34 Als die Pharisäer hörten, dass Jesus die Sadduzäer zum Verstummen gebracht hatte, versammelten sie sich ebenda. 35 Und es fragte ihn einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, und stellte ihn auf die Probe (1): 36 „Lehrer, welches Gebot im Gesetz ist groß?“ 37 Er sagte ihm: „,Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben (2) in deinem ganzen Herzen, in deiner ganzen Seele und in deinem ganzen Denken!‛ 38 Dies ist das Große und erste Gebot. 39 Ein zweites ist ihm gleich (3): ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!‛ 40 An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“
(1) In Mk 12,38 wird der Schriftgelehrte eher positiv als jemand geschildert, der von Jesu Antwort für die Sadduzäer beeindruckt war und ihr zustimmt.
(2) Die Liebe zu Gott besteht im Glauben, dem Vertrauen auf seine Liebe zu uns; denn mit nichts kann man Gott größere Ehre erweisen. Wir sind hineingeschaffen in die ewige Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn (vgl. Kol 1,16).
(3) Im Sinn von „entspricht ihm ganz“ und nicht von „identisch mit ihm“ oder „gleichen Inhalts“.
Anmerkung:
Womit hat eigentlich Jesus die Sadduzäer zum Verstummen gebracht? Sie hatten ihm eine Geschichte vorgelegt, um die Vorstellungen von Auferstehung lächerlich zu machen. Eine Frau, die sieben Brüder heiratete, die alle starben, wem wird sie bei der Auferstehung gehören? Die Sadduzäer übertragen einfach Besitzvorstellungen wie sie in dieser Welt gelten, auf das Leben bei Gott. Das Leben bei Gott ist dann mit genau demselben Streit um eine Frau bestimmt, wie hier auf der Welt. Das soll die Idee einer Auferstehung ad absurdum führen. Die Sadduzäer lehnen mit Recht eine Vorstellung von Auferstehung im Sinn eines bloßen Fortlebens nach dem Tod ab, das man sich auch abgesehen von Gott vorstellen könnte.
Jesu Argument: „Ihr irrt euch und kennt weder die Schriften noch die Macht Gottes“ kritisiert lediglich die Sadduzäer, die diese abergläubische Vorstellung für die des Glaubens halten. Der Glaube denkt nämlich nicht, dass die Gemeinschaft bei Gott, nur eine verlängerte Welt ist, wo Menschen heiraten oder geheiratet werden. Der Glaube wendet sich gegen solche abergläubischen Vorstellungen (vgl. z. B. auch die abergläubische Spuk-Vorstellung des Herodes von einer „Wiederkehr“ von Johannes dem Täufer, Mt 14,2). Dieses Wort kennzeichnet das Verständnis Jesu von Auferstehung: Der ganze Mensch mit Leib und Seele ist bereits in seinem irdischen Leben in einer Gemeinschaft mit Gott geborgen, gegen die keine Macht der Welt, nicht einmal der Tod, etwas vermag. Das fasst das Zitat aus Exodus 3,6 zusammen: „Er ist nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden“, obwohl doch Abraham, Isaak und Jakob längst gestorben sind.
Dieses Argument ist eine Kombination aus Vernunft: Gottgemeinschaft kann nicht so funktionieren, wie Gemeinschaft hier auf der Welt funktioniert und einem Schriftbeleg (Ex 3,6).
Warum übersetzt die Einheitsübersetzung nicht einmal mit „Lehrer“, zumal διδάσκαλος,n \{did-as'-kal-os} ja „Didaktik“ beinhaltet? Denn an den Lehrer wird eine Frage gestellt, diesmal von einem anderen Personenkreis, den Pharisäern, die von Jesus völlig unpolemisch beantwortet wird. Der Text bildet kein Streitgespräch ab. Den Sadduzäern wurde „der Mund gestopft“. Die Frage nach dem „großen“ Gebot, ist die Frage nach dem Schwerpunkt, dem Mittelpunkt der Gebote. Die Antwort wendet sich gegen die Pharisäer, die alle Gebote, besonders die, die sich um die Nächstenliebe drehen für wichtig und groß halten. Es ist ein wenig so, wie wenn heute die Theologie gegen die Pastoral ausgespielt wird. Was brauchen wir Theologie, wenn doch die Nächstenliebe das wichtigste ist.
Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben in deinem ganzen Herzen, in deiner ganzen Seele und in deinem ganzen Denken!
Wie soll das gehen: Gott über alles lieben? Kein Mensch hat Gott je gesehen. Wie kann man jemand lieben, den man nicht sieht. Man kann ihm nicht um den Hals fallen, ihn an sich drücken und herzen, man kann ihm nichts Gutes tun. Und doch ist es das erste und wichtigste Gebot. Wie soll man es erfüllen?
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!
