die Geschichte Gottes mit Abraham und mit Jesus zeigt, in Erprobungssituationen hineinführen. Dies kann einem ganzen Volk und einzelnen Menschen geschehen. Wenn Gott aber nicht das Böse will, dann müssen wir unsere Bitte in folgendem Sinn verstehen: Führe uns nicht in eine Erprobung, die über unsere Kräfte geht und wo die Macht des Bösen stärker wird als wir. Hier werden wir durch Paulus an die Erprobungssituation Israels in der Wüste geführt: Das aber geschah an ihnen, damit es uns als Beispiel dient; uns zur Warnung wurde es aufgeschrieben, uns, die das Ende der Zeiten erreicht hat. Wer also zu stehen meint, der gebe acht, dass er nicht fällt. Noch ist keine Versuchung über euch gekommen, die den Menschen überfordert. Gott ist treu; er wird nicht zulassen, dass ihr über eure Kraft hinaus versucht werdet. Er wird euch in der Versuchung einen Ausweg schaffen, sodass ihr sie bestehen könnt. (1 Kor 10,11-13). Gott sorgt dafür, wenn wir auf ihn hören, dass wir der Versuchung nicht erliegen und nicht darin untergehen. Dies können wir nicht von uns aus erreichen. Blicken wir auf Jesus (vgl. Mt 4,1-11), dann sehen wir, wie er auf die Versuchung des Teufels hin die Verführungen Satans durch ein ursprüngliches Hören auf das Wort der Schrift antwortet und dadurch stark wird. Dreimal antwortet Jesus mit einem Wort aus der Bibel (vgl. auch schon Dtn 8,2f.). Hier werden wir an die Kraft des Wortes Gottes erinnert, die uns heute in der Lesung begegnet. Wer diesem Wort vertraut, wird auch stark in den Versuchungen und Erprobungssituationen: Es (das Wort Gottes) kehrt nicht leer zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will, und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe. (Jes 55,11)

Gewiss haben wir manchmal den Eindruck, wir würden über unsere Kräfte hinaus in Versuchung geführt. Wahrscheinlich entsteht dieses Gefühl besonders deshalb, weil wir so viel auf uns zählen. Das Vaterunser sieht die Dinge gerade in der letzten Bitte (oder im Nachsatz zu der 6. Bitte) anders: Sondern erlöse uns von den Bösen. Wir könnten auch übersetzen: Entreiße uns dem Bösen. Die jüngere Auslegung des Vaterunsers hat immer wieder betont, dass das ganze Gebet Jesu, besonders aber diese Bitten, ein ausgesprochener Schrei, ja ein Notschrei ist. Es ist ein Bittgebet in der Not. Wir brauchen Erlösung und Befreiung. Dabei kann es hier offen bleiben, ob mit dem Bösen, was grammatikalisch möglich ist, mehr das Böse mit all seinen Mächten in der Welt und/oder der Böse im Sinne des Teufels gemeint ist. Beides schließt sich nicht aus und kann auch ineinander übergehen. Doch wollen wir diesem Problem hier nicht mehr nachgehen.

Die größte Versuchung für uns Christen besteht darin, dass wir den Kampf gegen die Mächte des Bösen nicht mehr aufnehmen, ihn in der verborgenen Tiefe unseres Herzens für verloren geben und uns so dem Auftrag, d.h. unserer Berufung, nicht mehr entsprechen. Deshalb mahnt uns die Österliche Bußzeit und die Tradition der Kirche mit der tiefsten und letzten Begründung im Vaterunser, diesen beständigen geistlichen Kampf in unserem Leben, den jeder Einzelne und auch die Gemeinschaft der Glaubenden führen muss, nicht aufzugeben. Wir dürfen dem „Vater" vertrauen, dass er uns rettet. Dann verstehen wir besser, warum in unserer Messe zwischen der ältesten Fassung des Vaterunsers und dem abschließenden Lobpreis das Gebet eingeschoben wird, das uns manchmal stört, aber doch viel tiefer ist als wir meist denken und durchaus an der richtigen Stelle steht: Erlöse uns, Herr, allmächtiger Vater, von allem Bösen und gib Frieden in unseren Tagen. Komm uns zu Hilfe mit deinem Erbarmen und bewahre uns vor Verwirrung und Sünde, damit wir voll Zuversicht das Kommen unseres Erlösers Jesus Christus erwarten. Man kann es auch nochmals mit einem Wort Jesu sagen: Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet (Mt 26,41). Amen

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz