Armin Kistner`s Bild "Car" provoziert und regt an...
Das Kreuz - ein Formel-1-Rennwagen?
Die Dornenkrone inmitten von Hightech und Glamour?
Auf den zweiten Blick sieht man die Dornenkrone. Vielleicht erst auf den dritten oder vierten Blick entdeckt man das Kreuz. Das Gemälde „Car“ von Armin Kistner zeigt einen Rennwagen von oben. Durch die Vogelperspektive wird die Kreuzform der Karosserie sichtbar, besonders wenn man das Bild hochkant hängt. Die ausladenden Seitenteile des Autos sind auf dem Bild größer, als sie tatsächlich sind. Dadurch wird die Kreuzform des Autos betont. Vielleicht erstmals in der Kunstgeschichte hat Kistner aus der Karosserie des Rennwagens das Kreuz herausgelesen. Die Dornenkrone aus Stacheldraht ist um den Helm des Fahrers gewunden. Sie bildet das Zentrum. Zwei bedeutungsschwere religiöse Symbole kommen nicht zufällig in ein Bild zeitgenössischer Malerei.
Die tödlichen Unfälle in der Formel 1 sind schon seit langem seltener geworden, aber es gibt immer wieder spektakuläre Unfälle. Formel 1 ist Männerdomäne. „Typisch Mann“, so scheint es: „Technikbegeisterung, Verantwortungslosigkeit, Potenzgehabe“, „typisch toxisch, typisch Mann“, „Testosteron statt Gehirn“. Wenn man es differenzierter will: es gibt noch andere Risikosportarten, auch solche, die in größerem Umfang von Frauen ausgeübt werden. Außerdem braucht man nicht 1000 PS und 370 km/h, um sich sinnlos in Gefahr zu bringen. Ein Mittelklassewagen reicht völlig. Und schließlich gibt es schlimmere Arten, Aggressivität auszuleben als Formel 1. Man muss die Faszination für Autorennen und das Risiko nicht teilen. Aber die große Tradition ist nicht zu leugnen. Und der Nachhall in der Kunst z.B. bei Pablo Picasso mit seinen zahllosen Darstellungen des Stierkampfs, des Stiers und des Minotaurus. Auch dabei geht es um die Faszination der Gefahr.
Kistners Bild ist beherrscht vom Rot der Karosserie, der Farbe der Gewalt und der Gefahr. Im Motorsport gibt es schwere Verletzungen und den Tod. Dornenkrone und Kreuz. Unser Mitleid jedoch hält sich in Grenzen. Der Pilot hat sich freiwillig ans Steuer gesetzt. Für den Fahrer mögen das Adrenalin und das Risiko einen Teil der Faszination ausmachen, den Motorsport ausübt. Die Annäherung an den Tod ist echt. Einfach weil der Tod echt ist. Man kann sich die zugehörige Lebenseinstellung des Formel 1-Piloten oder des Stierkämpfers ausmalen: an seine Grenzen gehen, seine Grenzen spüren, sein Leben spüren in sonst nicht gekannter Intensität.
„An seine Grenzen gehen.“ „Über seine Grenzen hinausgehen.“ „Seine Grenzen hinter sich lassen.“ Das gibt es auch in einer anderen Richtung als beim Autorennen und beim Stierkampf.
Über seine Grenzen gehen im Einsatz für andere. In der Liebe. „Mein Leib, der für euch hingegeben wird.“ So wird Jesus im Lukasevangelium zitiert (22, 19). Wir sind beim Gekreuzigten und beim Kreuz. Grenzüberschreitung finden wir auch bei Jesus. Auch bei ihm gab es „Gasgeben“, wenn man es flapsig sagen will. Mit Risiko. Ohne Rücksicht auf sich selbst. In der Folge sind Christen an ihre Grenzen gegangen und darüber hinaus. Sie sind in der Liebe Jesus gefolgt, mit größerem oder geringerem Engagement, mit größerem oder kleinerem Erfolg.