Anders scheint es mit der Nächstenliebe zu sein, die dem großen Gebot entspricht. Man kann anderen Gutes tun, Kranke besuchen, sich in die Not anderer hineinversetzen, solidarisch sein, Geld spenden für die Armen, Böses mit Gutem vergelten. Man kann einen Menschen ganz besonders lieben, ihn heiraten und ihm die Treue halten ein Leben lang.
Aber Gott – wie liebt man ihn?
Denn wer ist denn nun dieser Gott, den wir über alles lieben sollen? Vielleicht hat ja auch die Wirklichkeit der Welt damit zu tun, dass wir den falschen Gott lieben. Martin Luther sagt einmal: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.“ So gesehen liebt jeder Mensch seinen Gott: er kann sein Herz ans Geld hängen oder an Macht, er kann sein Herz an eine Person hängen und von ihr erwarten, dass sie den lieben Gott für ihn spielt, man kann Gesundheit für das ein und alles halten, man kann seine Karriere über alles lieben und so seine Familie zerstören, Fußball kann zum Gott werden genauso wie Sex, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung, man kann den erreichten Lebensstandard um jeden Preis erhalten wollen, ja, man kann auch sich selbst zum Gott aufspielen. Auch Religion kann zum Gott werden, für den man über Leichen geht. Siehe jetzt wieder bei dem Mord an dem Lehrer in Paris.
So kann jeder Mensch seinen Gott, seinen Götzen haben. Es sind diese Götzen, die uns hindern, wahrhaft menschlich zu werden, liebende Menschen zu sein und die Grenzen der eigenen Interessen und der eigenen Familie zu sprengen und zu überschreiten. Tief im Herzen kann die Angst sitzen, diesen Gott, an dem unser Herz hängt, zu verlieren. Unsere Knappheitsängste. Unsere Angst, zu wenig vom Leben abzukriegen. Es sind unsere Götzen, die uns egoistisch machen und an der Liebe zum Nächsten hindern.
In der zweiten Lesung (1 Thess 1,5c-10) vom vergangenen Sonntag haben wir gehört, wie Paulus die Christen in Thessaloniki dafür lobt, dass sie sich von den Götzen zum lebendigen und wahren Gott bekehrt haben. Dies kann man von jedem Christen erwarten: dass er keine Götter mehr hat, an die er sein Herz hängt und die er um jeden Preis bewahren will. Wer sich von diesen Götzen bekehrt, der beginnt damit, Gott über alles zu lieben. Götzen sind sie, weil sie nur etwas Irdisches, nur geschöpflich sind. Oft sind es Dinge, die Faszination auf uns ausüben.
Und je faszinierender etwas oder jemand ist, umso leichter kann man sein Herz daran hängen, es mit Gott verwechseln, an Gottes Stelle setzen und sich davon alles mögliche Glück und Heil versprechen. Umso unglücklicher und verzweifelter ist man dann, wenn einem dieser „Gott“ genommen wird. Und geschöpfliche Wirklichkeiten werden uns früher oder später, spätestens im Tod, genommen. Götzen sind also Götter, die man erst haben muss, um sich dann auf sie zu verlassen. Sie sind nur ein Stück Welt. Den wahren und lebendigen Gott aber kann man nur so haben, dass man sich ihm anvertraut, mit Haut und Haaren. Und eben so liebt man Gott, indem man ihm Glauben und letztes Vertrauen schenkt. Gott lieben wir in dem Maße, in dem wir seine Liebe zu uns annehmen und uns damit von den falschen Göttern abwenden.
Dass man Gott nicht sieht, ist gut. Denn ein Gott, den man sehen und anfassen kann, wäre ja wieder nur ein Stück Welt und deshalb gar nicht vertrauenswürdig. Ein Gott, den man sieht, ist ein Götze, ein Idol, ein Abgott. So kann jeder Mensch seinen Gott, seinen Götzen haben.
Jesus nennt das Gebot der Nächstenliebe „ebenso wichtig“ wie das der Gottesliebe. Wenn aber Menschen an ihren Götzen hängen, dann haben sie Angst, sie zu verlieren. Sie sichern sich ab. Sie können egoistisch werden. Aus Liebe zu den Götzen kann der Mensch auch über „Leichen“ gehen. Jeder denkt dann nur an sich, jeder liebt nur sich. Deshalb hängen die beiden Gebote aufs engste zusammen. Ohne Liebe zu Gott, ohne Abkehr von den Götzen kann die Welt nicht menschlich werden. Und eben darum ging es Jesus. Er wollte die Menschen zu Gott führen und dadurch menschlich statt unmenschlich machen. Wer sich Gott anvertraut, der kann auch lieben, weil er sich von Gott unendlich geliebt und angenommen weiß.
