"Recht verstandene missionarische Perspektive im Sinne einer Einladung an alle"

Kardinal Lehmann predigt im Abschiedsgottesdienst für den Erfurter Bischof Joachim Wanke

Datum:
Dienstag, 20. November 2012

Kardinal Lehmann predigt im Abschiedsgottesdienst für den Erfurter Bischof Joachim Wanke

Predigt im Wortgottesdienst beim Elisabethempfang im Rahmen der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit des Freistaates Thüringen anlässlich der Verabschiedung von Bischof Dr. Joachim Wanke am 20. November 2012 in der Schottenkirche St. Nicolai und Jacob in Erfurt

Predigttext: Lk 19,1-10 (Jesus und der Zöllner Zachäus)

Zachäus ist zunächst eine Randfigur der Evangelien. Von dem Oberzöllner Zachäus ist ohnehin nur im Evangelium des Lukas die Rede, ganz abgesehen, dass im Alten Testament an einer einzigen Stelle der Name Zachäus vorkommt (vgl. 2 Makk 10,19). Der Evangelist Lukas beschreibt ihn ausführlicher. Er wohnte in Jericho, durch das Jesus ging. Zachäus war der oberste Zollpächter, Steuereinnehmer, er war ein reicher Mann. Die Zöllner waren beim Volk verhasst, weil sie als Pächter für die römische Besatzungsmacht die indirekten Abgaben (Zölle) eintrieben. Dabei gingen sie oft rücksichtslos und richtig erpresserisch vor, weil sie sich das den Römern im Voraus entrichtete Geld ohne große Hemmungen zurückholten. Lukas verwendet im Mund des Zachäus dafür ein kräftiges Wort und spricht regelrecht von „Abpressen" (19,8). So werden den Zöllnern allgemein Habgier und ungerechte Geschäftspraktiken zugeschrieben (vgl. 3,12f.). Sie sind deshalb verhasst und werden verachtet. Außerdem gelten die Zöllner wegen ihres Kontaktes mit den Heiden besonders den Pharisäern als unrein und somit als Sünder. Der Oberzöllner Zachäus hatte möglicherweise mehrere Zollstellen gepachtet und war dadurch zu seinem besonderen Reichtum gekommen. So entsteht ein großer Zwiespalt: Er ist ein reicher Mann und hat eine gute Stellung, aber er gehört zu den sozial Deklassierten. Ein gesetzestreuer Jude gibt sich nicht mit einem Zöllner ab. Dieser Zwiespalt ist im Evangelium wichtig.

Dieser Zachäus hat von Jesus gehört. Er möchte ihn dringend sehen. Dieses Interesse ist vielleicht zu einem guten Teil von Neugier bestimmt. Aber dafür nimmt er manche Mühen in Kauf, um Jesus zu Gesicht zu bekommen. Irgendetwas treibt ihn doch herum, „wer (denn) dieser Jesus sei" (3). So etwas wie eine innere Sehnsucht treibt ihn irgendwo an. Die vielen Menschen lassen ihm keinen Platz und versperren ihm die Sicht, „denn er war klein" (3). Zachäus ist jedoch erfinderisch. Er läuft dem Zug voraus. In der Zeit, die er dadurch gewonnen hat, steigt er auf einen relativ bequem zu erkletternden Maulbeerfeigenbaum, „um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste" (4). Es ist ein geschickter Schachzug, denn in den Zweigen des Baumes kann sich Zachäus gut verstecken. Er selber sieht gut, kann sich aber auch in den Ästen etwas verbergen. So bleibt er auch in einer gewissen Distanz.

Da dreht sich die ganze Geschichte (5). Zachäus sucht aus welchen Motiven immer Jesus. Aber nun entdeckt Jesus Zachäus auf dem Baum und ruft ihn an. Deshalb spricht man mit Recht von dieser Erzählung als einer „Suchgeschichte": Zachäus sucht Jesus, aber Jesus sucht auch Zachäus. Jesus hat ihn wirklich als konkreten einzelnen Menschen im Blick. Deshalb ruft er ihn mit seinem Namen an. Jesus holt Zachäus aus seinem Versteck im Baum und lädt sich selbst bei ihm zu Gaste: „Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein." (5) Jesus hat sich auch sonst im Unterschied zum Verhalten vieler Menschen von Zöllnern zum Mahl einladen lassen (vgl. 5,27-32; 15,2). Gott hat auch die Zöllner nicht abgeschrieben. Die Tischgemeinschaft deutet schon an, dass auch sie zur Gemeinschaft mit Gott gerufen sind. Dies wird noch deutlicher werden.

In der Erzählung ist nun die Reaktion der Menschen wichtig. Dabei geht es nicht nur um die Kritik weniger oder einer Gruppe, wie der Pharisäer. Mehrfach ist von einer „Menschenmenge" (3), ja von „den Leuten" (7), d.h. von allen die Rede. Sie empörten sich und murrten: „Er ist bei einem Sünder eingekehrt:" (7) Sie stehen unübersehbar mit Protest zwischen dem Zöllner und Jesus.