Am Auto sind auf dem Bild Linien und Flächen, die Details, ausgearbeitet. Im Hintergrund dagegen sehen wir grobe, chaotische Farbfelder: frisches Rot, frisches Gelb, frisches Blau und ein kleines bisschen frisches Grün. Die bunte, fröhliche Welt drumherum. Unter dem Design des Wagens befindet sich Spitzentechnik, 1000 PS, Zeugnis erlesenster Ingenieurskunst. Jedes Detail an den Motoren und Fahrzeugen ist ausgefeilt, durchdacht, ausgetestet, um noch weitere Sekunden zu sparen. Der Pilot ist der Herr über diese Hightech-Anlage, hochkonzentriert, nervenstark. Und außerdem gefeiert wie ein Rockstar oder Filmstar. Den Gewinner erwartet der spritzende Champagner aus überdimensionalen Flaschen, die schönen Frauen und die Millionen. Und doch: inmitten von Hightech und Glamour finden wir Verletzlichkeit und Bedrohung, die Dornenkrone aus Stacheldraht. Der Herr über die Technik ist zurückgeworfen auf elementare Gefühle.
Wie der Pilot sind auch wir umgeben von Technologie, die uns das Leben leichter und angenehmer machen will. Doch immer wieder müssen wir feststellen, dass wir nicht alles unter Kontrolle haben. Unsere Komfortzonen sind brüchig. Nach unseren Dornenkronen brauchen wir nicht lange zu suchen. Gerade in letzter Zeit sind Sicherheiten weggebrochen, die wir für selbstverständlich angesehen haben.
Der Helm ist von der Dornenkrone umwunden, der Fahrer selbst aber ist nicht sehen. Inmitten aller Technik ist der Mensch verloren gegangen. Inmitten seiner selbstgeschaffenen Technik droht der Mensch unserer Zeit in „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ unterzugehen. Digitale Medien, noch verstärkt durch Künstliche Intelligenz, können mit immer raffinierteren Falschinformationen das Erkennen der Wirklichkeit immer schwerer machen. Die Angst ist da, dass wir immer mehr den Entscheidungen von Algorithmen ausgesetzt werden, denen wir uns nicht entziehen können. Die Angst ist da, dass Künstliche Intelligenz nicht mehr ohne weiteres beherrschbar ist.
Armin Kistners Werk kann als Sinnbild unserer Zeit verstanden werden. Mit den Bedrohungen und Katastrophen wächst die Sehnsucht nach einem guten Ausgang. Christlicher Glaube ist ganz wesentlich diese Sehnsucht, diese Hoffnung. Nicht immer ganz einfach, zugegeben. Ersehnt wird der Einbruch des Heils in eine Welt des Unheils – völlig unwahrscheinlich und aus der aktuellen Nachrichtenlage nicht ableitbar.
Autorennen ist ein Wettbewerb. Wettbewerbe ziehen sich durch unser Leben. Es kann schon sein, dass Wirtschaft ohne Wettbewerb und Markt nicht funktioniert. Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq wies 1994 in seinem Roman „Ausweitung der Kampfzone“ darauf hin, dass Markt- und Wettbewerbsverhalten immer stärker auf die persönlichen Beziehungen übergreifen. Außerdem machte Houellebecq darauf aufmerksam, wie bitter Markt und Wettbewerb für die Verlierenden sind. Kreuz und Dornenkrone, die Armin Kistner im Motorsport darstellt, gibt es auch in den anderen Wettbewerben. Es gibt aber auf jeden Fall einen Bereich, in dem das Prinzip des Wettbewerbs nicht gültig ist.
Gottes Liebe gilt grundsätzlich allen Menschen. Unabhängig von ihren Leistungen. Unabhängig von ihrem Abschneiden bei Wettbewerben. Das kann eine Einladung auch für uns sein, unsere Mitmenschen unabhängig von Leistungen oder Verdiensten zu würdigen, sie unabhängig davon wahrzunehmen. Es lohnt sich. Es gibt etwas zu entdecken.