Allein durch Glauben als der Liebe zu Gott, die im Vertrauen auf seine Liebe zu uns besteht, kommt der Mensch in ein Verhältnis zu Gott, das es ihm ermöglicht, in der Welt anders als aus der Angst um sich zu leben. Er kann „seinen Nächsten lieben wie sich selbst“, das heißt sich so in die Lage des anderen hineinversetzen und mit ihm mitfühlen, als stünde er selbst an seiner Stelle; er wird ihm dann das tun, was der andere wirklich braucht. Es geht hier also nicht um eine Aufforderung zur Selbstliebe (niemand kann sich selber Geborgenheit schenken) oder um die Erwartung entsprechender Gegenleistung, und mit Verlaub auch nicht darum, jemandem Griesbrei aufzuzwingen, weil man selber Griesbrei mag. (Das ist nur ein Beispiel!) Vielmehr geht es darum, aufgrund unseres Geliebtwerdens durch Gott nicht mehr aus der Angst um uns selbst zu leben und deshalb mit Freundlichkeit und Wohlwollen auf andere einzugehen, sich also in ihre Situation hineinversetzen zu können und dementsprechend zu handeln.
Jesus selbst war frei von diesen Götzen, an die man sein Herz hängen kann. Sein Herz hing am wahren Gott, den er seinen Vater nannte. Diese Gemeinschaft mit Gott machte seine ganze Freiheit aus, für andere da zu sein und sie zu lieben, selbst seine Feinde. Zu diesem Gott wollte er auch andere Menschen befreien. Denn die Götzen versprechen Glück, halten ihr Versprechen aber nicht. Wenn das Herz an Geld und Glück hängt, dann kann es sich nicht öffnen, dann kann es nicht weit werden, dann wird es zu Stein. Wer aber sein Herz an den Gott Jesu hängt, der wird frei von all diesen Götzen und wird ein liebender Mensch. Nicht ich bestimme, wer mein Nächster ist, sondern der andere bestimmt mich zu seinem Nächsten und führt mich so in die Verantwortung.
Jesu Wort spricht uns deshalb an auf unsere Verantwortung füreinander, auf unsere Verantwortung für die Welt – eben für die Welt, die Gott so sehr geliebt hat, dass er seinen Sohn für sie hingegeben hat. Damit wir aus Unmenschen zu Menschen werden.
Wie geht das nun: Gott lieben und den Nächsten lieben? Es geht wohl nur so, dass wir zum Durchgang der Liebe Gottes werden, indem wir uns mit unserem Leben Gott anvertrauen. Indem wir glauben. Glauben heißt, sich von Gott mit derselben Liebe geliebt wissen, mit der Gott von Ewigkeit her seinen Sohn liebt. Indem der Sohn einer von uns wurde, liebt Gott in jedem von uns seinen Sohn. Das gilt ohne Ausnahme. Wer sich so hineingenommen weiß in das Gegenüber des Sohnes zum Vater, der wird sich auch verantwortlich wissen für den Nächsten und kann auch dem Fernsten zum Nächsten werden. Er versteht, dass Gottes Liebe unteilbar ist. Er versteht, dass Gottes- und Nächstenliebe nicht zwei Lieben sind. Und auch, dass Lieblosigkeit gegen Menschen und Lieblosigkeit gegen Gott nicht zwei verschiedene Lieblosigkeiten sind. Man kann das eine nicht ohne das andere tun.
In unserer Gesellschaft, in der sich zunehmend alles um andere Götter dreht, in der „Geiz geil“ ist und wo vollmundig gerufen wird: „Ich bin doch nicht blöd!“, in der es deshalb immer mehr Ungleichheit gibt, Gewinner und Verlierer – da müssen wir es wohl wieder neu lernen und ausbuchstabieren, was es heißt, den Gott Jesu zu lieben und darin Verantwortung zu übernehmen und Solidarität mit den Verlierern, mit den Fremden und den Andersartigen zu leben. Es kommt eigentlich alles darauf an, dass man auch von uns sagen kann, was Paulus in der zweiten Lesung an die Gemeinde in Thessaloniki geschrieben hat: „Und ihr seid unsere und des Herrn Nachahmer geworden, indem ihr das Wort unter vieler Bedrängnis mit Freude von Heiligem Geist aufgenommen habt, sodass ihr Vorbild für alle Glaubenden in Mazedonien und in Achaia geworden seid. Denn von euch her ist das Wort des Herrn nicht nur in Mazedonien und in Achaia erklungen, sondern an jeden Ort ist ausgegangen euer Glaube auf Gott hin, sodass wir es nicht nötig haben, etwas zu sagen. Denn sie vermelden über uns, welch großen Eingang wir bei euch gefunden haben und wie ihr euch von den Götzen zu Gott bekehrt habt, dem lebendigen und wahren Gott zu dienen.“ Christen sind Menschen, die alles von Gott erwarten und erhoffen. Darin besteht die Liebe zu Gott.