Stehen wir vor einer neuen Epoche? - Nachdenkliches zum Neuen Jahr 2016

Kolumne von Kardinal Lehmann in der Kirchenzeitung "Glaube und Leben"

Datum:
Sonntag, 3. Januar 2016

Kolumne von Kardinal Lehmann in der Kirchenzeitung "Glaube und Leben"

In den vergangenen Jahrzehnten gab es zwar immer wieder Einschnitte, die unsere Zeit insgesamt prägten, wie z.B. die deutsche Einheit 1989/90, aber oft fügte sich einfach Jahr an Jahr. Wir sind dankbar für diese stetige und kontinuierliche Entwicklung in diesen 70 Jahren seit Kriegsende. Man hat nicht selten diese insgesamt in Europa - sieht man von den Auseinandersetzungen auf dem Balkan zu Beginn der 90er Jahre ab - als eine in unserer Geschichte selten friedvolle Zeit gerühmt. Wir sind dankbar dafür.

Vielleicht sind wir aber auch durch diese Ruhe und Sicherheit etwas schläfrig geworden. vielleicht haben wir viele untergründige und darum eher verborgene Entwicklungen nicht so aufmerksam verfolgt. Wir haben manches zwar wahrgenommen, aber nicht so nahe an uns herankommen lassen.

Da ist zuerst die wachsende Globalisierung unserer Welt. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist der Wandel der Medien. Wir sind im Nu über relativ kleine Unfälle in der ganzen Welt informiert. Früher haben wir nie davon gehört, wenn irgendwo eine Katastrophe in einem Bergwerk Südamerikas oder Chinas einbrach.

Manches ist uns nähergerückt, hat uns aber doch nicht so berührt. Wir haben vieles an Veränderungen, auch im Zusammenwachsen dieser Welt, notiert, aber es ist uns nicht auf den Leib gerückt. „Globalisierung" schien ein Ereignis zu sein, das weit von uns weg ist, uns selbst aber letztlich doch nicht erreicht. Gewiss wurde die Kooperation auch wirtschaftlich enger. Autos, die wir kauften, bestanden aus vielen Teilen aus aller Welt.

Die Preise veränderten sich. Der Wettbewerb wurde international. Aber diese und viele andere Veränderungen haben unseren eigenen Alltag nicht sehr verändert. Wir haben gewiss mehr von der Welt gewusst. Die großen Sammlungen und Bewegungen für die Dritte Welt, einschließlich unserer kirchlichen Werke Misereor, Adveniat usw., haben uns auch dazu geführt, dass durch die Entwicklungshilfe vielfältiger Art die unmittelbare Not wenigstens ein bisschen gelindert werden konnte. Die Sensibilität für diese Not, die ja im Zeitalter billiger Flüge auch dem Touristen nicht verborgen bleiben konnte, ist besonders auch unter jungen Menschen gestiegen. Aber Papst Franziskus rührt doch noch einen sensibleren Nerv an, wenn er so oft von der „Gleichgültigkeit der Globalisierung" spricht: Wir nehmen vieles wahr, wir kennen es auch, aber dies führt doch nicht zu einer tiefgreifenderen Veränderung der Verhältnisse.

In diesem Jahr hat sich dies - so schein es - gründlich verändert. Die Not der Welt ist buchstäblich in unsere Häuser gekommen. Globalisierung kommt monatelang an erster Stelle bei jeder Nachrichtensendung konkret und leibhaftig in unsere Wohnzimmer. Wir können von den 60 Millionen, die laut UNO zur Zeit in der Welt unterwegs sind, nicht Abstand nehmen. Die vielen Toten auf den Meeren, die Flüchtlingsströme und nicht zuletzt die Not der Frauen und Kinder rücken uns auf den Pelz. Sie suchen in letzter Verzweiflung eine neue Heimat bei uns. Das im Mittelmeer zwischen der Türkei und Griechenland ertrunkene Kind, das nun an die Küste der Insel Lesbos geschwemmt wird, lässt kaum einen unberührt. Ob wir es wollen oder nicht, die Welt rückt in vieler Hinsicht noch näher zusammen. Wenn wir manches bisher nicht spürten, so kommen die Menschen trotz größter Gefahren leibhaftig zu uns und sagen uns damit zugleich: Wir sind nicht so weit weg von euch mit unserer Not. Ihr seid trotz aller Unterschiede unsere Schwestern und Brüder. Wir zählen auf euch. Wir müssen die Welt zum Guten verändern. Sonst gehen wir gemeinsam unter. Dies zeigt uns z.B. auch der unbestreitbare Klimawandel, dass es dabei nämlich auch um die Lebensbedingungen unserer physischen Existenz geht. Wir können es auch nach den letzten Erfahrungen nicht mehr leugnen. Papst Franziskus hat es übrigens mit seiner Enzyklika vom Frühsommer 2015 deutlich vernehmbar der ganzen Welt gesagt, wenn sie es noch nicht wusste.

Als katholische Kirche darf dies alles uns nicht so fremd sein. Wir sind immer schon eine Weltkirche gewesen, selbst wenn es starke nationale und partikulare kulturelle Einfärbungen in dieser Weltkirche gab. Wir haben das Rüstzeug, um noch viel intensiver auf die Veränderungen dieser einen Welt einzugehen. Vermutlich werden diese Veränderungen immer stärker auch unsere Zukunft bestimmen. Sie läuten wahrscheinlich eine neue Epoche ein. Die Welt wird nicht mehr so sein wie früher, wo wir uns einigeln konnten. Zur rechten Zeit haben wir auch in Franziskus den Papst bekommen, der nicht nur von den Rändern der Welt kommt, sondern uns in vielfacher Weise die Augen aufmacht, um das ungeschminkt zu sehen, was sich schon länger anbahnt. Machen wir ernst damit, auch in unserer Lebensweise. Auf manchen Luxus können wir verzichten, ohne dass uns etwas fehlt.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

Diese Gastkolumne lesen Sie auch in der aktuellen Ausgabe der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 3. Januar 2016

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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