Nun geht alles sehr schnell. Jesus sagt: Zachäus komm schnell herunter! Unmittelbar danach heißt es: „Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf." Zachäus achtet nicht auf das Gerede der Leute. Auch Jesus lässt sich durch das Urteil der Menge nicht von seinem Vorhaben abbringen, selbst wenn er sich den Unwillen der Leute zuzieht. Jesus weist die Härte der Menschen ab. Hinter dem raschen Handeln beider steht so etwas wie ein höheres Drängen, fast schon ein göttlicher Ansporn zum baldigen Handeln. Ohne Umschweife kehrt Zachäus von seinem bisherigen Weg um. Rasch erklärt er Jesus, dass er sich seiner ethischen Verantwortung bewusst ist: „Herr - er nennt ihn also ganz bewusst ‚Kyrios‘ -, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück." (8)

Jetzt wird diese Geschichte in einzigartiger Weise geradezu spannend. Zachäus wird ja kein Jünger, wie andere, die alles aufgeben und ihm nachfolgen. Er behält offensichtlich auch sein Eigentum, selbst wenn er zum Teilen bereit ist. Der Wunsch des Zachäus, Jesus zu sehen, wird mehr als erfüllt. Es ist von Freude die Rede. Er findet zu tatkräftiger Umkehr. Zachäus wird durch Jesus Rettung zuteil: „Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist." (9) Kurz vorher hatte Jesus ja noch einem der führenden Männer gesagt, er solle alles verkaufen. Dieser war auch sehr reich. Dazu Jesus: „Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen!" (18,24) Und die Leute sagten: „Wer kann dann noch gerettet werden?" (18,26). Aber Jesus bleibt im Blick auf Zachäus bei seinem Wort: „Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden." (9) Heute - jetzt ist es real möglich.

Zachäus steht hier nicht allein. Dies gilt gerade heute. Es gibt viele Suchende, Zweifelnde, Abständige, Distanzierte, ja vielleicht sogar solche, die sich für Atheisten halten. Wir haben oft ein fertiges Urteil über sie. Jesus verurteilt sie nicht. Er lässt sie suchen. Er entdeckt sie, auch wenn sie sich verstecken. Ihre Wahrheit ist mit dem, wie sie sich selbst bisher einschätzen und wofür sie von anderen gehalten werden, noch nicht zu Ende. Gott hat Zeit mit uns Menschen. Er hat viel mehr Geduld, als wir ahnen. Der Weg kann weit sein. Niemand ist ganz verloren. Auch Hindernisse lassen sich überwinden: Zachäus muss auf einen Baum steigen; er ist in seiner kleinen Gestalt benachteiligt; die Menschen murren. Aber da ist einer, der alle sucht, der für den Einzelnen - gerade wenn er von anderen verachtet wird - Zeit hat. Mit ihm kann man ein neues Leben beginnen, auch wenn es belastet ist. Auch die Heiden im Vorhof des Tempels haben eine Chance. Es ist wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn, wo der Vater sagt: „Denn mein Sohn war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden." (vgl. 15,24.32)

Man hat diese Erzählung, die vieles aus dem Lukasevangelium zu einem Höhepunkt bringt, das „Evangelium der Ausgestoßenen" genannt (vgl. auch 5,27-32). Es wird durch den programmatischen Satz Jesu am Ende der Erzählung auf einen Höhepunkt gebracht: „Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist." (10; vgl. 5,32; Mt 9,13; Mk 2,17) So können wir auch verstehen, warum diese für den ersten Anschein nebensächliche Randfigur Zachäus eine große Rolle spielen kann und dass er in der christlichen Bildgeschichte auf den Sarkophagen, den Evangeliaren und auch in Fresken oft dargestellt worden ist. Luther sieht in ihm den Menschen als „simul iustus et peccator", als gerecht und Sünder zugleich.

Dieses Evangelium entspricht in ganz besonderer Weise dem Leben und Wirken des Bischofs Joachim Wanke. Als Schüler und Nachfolger des großen Exegeten Heinrich Schürmann hat er sich in der Schriftauslegung besonders dem Lukasevangelium gewidmet, aber auch sein gesamter pastoraler Einsatz ist von dieser Haltung des Guten Hirten geprägt. Er wusste dieses Evangelium ganz besonders unter den Bedingungen des kirchlichen Lebens in kommunistischer Zeit zu verkündigen und auszulegen. Dabei hat die recht verstandene missionarische Perspektive im Sinne einer Einladung an alle einen zentralen Ort inne. Dies hat er nach der deutschen Einigung immer wieder auch in unsere nun gesamtdeutsche Bischofskonferenz eingebracht, besonders als langjähriger Vorsitzender der Pastoralkommission. So wollen wir Bischof Dr. Joachim Wanke für den über 30 Jahre währenden Dienst als ein Bischof, der in diesem Sinne das Evangelium Jesu Christi verkündete, ein herzliches Vergelt´s Gott sagen und für die Zukunft Gottes Segen erbitten. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz